Die kulturelle Dimension des Suizids

Identitätsverlust, Wiederherstellung der Ehre oder religöses Märtyrertum: Wie die Motive, die Menschen veranlassen, sich selbst zu töten, ist auch dessen gesellschaftliche Reputation geprägt durch kulturellen Hintergrund und religöse Tradition.

von Ladyna

„Es gibt nur ein wirkliches ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben lebenswert ist oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie“, schrieb Albert Camus 1942. Weltweit wird die Frage nach der moralischen Zulässigkeit der zweithäufigsten Todesursache der 15- bis 29-jährigen sehr unterschiedlich beantwortet. Die westlichen Industriegesellschaften, die ihre Legitimation im Schutz der Würde und Unantastbarkeit des Menschen sehen, gestehen dem Individuum im Bezug auf das Sterben nur begrenzt Selbstbestimmung zu. Zudem hat die Stigmatisierung des Selbstmords in der christlichen Theologie kulturelle Spuren hinterlassen. Dabei ist die Reputation in allen Kulturen von Suizid stark von den jeweiligen Gottes- und Jenseitsvorstellungen abhängig.

Die drei monotheistischen Buchreligionen sind charakterisiert durch den Glauben an einen allmächtigen Schöpfergott, der das Leben gibt und nimmt. Sie verurteilen den selbst herbeigeführten Tod als illegitimen Eingriff in ein göttliches Privileg.  So wurden Suizidenten im Judentum bis ins 20. Jahrhundert alle üblichen Trauerriten und ein Begräbnis innerhalb der Friedhöfe versagt. Nach islamischer Auffassung wird Menschen, die sich selbst töten, die Aufnahme ins Paradies verweigert, ihnen droht ein ewiges Höllenfeuer. Interessanterweise wurde der Selbstmord im Christentum nicht von Anfang an verurteilt – ab dem frühen Mittelalter dafür umso entschiedener. Urchristliche Bewegungen, die das Martyrium suchten, um beispielsweise Jesus, Apostel Paulus oder Petrus nachzueifern, plünderten Dörfer oder schändeten Tempel anderer Religionen, um zum Tod verurteilt zu werden. „Ist Gott etwa nach dem Blute des Menschen begierig? Ich möchte es wagen, ja zu sagen, für den Fall, dass auch der Mensch das Reich Gottes, die Sicherheit eines Heils, die zweite Wiedergeburt begehrt.“, so schrieb Tertullian, einer ihrer Vertreter, , 207 n. Chr. Unter anderem aus dieser Erfahrung hat sich die entschiedene Ablehnung des Suizids der Kirche gespeist: Sie betrachtete diesen als Mord am eigenen Selbst. Diese Einstellung hatte nach Ansicht einiger Historiker einen enormen Einfluss auf die Geschichte Europas: Ohne den Ausweg in einen selbstgewählten Tod konnten Obrigkeiten den Menschen ganz und gar untertan machen. Um Nachahmer abzuschrecken, wurden Leichen von Selbstmördern öffentlichkeitswirksam posthum verurteilt und hingerichtet, ihnen wurde ein Begräbnis in geweihter Erde verweigert. Zudem wurde ein enormer sozialer Druck aufgebaut, da den hinterbliebenen Familien Enteignung und damit der Entzug der Lebensgrundlage drohte.

Während der Selbstmord eines Bauern immer als gottloser Akt der Feigheit bewertet wurde, konnte er bei Klerikern trotzdem als ultimativer Glaubensbeweis und Märtyrertod gedeutet werden. Im Islam erfordert ein Märtyrertod die Zustimmung der religiösen Führer. In der schiitischen Tradition durften lediglich unverheiratete Männer, und auch nur mit Zustimmung der Eltern, den Märtyrertod wählen. Im Judentum lag ein verehrungswürdiges Martyrium dann vor, wenn der Suizid im Angesicht eines drohenden qualvollen Todes, einer unsittlichen Behandlung oder erzwungenen Abkehr vom Judentum erfolgte.

Trotz der sehr unterschiedlichen religiösen und ethischen Wertvorstellungen der verschiedenen indigenen Völker Nordamerikas, die nur schwer verallgemeinerbar sind, erwarten  in vielen Kulturen Selbstmörder keine jenseitigen Strafen. Bei den Mohave führte Urgott Matvilya beispielsweise seinen eigenen Tod willentlich herbei – folglich ist Selbstmord gesellschaftlich anerkannt. Das Fehlen ethisch-religiöser Selbstmord-Tabus ist jedoch nicht der Grund, warum in vielen indigenen Gemeinschaften die Selbstmordrate sehr hoch liegt: bei kanadischen Jugendlichen indigener Abstammung liegt sie beispielweise elfmal höher als die der Vergleichsgruppe. Vielmehr sind es die prekären Lebensumstände in den Reservaten und der Zusammenprall von zwei Kulturen, die zum Identitätsverlust führen können. Viele kulturelle Handlungen sind nicht mehr möglich oder haben sich stark verändert. Angelehnt an das vergangene Ideal des furchtlosen „Dog Soldiers“, die einen ehrenhafte Tod durch Kriegszüge anstrebten, kam nach der Umsiedlung der Cheyenne in Reservate ein neues Phänomen auf: Suizidale, die sich zum „Crazy Dog“ erklärten, mussten sich von da an widersinnig verhalten, so dass sie das Gegenteil dessen sagten, was sie eigentlich meinten und sich so lange Gefahren aussetzen, bis sie schließlich starben.

Es gibt jedoch auch indigene Kulturen, deren Mythologie mit einer Verurteilung des selbstherbeigeführten Todes einhergeht. Grund hierfür kann ein hohes Maß an Kollektivität sein: Wer den Stamm durch den eigenen Tod schwächt, erhält in den Stämmen des Jenseits keinen Platz. Dies ist bei den Pueblo-Indianern New Mexicos und Arizonas der Fall. Wie in den monotheistischen Religionen missfällt auch dem Schöpfergott der Navajo Selbsttötung, da der Mensch das Geschenk des Lebens wegwirft. Als Bestrafung müssen Selbstmörder das Werkzeug ihrer Tötung in der Ewigkeit mit sich herumschleppen.

Wenn Leben und Tod weniger als Gegensatzpaar begriffen werden, entwickelt sich auch ein anderes Verhältnis zum Sterben. Im buddhistisch geprägten Japan entwickelte sich ab dem 12. Jahrhundert, als das Land im Bürgerkrieg versank, die Kriegerklasse der Samurai,  die durch jahrelange Meditation die Einsicht erlangen sollten, dass Leben und Tod das gleiche bedeuten.  Sie zeichneten sich durch bedingungslose Treue gegenüber ihrem Fürsten aus. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich Seppuku, eine rituelle Form der Selbsttötung, die im Fall einer Niederlage edle Pflicht war und die persönliche Ehre wiederhergestellten konnte. Im Westen wird hierfür häufig der Begriff Harakiri verwendet. Krieger führten ein Schwert mit sich, welches ausschließlich dem Seppuku vorbehalten war. Nach Verfassen eines Todesgedichts musste sich der Krieger selbst den Bauch aufschlitzen, eine vergleichsweise schmerzvolle und unwirksame Methode zur Selbsttötung. Ab dem 13. Jahrhundert enthauptete ein Adjutant den Suizidenten anschließend. Auch weibliche Samurai verübten ritualisierten Suizid: Beim Jigai setzen sie sich mit zusammengebundenen Beinen auf den Boden und stachen sich die Halsvene auf.

Als die Samurai Ende des 19. Jahrhunderts ihre gesellschaftliche Sonderstellung verloren, wurde auch Seppuku verboten. Doch jahrhundertealte Pflicht, sich das Leben zu nehmen, wenn ein Mitglied am gesellschaftlichen Anspruch oder den Moralvorstellungen gescheitert war, erleichterte es dem japanischen Militär im zweiten Weltkrieg, Kamikaze als Kriegsstrategie durchzusetzen. Die insgesamt eher uneffektive Taktik (nur einer von acht Piloten traf sein Ziel) basierte zwar theoretisch auf Freiwilligkeit, doch in der äußerst hierarchischen japanischen Gesellschafft wäre es einer Gehorsamsverweigerung gleichgekommen, sich nicht für diese Aufgabe zu melden. Stattdessen galt es, bis zum Tod zu dienen und diesen nicht zu fürchten.

Diese Form des Suizids macht auch die politische Komponente des Themas deutlich: die Selbsttötung wird durch ein „höheres Anliegen“ legitimiert, der einzelne opfert sich für das Kollektiv. Im Gegensatz zum Kamikaze kann ein Selbstmord aber auch zum Ausdruck bringen, dass sich ein Individuum gegen ein Machtmonopol wehrt. In repressiven Kulturen und diktatorischen Systemen ist der individuelle Verzweiflungsakt auch eine der wenigen möglichen Formen von Kritik an herrschenden Verhältnissen. Der Hungerstreik ist beispielsweise seit dem Altertum ein politisches Kampfmittel und wird zur Durchsetzung Forderungen eingesetzt. Im Nordirlandkonflikt erregten Aktivisten der Irish Republican Army  so öffentliche Empörung erreichten eine Anerkennung als politische Gefangene durch das Vereinigte Königreich.

Die Moderne hat den Suizid zwar enttabuisiert und dafür gesorgt, dass die individuelle Tragik und die psychische Komponente heute deutlich differenzierter mit einbezogen werden. Trotzdem sollte die kulturelle Dimension nicht vergessen werden. Im Wandel im Umgang mit dem Thema zeigt sich nämlich auch, dass die Akzeptanz des selbstgewählten Sterbens mit dem Grad an Individualismus und der bürgerlichen Emanzipation verknüpft ist. Wie stark Suizid mit Tabus behaftet ist, hat einen enormen Einfluss auf die Hürden, die Menschen überwinden müssen, um sich Hilfe holen zu können. So kann auch ein Abbau von Tabus dazu beitragen, dass Menschen in Krisensituationen Auswege finden.

In schwierigen Lebenssituationen, bei depressiven Phasen oder Selbstmord-Gedanken gibt es professionelle Hilfe. Kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge online. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie anonym und rund um die Uhr kompetente Hilfe.


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