memorique: Mit Notizbuch und Bleistift (sich) erinnern

Geschichtsaufarbeitung der besonderen Art: Passend zu unserem Interview mit dem französischen Comic-Zeichner Florent Silloray stellen wir seine aktuelle Neuerscheinung vor. Silloray hat das Kriegsgefangenen-Tagebuch seines Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg zu einem Comic verarbeitet.

von David

Wie wird meine Schwester Angèle nur zurechtkommen, ganz allein mit dem Hof und dem Gemüseverkauf?“, fragt sich der junge Bauer Roger, als er 1939 in einem kleinen westfranzösischen Dorf zur Armee mobilisiert wird. Kurz vor seiner Abreise gibt ihm seine Verlobte ein Notizheft mit. Der Zweite Weltkrieg wird für ihn von kurzer Dauer sein. In nur wenigen Wochen überrennt die Wehrmacht Frankreich. Knapp 1,8 Millionen Franzosen verbringen den Rest des Kriegs in deutschen Gefangenenlagern. Dort werden sie zu Zwangsarbeit in Fabriken oder im Tagebau abkommandiert – unter ihnen auch Roger.
Einen Teil seiner Erfahrungen zwischen 1939 und 1941 hat er in seinem Notizbuch festgehalten. 1945 kehrte Roger aus einem Gefangenenlager bei Torgau nach Frankreich zurück – und schwieg ein Leben lang über seine Kriegserlebnisse. Nach seinem Tod im Jahre 2003 entdeckte sein Enkel, der Kinderbuch-Illustrator Florent Silloray, bei einer Familienfeier die Aufzeichnungen. Von diesem Fund fasziniert, begann er, den Kriegsstationen seines Großvaters zu folgen.
Auf den Spuren Rogers wechselt rhythmisch zwischen zwei Zeitebenen. Rogers Geschichte ist in Sepia-Tönen gezeichnet. Selten werden Dialoge eingefügt, sondern größtenteils nur Zitate aus dem Tagebuch bebildert. Der Leser folgt Rogers Leben nach der Einberufung: ödes Warten in den Kasernen, ein Kurzurlaub, dann der Abzug an die Front, kurze Scharmützel mit der Wehrmacht. Nach der Gefangennahme folgen ein tagelanger Marsch und schließlich eine 26-Stunden-Fahrt nach Deutschland in einem überfüllten Zug. Im Mai 1940 kommt der Gefangene im Stalag IV B bei Mühlberg in Brandenburg an. Zwischen Mangelernährung und Zwangsarbeit im Tagebau fristet er seine Gefangenschaft. Die Einträge werden immer einsilbiger und enden im Januar 1941.
„Den Wörtern des Notizbuches Bilder zuordnen“: anhand von Rogers Ortsangaben ist Florent 2010 dessen Stationen nachgereist. Das führte ihn bis zur Gedenkstätte des Stalag IV B, vor allem aber auch zu unscheinbaren Orten, etwa zu verfallenen Gebäuden am Dorfrand, kleinen Bahnhöfen, Landstraßenkreuzungen – individuelle und ganz persönliche Erinnerungsorte.

Die Parallel-Montage aus Rogers sepia-farbener und Florents farbiger Reise ist die größte Stärke des Buchs. Nicht nur wird damit dessen Entstehung thematisiert, sondern auch der Prozess der historischen Erinnerung auf einer individuellen Ebene. Die „historischen“ Bilder Rogers werden so als wirklichkeitsnahe, doch stets subjektive Rekonstruktionen kenntlich gemacht – als Florents persönliche Quellen-Interpretation. Seine Sicht ist stets nüchtern und distanziert, nicht nur, weil der Großvater vor allem prosaische Dinge festgehalten hat, sondern sicherlich auch aus Respekt. Das macht die Schluss-Episode aus der Kindheit des Autors umso berührender. Als kleiner Junge wurde er einmal von seinem Opa zu einem Résistance-Denkmal mitgenommen, und am selben Tag aßen sie bei einem alten Mann zu Mittag: ein anderer ehemaliger Häftling des Stalag – wie Florent sehr viel später erfuhr. Die zwei alten Männer schwiegen während der ganzen Mahlzeit – „als ob alles zwischen ihnen bereits gesagt war“.
Diesem Schweigen hat Auf den Spuren Rogers ein Ende gesetzt. Französische Kriegsgefangene, die nach dem Krieg zurückkehrten, wurden nicht gerade mit offenen Armen empfangen – verkörperten sie doch geradezu die Niederlage. 1945 und für viele weitere Jahrzehnte waren die inneren Résistants und die Soldaten von De Gaulles freien Streitkräften die Helden des Tages. Von den Männern, die fünf Jahre in deutscher Gefangenschaft verbracht hatten, wollte niemand etwas hören. Schuldkomplexe, den Krieg „nutzlos“ verbracht zu haben, kamen hinzu. Das ist sicherlich nur eine Erklärung dafür, warum Roger so sehr wünschte, dass sein Enkel das Résistance-Denkmal sieht.
Es ist erfreulich, dass dieser Comic nun in Deutschland erscheint, wo populär-triviale Formen der „Vergangenheitsbewältigung“ – gerade im Fernsehen – mitunter skurrile Züge annehmen. Florent Silloray ist eine sehr persönliche Form des Erinnerns gelungen.

Das Interview mit Florent Silloray (in deutscher Übrsetzung) gibt’s hier.

Florent Silloray
Auf den Spuren Rogers
avant-verlag 2013
106 Seiten
24,95 €

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert