Der Friedhof der „Must-Haves“

(Foto: Fernando de Sousa)
(Foto: Fernando de Sousa)

Unsere Kleiderschränke füllen sich mit Dingen, die wir unbedingt brauchen. Zumindest eine Saison lang…

von paqui

Da gewöhnt man sich endlich an den selten schönen Anblick von knallengen Röhrenjeans und Lederleggings und jetzt sind die „Must-Haves“ für 2012 doch tatsächlich 70er Jahre „wide-leg pants“. Immer wieder bin ich entsetzt über die Trends der Saison und darüber, wie sich mein ästhetisches Empfinden letzten Endes doch den H&M-Schaufenstern anpasst. Neulich suggerierten mir diese, ich bräuchte unbedingt eine Chinohose – die haben jetzt alle. Das sind Karottenhosen mit aufgeplustertem Schoß, die unnötig breite Hüften machen. Eigentlich will ich keine Hose, die breite Hüften macht, aber das nützt ja nichts, schließlich ist sie das „Must-Have“ der Saison. Mein Kleiderschrank mutiert allmählich zum Friedhof der „Must-Haves“, die ganz schnell diesen Status verlieren. Um meinen eigenen zu zeigen, gehe ich mit der Zeit und passe mich an. Was noch tragbar ist, ich aber nicht mehr haven must, wandert in die Kleiderspende. Kann man ja noch anziehen! Nur ich halt nicht.
Und dann gibt es da Leute, die meinen: „Ich kann nicht akzeptieren, dass man Kleider wegwirft, nur weil Frühling ist.“ Nicht etwa der Alpakapulli-Träger auf der Greenpeace-Demo versucht einem da ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern ausgerechnet die Modeschöpferin Coco Chanel. Welch Ironie, dass gerade in ihrem Unternehmen nun allein von Karl Lagerfeld jährlich acht Kollektionen auf den gefräßigen Modemarkt geworfen werden. Von den „Großen“ wie Chanel und Versace inspiriert, räumen H&M, Zara & Co. ebenfalls ihre Regale alle paar Monate für neue imitierte Billig-Kollektionen. Kollektionen, die wichtige Funktionen für uns haben, denn Kleidung unterscheidet mich von und verbindet mich mit anderen. Sie ist ein Medium zur nonverbalen Kommunikation und Genussmittel.
Die Schönen und Reichen grenzen sich durch exquisite und exklusive Mode vom Mob ab und setzen so Standards. Standards, denen der Pöbel hinterher hechelt, weil ja jeder gern reich und schön wäre. Laut dem französischen Soziologen Bourdieu nimmt allerdings genau das der aktuellen Mode ihre Exklusivität und damit ihren Wert und zwingt nun Karl Lagerfeld, neue kulturell-legitime Blüschen und Höschen zu entwerfen. Um in diesem Teufelskreis zu verharren, geben deutsche Studierende im Schnitt 51 Euro pro Monat aus – 1.836 Euro also während eines gesamten Bachelorstudiums. Viel Geld, um dem Habitus und dem Drang nach Einzigartigkeit zu entsprechen! Paradoxerweise wollen wir durch Kleidung also dazugehören und uns gleichzeitig von anderen abgrenzen. Wir übersehen dabei, dass unser Drang nach Individualisierung zu einem Massenbedürfnis geworden ist. Wir suchen unseren eigenen Stil ausgerechnet in Kleidungsstücken, die ihren Ursprung in der militärischen Uniform haben: T-Shirts, Parka, Trenchcoat – und die Chinohose. Letztere wurde ursprünglich von den Briten und den Franzosen Mitte des 19. Jahrhunderts als Teil der Uniform verwendet. Selbst die vereinheitlichten Konfektionsgrößen S, M, L und XL stammen aus der Standardisierung der Kleidergrößen für Soldaten, die damals in vier Körpergrößen eingeteilt wurden. Im Einheitsbrei verkauft sich vermeintliche Differenz aber gut und so hat H&M stets unterschiedliche Kollektionen im Geschäft, die uns im Sinne einer Entmassung der Massenmode zielgruppenorientiert präsentiert werden.
Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass wir uns durch den Drang nach billiger Individualisierung uniformieren – mit Kleidung genäht in Bangladesch. Die Haltbarkeit der Nähte: genau eine Kollektion lang – so hat man neben dem Hinterherhecheln noch einen Grund, sich in den nächsten Sonderverkauf zu stürzen und Chinohosen zu kaufen. Und ich mittendrin. Brauche ich die Hose? Nein. Will ich sie? Ja! Bei diesem Widerspruch geht es um viel mehr als um meinen persönlichen Geschmack. Mode ist nicht nur eine Rubrik in Frauenzeitschriften, sondern ein soziales Totalphänomen und Spiegel unserer Gesellschaft. Durch die Etablierung von Geschmacksrichtungen manifestieren und reproduzieren sich soziale Unterschiede. Deswegen sollte ich vielleicht damit aufhören, Chinohosen zu wollen. Was die betrifft, hatte Oscar Wilde wahrscheinlich Recht, indem er sagte: „Mode ist eine so unerträgliche Form der Hässlichkeit, dass wir sie alle sechs Monate ändern müssen.“

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