Gibt es die Zeit vor der Veränderung? (No) News from Palestine

(Foto: © Jonas Schäfer)
(Foto: © Jonas Schäfer)

Jonas Schäfer war als Menschenrechtsbeobachter des Ökumenischen Begleitprogrammes in Palästina und Israel (EAPPI) vor Ort in der Krisenregion. Seine Momentaufnahme, unmittelbar vor dem Aufnahmeantrag in die Vereinten Nationen, bietet einen persönlichen Einblick.

21. September 2011,
Yatta, South Hebron Hills, Israel/Palästina

Drei Tage vor dem Antrag Mahmud Abbas’, Palästina als 194. Mitgliedsstaat der UN anzuerkennen, ist es schwierig, einen Artikel über den Israel-Palästina-Konflikt zu schreiben. Besonders, wenn man mittendrin ist, Demonstrationen in der Stadt sieht, Anrufe über geschlossene Straßen bekommt, mehr und mehr israelisches Militär präsent ist. Ich sehe viele palästinensische Fahnen, aber an großen Straßen, die zu israelischen Siedlungen führen, weht der blau-weiße Davidsstern. Bis zum Mittelalter war das Hexagramm ein weit verbreitetes Schutzsymbol vor bösen Geistern, ab Ende des 19. Jahrhunderts machte ihn sich das emanzipierte Judentum zum politischen Symbol und seit 1948 repräsentiert der Stern als Flagge den jüdischen Staat. Ist er eine Theokratie oder die „einzige Demokratie im Nahen Osten“? Regiert das Gesetz oder bestimmen radikal religiöse Siedler die Zukunft des Landes und der gesamten Region? Es gibt keine einfachen Antworten auf all diese Fragen, sondern nur verschiedene Perspektiven, die mit diesen Fragen entstehen.

Widersprüchliche Perspektiven
Für drei Monate saß ich fast jeden Samstagnachmittag auf einem Hügel der kleinen palästinensischen Zelt-Siedlung Wadi J’Hesh bzw. auf den Resten von Häusern. Sie sind 1984 zerstört worden, weil die neu entstehende israelische Siedlung Suseya die dort lebenden Menschen nicht sehen will – in den South Hebron Hills, einer weiten steinigen Hügellandschaft, karg und trocken im Sommer. Verstreute kleine Dörfer sind dies, teilweise nur aus Zelten bestehend, teilweise mit Häusern aus Stein und Wellblechdächern. An der einzig gut betonierten Straße befinden sich drei israelische Siedlungen im Abstand von 10 Kilometern, Armeeposten und Wachtürme. Die Familien des Narwaja-Klans haben Papiere, die ihnen das Land zusprechen, aber seit 1994 leben sie nach dem Oslo-Abkommen in Area C. Diese Einteilung definiert sie in einem Gebiet, in dem Israel die vollständige Kontrolle über Sicherheit, Planung und Bauvorhaben hat: Genehmigungen für Letztere zu erhalten, ist so gut wie ausgeschlossen.
Warum? „Weil Israel uns von hier vertreiben will“, sagen die Palästinenser und nennen das „silent displacement“; „Weil wir Kontrolle brauchen, um uns zu schützen”, ist offizieller O-Ton der Israelis. Vor drei Monaten bin ich mit dem Ökumenischen Begleitprogramm des Weltkirchenrates (EAPPI: Ecumenical Accompaniment Program in Palestine and Israel) nach Israel/Palästina gekommen. Fokus dieses Friedensdienstes ist „protective presence”, d.h. durch persönliche Anwesenheit Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder zu mindern. Im Allgemeinen strebt das Programm eine gewaltfreie Lösung des Israel-Palästina-Konflikts an, basierend auf UN-Resolutionen und internationalem Recht.

(Foto: © Jonas Schäfer)
(Foto: © Jonas Schäfer)

Zehn Minuten des Schreckens
Ich hatte die Möglichkeit mit eigenen Augen zu sehen, welche Effekte die israelische Besatzung auf die Palästinenser hat, v.a. die Nichtbeachtung internationalen Rechts durch den Siedlungsbau nach der Vierten Genfer Konvention. Wadi J‘Hesh liegt ca. 700 Meter von der israelischen Siedlung Suseya entfernt. Innerhalb des letzten Jahres wurde sie dreimal von Siedlern angegriffen. Einmal musste Ibrahim, einer der Schäfer, aufgrund seiner Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Ich sitze am letzten Samstag meines Aufenthalts mit zwei weiteren Freiwilligen auf dem Weideland des Dorfes  und höre Stimmen. Wir stehen auf und sehen 15 Siedler den Weg entlanglaufen, der inoffiziell die israelische Siedlung vom Land der Narwaja-Familien abgrenzt. Die Siedler sehen uns und kommen auf uns zu. Wir gehen rückwärts zu den Zelten der Familie, filmen, telefonieren, machen Notizen. Die Siedler gehen zu einem Wasserspeicher 15 Meter von den Zelten entfernt, öffnen ihn, schauen hinein, stehen einige Minuten neben ihm, beschimpfen die Palästinenser und gehen wieder zum Weg zurück. Zehn Minuten des Schreckens und der Angst für die Dorfbewohner, die am Wochenende nachts Wache halten und tags-über Schafe hüten. Das einzige Mittel, mit dem sie sich wehren können, sind Videokameras, die von der israelischen Menschenrechtsorganisation B‘tselem im Projekt shooting back ausgegeben worden. Fast jeden Sabbat wiederholen sich diese Szenen der fortdauernden Belästigung durch radikale israelische Siedler, die sich von den Palästinensern gestört und von internationaler Einmischung provoziert fühlen. Ihre Interpretation der Thora verspricht ihnen dieses Land (Judäa und Samaria) und sie führen Gottes Wort aus. Wie auch die anderen Fundamentalisten der abrahamitischen Religionen, die in diesem Konflikt präsent sind und ihn aufrechterhalten.

Das Gefühl, gejagt zu werden
Doch es gibt auch andere Stimmen: Da ist jene der Rabbis for Human Rights, welche die Tradition der Menschenwürde im Judentum betonen. Oder die der ehemaligen Soldaten, die in der Organisation Breaking the Silence über ihre Arbeit in den besetzten Gebieten sprechen: „Gib den Palästinensern das Gefühl gejagt zu werden“, erklärt Yehuda Shaul, Mitbegründer der NGO, die Militärstrategie, die er selbst 2002 in Hebron ausgeführt hat. Ich frage mich, wie man, anstatt die Menschenrechtsverletzungen Israels anzuklagen, die Menschen vor Ort dazu einladen kann, ein Eigeninteresse an einem gerechten Frieden zu erkennen. Wie kann man sie von dem äußeren Druck befreien und innere Freiräume schaffen, um gemeinsam eine kreative Lösung zu finden? Ich höre von vielen Palästinensern, dass sich mit dem Antrag an die UN vor Ort nichts ändern wird. Auch wenn er erfolgreich sein wird, werden die israelischen Siedler nicht morgen nach Israel umziehen. „Die Menschen sind an sich auch nicht das Problem. Das Land ist groß, es ist Platz für alle.“, sagt mir Nabi aus Um al Kher, ein anderes kleines Dorf in der Region. Er ist davon überzeugt, dass verschiedene Menschen zusammen leben können, wenn sie gegenseitig ihre Rechte und Würde achten. Wenn allerdings die Schafe israelischer Siedler die Olivenbäume der Palästinenser anfressen und damit die Ernte minimieren oder die Armee große Steine – „Sicherheitsgründe“ – auf die Zufahrtswege zu Dörfern legt und damit den Zugang zu den Wassertanks erschwert, sind grundlegende Menschenrechte verletzt.
Wenn ich den Menschen, mit denen ich drei Monate hier gelebt habe, sage, dass ich ihre Situation bedauere, weil ich so viele als unlösbar wahrgenommene Widersprüche sehe, dann sagen sie mir: „Don´t be occupied with sadness; we are not, we seek change, so should you.“

Weitere Eindrücke findest du in Jonas‘ Blog.

Jonas Schäfer (30) schließt gerade seine Promotion im Bereich der Konfliktsoziologie ab. Er engagiert sich ehrenamtlich für Gewaltprävention in Schulen bei „Hauen ist doof – Verein für Konfliktkompetenz, Jena e.V.“

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