Die verschiedenen Gesichter Georgiens

Blick über Mtskheta, religiöses Zentrum und eine der ältesten Städte Georgiens mit zahlreichen UNESCO-Kulturdenkmälern

Ein Einzelfall im postsowjetischen Raum? Viele Georgier sind religiös, heimatverbunden, aber westorientiert. Die Zeichen des Wandels in dieser auf den ersten Blick homogenen Gesellschaft werden deutlich, wenn man den selbsternannten „Balkon Europas“ besucht.

von Stefan

Im Landeanflug auf Kutaissi im Westen Georgiens erscheint beim Blick über Felder und kleine Hütten der moderne Flughafen etwas deplatziert. Der pathetisch anmutende Name „Dawit der Erbauer“ bezieht sich auf den gleichnamigen bedeutenden König aus dem 12. Jahrhundert. Ein Polizeiauto parkt neben der Rollbahn: Irgendjemand im Flieger wird sich nicht über die unerwartete Begrüßung freuen. Die Fahrt in die 14 Kilometer entfernte Stadt besteht im Wesentlichen aus einem Slalom um freundlich drein schauende Kühe und Schafe, die mittels Standstreik die Existenz der Straße in Frage stellen. Kutaissi, immerhin die zweitgrößte Stadt des Landes mit ca. 200.000 Einwohnern, wirkt auf den ersten Blick wie ein Musterbeispiel der postsowjetischen Kleinstadt: graue Plattenbauten, abgemagerte Straßenhunde und ausrangierte Fahrzeuge aus westeuropäischen Ländern, viele eindeutig zu identifizieren durch eine Aufschrift wie „Tischlerei Krause aus Dresden. Ihr Partner für Holz“. Zwei Autos begegnen sich auf einer Einbahnstraße, aus dem verkehrsregelfremden Automobil steigen drei grimmig dreinblickende Männer aus, einer zündet sich eine Zigarette an, es kann wohl länger dauern. Ältere wettergegerbte Frauen mit Kopftüchern im Blumenmusterstil, wie sie auch bei uns zur Mitte des letzten Jahrhunderts getragen wurden, diskutieren die Neuigkeiten.

Der Wind kommt aus Westen
Doch plötzlich tritt eine junge Frau mit italienischen Designerklamotten hervor; blinkt ein US-amerikanisches Fastfoodkettenlogo allzu vertraut am Ende der Straße; treten die zahllosen Wechselstuben mit Dollar- und Eurozeichen ins Blickfeld. Und wieder bewahrheitet sich: Egal wo du hinkommst, Coca Cola war schon vor dir da. So befindet sich Kutaissi in dem selben Veränderungsprozess, den die Hauptstadt Tbilisi bereits hinter sich hat. Der Weg dahin führt jedoch zuerst über löchrige Landstraßen, neben denen die Gasleitungen offen geführt werden und durch enge Tunnel, in denen ein Überhohlmanöver mit entgegenkommendem LKW die Heiligenbildnisse und das Kruzifix über den Fahrersitzen erklärt. Ob sich das Lenkrad links oder rechts im Auto befindet, ist übrigens Geschmackssache. Die Einfahrt nach Tbilisi ist eine vierspurige Autobahn, die den neuen Autos europäischer und asiatischer Bauart den notwendigen Auslauf bietet. Neben restaurierten Altbauten wird man durch moderne Hochhäuser und eine ausladende Straßen- und Werbebeleuchtung begrüßt. Alles sagt: Das hier ist eine moderne westliche Großstadt. Die fortschreitende Urbanisierung hat die Hauptstadt explodieren lassen. Circa ein Drittel der Georgier lebt im Großraum Tbilisi. Das Stadt-Land-Gefälle ist offensichtlich. Der Lebensstandard ist in der Stadt höher als auf dem Land und verläuft also nicht etwa entlang der Altersgrenzen. Eine gegensätzliche Entwicklung wird bei den Sprachkenntnissen deutlich: Die Generation der nach 1990 Geborenen spricht Englisch oder Deutsch und hat die ehemalige zweite Muttersprache Russisch mitunter gar nicht mehr gelernt. Andererseits lösen bei älteren Menschen fehlende Russischkenntnisse von Fremden weiterhin starke Verwirrung aus. Wer über einen der zahlreichen Bauernmärkte geht, weiß nachher was „Unglaublich, warum spricht der kein Russisch?“ bedeutet, ohne der Landessprache mächtig zu sein.

Von Glaube, Politik und Grenzschweinen
In einem der ersten christianisierten Länder überhaupt gibt es Kirchen und Klöster aus allen Epochen, wo für Frauen bis heute strenge Kleidervorschriften gelten: Neben den üblichen „Entgleisungen“ der Frauenwelt wie kurzen Röcken sind auch Hosen beim Kirchenbesuch verboten und müssen mit einen langen schwarzen Stoff umhüllt werden. So können die Mönche nicht bei ihren beeindruckenden Chorgesängen gestört werden. In einer Kirche spricht der Priester die Worte zur Hochzeit, das junge Paar steht ganz still, wirkt ernst, etwas eingeschüchtert. Die Zeremonie kann mehrere Stunden dauern.
Die georgisch-orthodoxe Apostelkirche konnte nach dem Ende der Sowjetunion ein beeindruckendes Revival feiern. So sticht ein Umstand besonders hervor: Die fehlende religiöse Bindung, wie man es oft von der Jugend in Westeuropa gewohnt ist, scheint es hier nicht zu geben. Junge Leute übertreffen in ihrer Religiösität teilweise ihre Eltern- und Großelterngeneration, da die Kirche in sowjetischen Zeiten nicht ihre volle gesellschaftliche Bedeutung entfalten konnte. Als Teil der Tradition, aber auch als Teil des westlichen Freiheitsverständnisses, erstarkte der Einfluss der Kirche seit der Unabhängigkeit. Die jüngere Generation bricht jedoch auch langsam mit religiös begründeter Diskriminierung, wie sie oft gegenüber Homosexuellen oder religiösen Minderheiten vorkommt. Doch trotz Religionsfreiheit hat die orthodoxe Kirche eine Sonderstellung in der Verfassung, zahlt keine Steuern und der Patriarch segnet das Parlament zu Beginn einer neuen Legislaturperiode. Auch wenn dies und die eindeutig religiösgefärbte Landesflagge nur als Symbole abgetan werden können, wird im Stadtbild der weitgehende politische Einfluss der Landeskirche deutlich: Auf Wahlplakaten zeigen sich Kirchenvertreter mit Politikern und es scheint unmöglich ein nicht (mit öffentlichen Geldern?) renoviertes Gotteshaus zu finden.
Es ist auch klar warum: Die beiden großen georgischen Parteien sind beide stark religiös und konservativ, aber zugleich westorientiert. Das zeigt sich bereits an öffentlichen Gebäuden in allen Ecken des Landes: Von Parlamentsgebäude, über Polizeistation und kleinem provisorischen „Grenz“-Posten zu den separatistischen Gebieten, überall wird die rot-weiße georgische Nationalflagge von der blauen EU-Flagge flankiert. Beide politische Parteien wollen in die EU, in die NATO und verfolgen eine Wirtschaftspolitik, die selbst von einigen europäischen Vertretern als zu marktfundamentalistisch eingestuft wird. Unterschiede werden fast nur durch das politische Personal deutlich. Auf dieser Ebene wird die Korruptionsbekämpfung als nicht so erfolgreich eingeschätzt, wohingegen die sogenannte Alltagskorruption beinahe verschwunden ist. Es ist also im Gegensatz zu anderen Ländern der Region unwahrscheinlich, dass man bei einer Autofahrt mehrmals angehalten wird und eine Gebühr bei einem Polizisten entrichten muss, der fünf Kilometer weiter einen Zwillingsbruder zu haben scheint.
Um einer weiteren gesellschaftlichen Generationskonfliktlinie auf die Spur zu kommen, müssen wir durch mehrere Polizeisperren bzw. Militärposten bis zur Grenze zu Südossetien fahren. In dem völkerrechtlich nicht als unabhängig geltenden Gebiet sind seit dem Georgienkrieg von 2008 russische Soldaten stationiert. Der von südossetischer Seite teils mit Beton, Stacheldraht oder Videoüberwachung befestigte Grenzstreifen ist eine unwirkliche Gegend: Die Häuser im durch Stacheldraht geteilten Dorf zerfallen, Müll wird verbrannt, während der Wind günstig zur „anderen Seite“ steht und ein Grenzschwein fristet unbeirrt sein Dasein. Das Mobiltelefon klingelt, eine SMS: „Willkommen in Russland.“
Die Meinung der älteren Generation zu den beiden separatistischen Gebieten Südossetien und Abchasien ist nicht eindeutig. Hingegen scheint bei der jungen Generation – trotz starkem Nationalbewusstsein und einer äußerst russlandkritischen Einstellung – eine klare, wenn auch nicht offen ausgesprochene Meinung zu den Territorialkonflikten vorzuherrschen: Lieber die Westbindung verfolgen, als die territoriale Unversehrtheit bewahren. Denn Fakt ist: Solange die Gebiete umstritten sind, kann kein EU- und erst recht kein NATO-Beitritt erfolgen. Das sieht wohl auch die Vertretung der Europäischen Union in Georgien so, doch kann dies außerhalb der Sicherheitsschleuse ihres Büros nicht offen kommuniziert werden. Auch Vertreter der georgischen Regierung hüten sich, zu erklären, wie Westbindung und der Konfliktpotential beherbergende Anspruch auf territoriale Unversehrtheit zu verbinden sind. Für den Wähler gilt: Nichts ist stärker als die Illusion.

Links: Grenze zu Südossetien / Rechts: Supermarkt in Stalins Geburtsstadt Gori

„Die zwei Stalins in mir“
Ein deutlicher Kontrast der Generationen tritt bei den unterschiedlichen Geschichtsbildern zutage. Zwar heißt kaum jemand offen Stalins diktatorisches Gewaltregime gut, gleichzeitig wird ihm persönlich der Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg von über zwei Dritteln der Bevölkerung zugesprochen, wie eine internationale Studie unter Führung des Caucasus Research Resource Centers zeigt, aber Unterschiede scheinen zu überwiegen. Über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod im Jahre 1953 erzeugt Josef Stalin im postsowjetischen Raum immer noch ein besorgniserregend hohes Maß an Bewunderung wie die Studie „The Stalin Puzzle“ des internationalen Think-Tank Carnegie Endowment for International Peace mit Sitz in Washington zeigt.
Es herrschen widersprüchliche Meinungen innerhalb vieler Georgier vor, die „zwei Stalins“, zwei Bilder in sich tragen, aber mehrheitlich zwischen den Generationen. Die Älteren halten die Frage einer anderen Studie, ob Stalin und sein Wirken überhaupt bekannt ist, für einen Schreibfehler und die Jungen fragen sich hingegen, wie lange das Stalinbild bei Opa wohl noch an der Wand hängen wird.
Wer verstehen möchte, wie es um die Erinnerungskultur in Georgien bestellt ist, sollte sich zwei Museen anschauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In Stalins Geburtsstadt Gori wurde noch zu dessen Lebzeiten ein Museum für den großen Genossen in Auftrag gegeben. Für den imposanten Machtbau wurden zahlreiche Häuser im Zentrum abgerissen. Nur Stalins kleines Geburtshaus aus Holzbrettern, über das ein neuer imposanter Überbau gestülpt wurde, steht noch, umgeben von einem Park inklusive dem persönlichen „Stalinmobil“, einem Eisenbahnwaggon, der einen für die Zeit überdurchschnittlichen Luxus inklusive Badewanne und Klimaanlage zu bieten hatte. Das Museum selbst ist nicht nur äußerlich, sondern auch im Innern ein Produkt der 50er Jahre. Rote Teppiche, Tafeln mit den großen Erfolgen unter Stalins Führung und zahlreiche Bilder und Büsten desselben zeigen, dass die Kuratoren der Ausstellung wussten, was für sie auf dem Spiel steht. Ein neu hinzugefügter Raum im Keller des Gebäudes soll ergänzend das Unrecht dieser Zeit darstellen, kann aber konzeptionell wenig überzeugen. Die große Stalin-Statue auf dem Hauptplatz von Gori existiert seit 2008 nicht mehr. Das Erinnerungsmuseum jedoch pflegt das Bild des großen Führers und wird mit seinem einzigartigen Beitrag zur „Erinnerungskultur“ nur durch den benachbarten Supermarkt mit Stalinkonterfei übertroffen.
Umgekehrt präsentiert sich Georgien im Museum der sowjetischen Okkupation in der Hauptstadt Tbilisi als bloßes Opfer der Besatzung durch den großen Bruder. Allein der Name des Museums löst bei der älteren Generation, aber vor allem bei russischen Touristen, größere Irritationen aus. Diese äußern das auch lautstark gegenüber den Museumsangestellten. Der Verdacht liegt nahe, dass sich wie im Stalin-Museum der Inhalt der englischsprachigen Führung von der russischsprachigen leicht unterscheiden könnte. Auch wenn jetzt neue Geschichtsbücher aufgelegt und Begrifflichkeiten (Zweiter Weltkrieg statt Großer Vaterländischer Krieg) überdacht werden, kann es nach Meinung von Vertretern der Ilia State University Tbilisi noch lange dauern, bis der Kampf zwischen Nostalgie und Opferrolle durch eine reflektierte Erinnerungskultur abgelöst wird.
Während der Reise wurde deutlich, dass in Georgien einige gesellschaftliche Verwerfungen existieren, auch wenn die Gegensätze zwischen Stadt und Land wohl mehr die Meinung prägen als der klassische Generationenkonflikt. Wahrgenommen wird letzterer von den Georgiern ohnehin eher wenig. Was Generationen übergreifend in ganz Georgien groß geschrieben wird, ist die Gastfreundschaft gegenüber Freunden und Fremden, welche an Herzlichkeit kaum zu überbieten ist. Dabei wird reichlich Charapuri-Brot, selbstgemachter georgischer Wein und Tschatscha, der traditionelle Trauben- oder Fruchtschnaps, gereicht. Am Morgen unseres Rückfluges stellt sich heraus, dass die Maschine wegen zu starker Winde nicht landen konnte und alle Flugreisenden etwa vier Stunden in überladenen Kleinbussen in die Hauptstadt Tbilisi zurück fahren müssen. Ob der Wind wirklich aus Westen kam, weiß ich nicht. Weitere Veränderung wird es in jedem Falle geben.

Bagrati-Kathedrale in Kutaissi

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