Die andere Meinung: Überwachungskameras? Ja, bitte!

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Üblicherweise sollte man einen Kommentar über ein so essenzielles Thema wie Freiheit und Überwachung mit einem bedeutungsvollen Zitat beginnen. Kant wäre dabei sicher eine gute Wahl. Oder – natürlich – Schiller. Hier soll es allerdings nicht darum gehen, zu philosophieren.
Let’s have an argument!

von Frank

Bevor Bürgerbeteiligung und Atomausstieg ihr Revival als Themen der öffentlichen Debatten erlebten, waren der „Große Bruder“ und seine Spielwiese, der Überwachungsstaat, regelmäßig heiß diskutiert. Mit der Wiederentdeckung der beiden erstgenannten Themen ist es wohl auch zu erklären, dass der Gewaltexzess am U-Bahnhof Berlin Friedrichstraße – vor laufenden Überwachungskameras – einige Zeit nur am Rande wahrgenommen wurde, bis sich der SPIEGEL kürzlich öffentlichkeitswirksam der Sache annahm.
Neuerdings bringen derartige Vorfälle meist das Jugendstrafrecht – respektive dessen Verschärfung – in den Vordergrund. Das verwundert insofern, da derartige Bilder oft genug Anlass zu anderen Diskussionen in journalistischen, essayistischen oder auch literarischen Veröffentlichungen waren. Dabei wurde der Nutzen oder die Legitimität einer Kameraüberwachung öffentlicher Orte oft genug hinterfragt, obwohl die Überwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln, ebenso wie in Banken oder Autobahntunneln, mittlerweile zur Normalität geworden ist. Gerade wenn, wie im erwähnten Fall, die Stand- oder Bewegtbilder von Überwachungskameras die Brutalität der Täter zeigen, fühlen sich die Zweifler bestätigt, denen damit gezeigt wird, wie wirkungslos die Kameraüberwachung eigentlich sei – schließlich finden selbst vor laufenden Kameras Gewaltverbrechen statt.

Wer braucht schon Überwachung, wenn die Kriminalitätsraten sinken?

In der Tat bleiben solche Fälle aufgrund der einprägsamen Medienbilder im öffentlichen Bewusstsein haften. Das wundert auch nicht, schließlich kann man schwerlich Aufnahmen der (ungleich zahlreicheren) Straftaten senden, die begangen werden, wenn gerade keine (Überwachungs-)Kamera in der Nähe ist. Noch schwieriger gestaltet sich die mediale Berichterstattung nur noch – so viel Polemik sei hier erlaubt – bei den Delikten, die aufgrund einer Kameraüberwachung nicht begangen werden.
Apropos „nicht begangen“: Schockierende Einzelfälle seien das, so ein anderes häufiges Argument – diesmal nicht gegen die Wirksamkeit, sondern gegen die Notwendigkeit öffentlicher Kameraüberwachung. Und wenn die Häufung der schockierenden Einzelfälle in den vergangenen Jahren dann nicht vollends ignoriert werden kann, hilft immer noch ein Rückgriff auf die polizeiliche Kriminalstatistik: Sinkende Kriminalitätszahlen zeigten schließlich, dass die ganze staatliche Überwachungsparanoia absolut unverhältnismäßig sei. Dieses Argument ist aus mehreren Gründen interessant. Dem Verweis auf die Kriminalstatistik sollte man nämlich hinzufügen, dass es sich hier nur um die registrierten Fälle handelt – die Dunkelziffer, die ohne Überwachung öffentlicher Räume vermutlich noch wesentlich höher wäre, scheint die Freiheitskämpfer weniger zu interessieren. Aber sei’s drum, man muss ja mit den Zahlen arbeiten, die man hat. Na dann los: Seit 1993, so sagt uns die amtliche Kriminalstatistik, nahm die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen um 61.517 Fälle (70,1 Prozent) zu, nicht ab – registrierte Fälle, wohl gemerkt. Die Fälle der „Gewaltkriminalität“ stiegen im selben Zeitraum um fast ein Drittel auf 208.446 – ups!

(Foto: © dpa)
(Foto: © dpa)

„Frau, 41 – das ist ein Niemand“

Doch diese Faktenlage ist nicht die einzige Schwachstelle am Argument der „sinkenden Kriminalitätszahlen“. Ein Blick auf die registrierte Straßenkriminalität zeigt, dass zumindest diese seit 1993 tatsächlich rückläufig ist – um 39,8 Prozent (948.288 Fälle). Sollte dieser erfreuliche Rückgang tatsächlich ein Argument dafür sein, dass ein Schutzmechanismus wie die Überwachung öffentlicher Räume nicht nötig ist? Wenn dem so wäre, zeigte das eindrucksvoll, dass die Vorkämpfer der individuellen Freiheit sich über die Sicherheit des Individuums wohl kaum Gedanken machen. Schließlich bleiben nach einem Rückgang um 948.288 Fälle immer noch etwa 1,4 Millionen Taten, jährlich. Man könnte das herunter brechen auf Tage, vielleicht Stunden. Oder man vergegenwärtigt sich, dass sich hinter diesen Fallzahlen Individuen verbergen. Was bringen den Geschädigten von Gewalttaten sinkende Kriminalitätszahlen um 30 oder 40 Prozent? Oder, weniger abstrakt formuliert, was hat Susanne Leinemann von 948.288 weniger Fällen von Straßengewalt? Die ZEIT-Redakteurin wurde 2010 Opfer eines brutalen Überfalls und verschafft ihrer Sicht als eine der wenigen selbst Geschädigten öffentliches Gehör. Sie macht mehr aus ihrem Fall als eine Zahl in der Statistik: „Frau, 41 – das ist ein Niemand, ein graues Wesen, das nachts durch die Straßen huscht und diesmal Pech gehabt hat“, schreibt sie, nachdem sie an diesem Abend fast totgeschlagen worden war. „Über dem Auge gebrochener Schädel, gebrochene Nase, abgebrochene Zähne…“
Die Täter waren Jugendliche. Den Umgang mit solchen gewaltbereiten Heranwachsenden hat nicht nur der SPIEGEL für sich entdeckt; auch Leinemanns Erfahrungsbericht steht im Kontext dieser Diskussion. Es ist stets die Frage nach einer Reaktion, einem Danach. Aber auch die Freiheitskämpfer sollten sich ab und an mit denjenigen unterhalten, denen in einer erlebten Bedrohungs- oder Gewaltsituation eine Überwachungskamera – zur Abschreckung oder zur Aufklärung – sicher lieber gewesen wäre.

 

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