„Das Gesicht der Niederlage“ (Übersetzung)

Zeichner Silloray: "Es gibt nur gute und schlechte Geschichten" (Foto: privat)
Zeichner Silloray: "Es gibt nur gute und schlechte Geschichten" (Foto: privat)

Ein französischer Künstler hat das Kriegsgefangenen-Tagebuch seines Großvaters zu einem Comic verarbeitet. Im Interview spricht er über Familienerinnerungen und Vorbilder.

unique: Denken Sie, dass es in Frankreich ein Erinnerungs-Defizit für alle Großväter gibt, die den Zweiten Weltkrieg in deutscher Gefangenschaft verbracht haben?
Silloray: Das Thema der Gefangenschaft französischer Soldaten, die 1940 gefangen genommen wurden, ist für lange Jahre praktisch tabuisiert worden. Es gibt nur wenige Veröffentlichungen dazu, französische Historiker arbeiten kaum zu diesem Thema. Es existieren nur ein oder zwei Romane und zwei Filme zu dem Thema. Auf den Spuren Rogers ist der erste französische Comic, der diese historische Episode behandelt. Mittlerweile hat Jacques Tardi einen Band über die Gefangenschaft seines Vaters publiziert. Aber das ist alles. Es gibt mehrere politische und soziologische Gründe, die das Schweigen über diese französische Epoche erklären: Am Ende des Zweiten Weltkriegs kehren die französischen Soldaten in ein Land zurück, das sich durch die fünf Jahre Krieg stark verändert hat. Frankreich feiert seine alliierten Befreier und die inneren Résistants. Die Soldaten sind das Gesicht der Niederlage vom Juni 1940, eines tiefgreifenden französischen Traumas. Man empfängt sie also nicht mit offenen Armen. Das wird bei den französischen Gefangenen seelische Wunden verursachen, was ihr Schweigen und das Zurückhalten ihrer Erfahrungen gegenüber ihren Angehörigen erklärt.

Gab es von Seiten Ihrer Familie Bedenken – schließlich haben Sie ja eine Familienerinnerung öffentlich gemacht?
Meine Familie hat die fünfjähgrige Ausarbeitung dieses Buches sehr nah und mit Stolz mitverfolgt. Da ich während meiner Untersuchung herausgefunden habe, dass sich mein Großvater nicht schlecht verhalten hat oder sich dieser Episode seines Lebens schämen müsste, hat meine Familie keine Bedenken geäußert. Ich habe versucht, mit Feingefühl und Takt von der Beziehung zu sprechen, die mich mit diesem Mann verbunden hat, indem ich für ihn mittels der Bilder eine Hommage schuf.

Wie ist Auf den Spuren Rogers in Frankreich angenommen worden? Gab es besondere Reaktionen, vielleicht von anderen Nachfahren ehemaliger Kriegsgefangener?
Mein Buch wurde sehr gut aufgenommen, sowohl von Kritikern als auch vom Publikum. Das habe ich während der Comic-Festivals gemerkt, die ich im Jahr nach der Veröffentlichung von Auf den Spuren Rogers  besucht habe. Ich habe Dutzende Familien ehemaliger Kriegsgefangener kennen gelernt, die sehr erstaunt und glücklich waren, dass ein Buch über diesen tabuisierten Teil der französischen Zeitgeschichte Zeugnis ablegt. Diese Begegnungen waren teils sehr bewegend, denn die Familien vertrauten mir die Erfahrungen ihrer Großväter an… Ich hatte überhaupt nicht erwartet, dass ein Comic einen so sehr am persönlichen Leben der Leser teilhaben lassen könnte.

Gegen Ende des Comics scheinen die Notizen Ihres Großvaters sich zu verkürzen und relativ abrupt abzubrechen. Womit hängt das Ihrer Meinung nach zusammen?
Das Heft endet in der Tat sehr abrupt im Januar 1941, als Roger und seine Gefangenengruppe in einer Kohlemine arbeiten. Nach Weihnachten 1940 merkt man in seinen Notizen, dass er die Hoffnung verliert: Zusammen mit seinen Kameraden hatte er gedacht, dass er nach der definitiven Niederlage Frankreichs rasch befreit würde.

Bevorzugen Sie die Bezeichnung „Comic“ oder „Graphic Novel“ für Auf den Spuren Rogers?
Für mich ist das eine etwas künstliche Unterscheidung. In Frankreich ist die Bezeichnung „roman graphique“ Anfang der 1990er Jahre aufgekommen, mit dem Erscheinen persönlicher Comic-Erzählungen, die über das traditionelle Format von 48 Seiten hinausgingen. Ich bin natürlich von Art Spiegelman und seiner sehr persönlichen Art, sich an ein schwieriges historisches Thema anzunähern, beeinflusst worden: lange Comics, die große Geschichte mittels familiärer und persönlicher Lebenswege thematisierten. Meine Einflüsse sind vielfältig, sie reichen von Hergé bis Chris Ware, von Franquin bis Mike Mingola, von Enki Bilal bis Christophe Blain. Meiner Meinung nach gibt es keine Unterscheidung zwischen Comic und „Graphic Novel“. Es gibt nur gute und schlechte Geschichten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview wurde geführt und übersetzt von David.

Florent Silloray
Auf den Spuren Rogers
avant-verlag 2013
106 Seiten
24,95 €

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