memorique: Zusammenfinden nach dem Umbruch

Gulag-Insassen bei Arbeit am Weißmeer-Ostsee-Kanal: Welche Anerkennung erfahren die Opfer der Diktaturen?
Gulag-Insassen bei Arbeit am Weißmeer-Ostsee-Kanal (1932): Welche Anerkennung erfahren die Opfer der Diktaturen?

Forscher des Hannah-Arendt-Instituts und internationale Historikerkollegen widmen sich dem vielschichtigen Umgang mit den Opfern nach dem Ende europäischer Diktaturen.

von Frank

Nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus blieb der Kontinent keineswegs frei von Diktatur und staatlichem Terror: Bis in die 1970er Jahre litten Hunderttausende in Südeuropa unter der Herrschaft der Militärdiktaturen, noch bis 1989 bzw. in die frühen 90er Jahre in den Ländern des sozialistischen Ostblocks.
Viele derer, die jahrzehntelange Einschränkungen und Unterdrückung hinter sich und womöglich sogar aktiv Demokratie und Rechtsstaat zum Durchbruch verholfen hatten, erwarteten im Nachgang nicht nur eine bessere Zukunft, sondern ebenfalls eine angemessene (auch materielle) Entschädigung – wenngleich psychische Traumata und körperliche Schäden durch noch so großzügige staatliche Leistungen oder Zahlungen nie ungeschehen gemacht werden können. „Dass ‚Wiedergutmachung’ in diesem Zusammenhang zumeist einen Euphemismus darstellt, auf jeden Fall nur einen symbolischen Wert ausmacht, darf nicht übersehen werden“, stellt Günter Heydemann, Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT), hierzu fest, wenn er eine Bilanz der internationalen Tagung an der Technischen Universität Dresden zieht, die im Sommer 2013 anlässlich des 20-jährigen Bestehens des HIAT stattfand. Eine Zusammenstellung der Ergebnisse liegt nun als Sammelband vor, in dem sich unter anderem Heydemanns vergleichende Überlegungen zur Aufarbeitung europäischer Diktaturen finden lassen.

Defizite und Fortschritte
Als ausschlaggebend erweist sich die jeweilige Geschichts- und Erinnerungspolitik des Landes: Wie stellen sich Staatsführung, gesellschaftlich relevante (Opfer-)Gruppen und Bevölkerung der nationalen Vergangenheit? Dieser Leitfrage widmen sich deutsche und europäische Historiker, darunter zahlreiche am Hannah-Arendt-Institut tätige Wissenschaftler.
Neben der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland und in Österreich (wo eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erst mit der „Waldheim-Affäre“ Mitte der 1980er Jahre richtig einsetzte) sowie des Faschismus in Italien werden die Militärdiktaturen Spaniens, Portugals und Griechenlands behandelt: Portugal brachte bereits zahlreiche Gesetze zur Anerkennung und Entschädigung der Opfer auf den Weg; in Griechenland bleibe, so Heinz A. Richter in seinem Beitrag, eine Aufarbeitung der Militärdiktatur (1967-74) fast gänzlich aus. Ein diffizileres Bild zeigt sich in Spanien, wo Walther L. Bernecker zufolge das Schweigen über die Franco-Diktatur als eine Art Grundkonsens aller politischer Lager am Anfang der neuen spanischen Demokratie stand. Entschädigungszahlungen fehlen bisher ebenso wie eine wirklich rückhaltlose Aufklärung der Verbrechen, Massenerschießungen und des Verbleibs verschwundener Personen. Dies sorgt auch international immer wieder für Kritik. Mittlerweile stellt eine neue Generation von Spaniern diese Verschwiegenheit zunehmend infrage; politisch wird eine Auseinandersetzung jedoch bis heute von der konservativen Partei blockiert: „Offenbar ist in Spanien eine kritische Aufarbeitung der Geschichte nur um den Preis verschärfter politischer Konfrontationen und einer Art Lagerbildung zu haben“, resümiert Bernecker.
Eine große Bandbreite im Umgang mit den Opfern zeigt sich in den Nachfolgestaaten früherer kommunistischer Diktaturen. In Tschechien (bzw. vor 1993 bereits in der Tschechoslowakei) wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit zeitnah und umfassend angegangen, wie Karel Vodička beschreibt: Ein Gesetz zur Rehabilitierung von zu Unrecht Verurteilten wurde schon im April 1990 verabschiedet. Drei Jahre später wurde die kommunistische Partei der ČSSR als „verbrecherische und verabscheuungswürdige Organisation“ und Widerstand gegen das Regime daher als legitim und moralisch begründet eingestuft. Verfolgte konnten Ansprüche auf Entschädigungen (etwa für finanzielle Einbußen) und Wiedergutmachung geltend machen. Eine im europäischen Vergleich wohl einzigartige Besonderheit bietet ferner ein 2011 verabschiedetes Gesetz, das nicht nur eine Anerkennung der Opfer vorsieht, sondern explizit auch für „Teilnehmer am Kampf und Widerstand gegen das kommunistische Regime“ – so die Bezeichnung im Titel des Gesetzes. Somit wird denjenigen, die nicht selbst zu Opfern wurden, aber sich durch Sabotageakte, Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten oder politische und publizistische antikommunistische Tätigkeit im Ausland verdient gemacht haben, ein entsprechender Status zugesprochen. Dieser wird sogar mittels Zertifikat bestätigt und ist mit einer Anhebung der staatlichen Rente verbunden. Als Grund für solch weitreichende Aufarbeitungs- und Entschädigungsmaßnahmen sieht Vodička den breiten Konsens der Bevölkerung bei der scharfen Verurteilung der kommunistischen Regimes nach dem Umbruch.
Auch in Ungarn wurden zwischen 1991 und 1997 Wiedergutmachungsgesetze verabschiedet, die etwa auf einen Ausgleich von Vermögensverlusten zielten. Heute unter der Regierung Orbán, so beschreibt der namhafte ungarische Zeithistoriker Krisztián Ungváry, bestehe die Erinnerungskultur in seinem Heimatland jedoch vor allem „aus gegenseitiger Aufrechnung der Verbrechen der ungarischen Faschisten mit denen der Kommunisten“. Beide Diktaturen würden dabei als von außen gekommene Strömungen dargestellt, um den „Mythos einer unschuldigen Nation“ zu ermöglichen. Typisch sei auch die Instrumentalisierung der Geschichte durch die Regierungspartei Fidesz (teils aufgrund der personellen Kontinuität bei Entscheidungsträgern); eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheitspolitik anderer Länder finde kaum statt. Wenn überhaupt werde am ehesten Deutschland rezipiert – aber nur im Hinblick auf die Aufarbeitung der NS-Diktatur, nicht des Kommunismus.

Rückfall in alte Muster?
Dass bei Prozessen von Aussöhnung und Aufarbeitung auch der Rückfall in bereits überwunden geglaubte Sichtweisen nicht ausgeschlossen ist, zeigt sich auch am Beispiel Russlands. Dort lässt sich seit einigen Jahren eine vermehrte Rückbesinnung auf „Errungenschaften“ des Sowjetregimes und Stalins beobachten – eine Entwicklung, die für Ansprüche von Diktaturopfern nicht gerade vorteilhaft ist, zeigt Elena Zhemkova, Executive Director der Organisation „International Memorial“. Die 1988 gegründete Menschenrechtsorganisation widmet sich schwerpunktmäßig der Aufarbeitung des sowjetischen Totalitarismus, wird aber wie andere NGOs im Russland Putins von den Behörden drangsaliert und in ihrer Arbeit behindert. Zhemkova schildert nicht nur die wesentlichen Wellen des politischen Terrors und die Deportationskampagnen ab den 1920er Jahren. Sie betrachtet auch die soziale Situation der noch lebenden Opfer des sowjetischen Regimes: diese seien heute „in ihrer Mehrheit alt, einsam und krank“, beklagt Zhemkova.
In ihrer Gesamtheit verdeutlichen die Länderporträts – trotz der zugegebenermaßen geringen Fallzahl – einige, scheinbar „systemübergreifende“ Einflussfaktoren auf den politisch-gesellschaftlichen Umgang mit Aufarbeitung und Wiedergutmachung: das Ausmaß an Polarisierung der Gesellschaft bzw. der Parteienlandschaft und des politischen Wettbewerbs; die Größe und Fragmentierung relevanter Opfergruppen und deren (Eigen-)Interessen, wie etwa Federico Scarano am Beispiel Italiens ausführlich zeigt; eventuell bestehende Elitenkontinuitäten und nicht zuletzt die Frage, ob es ein Interesse an und Gelegenheit zur Instrumentalisierung der Vergangenheit oder am Aufwiegen von Verbrechen verschiedener Diktaturen gibt?
Die Tagungsergebnisse zeigen auch, dass Entschädigung von Opfern und breite gesellschaftliche Aufarbeitung nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen, einander aber oft begünstigen. Dass beides manchmal auch Generationsfragen sind – und einen Mentalitätswandel voraussetzen. Das lässt sich nicht nur am Beispiel Spaniens ablesen, sondern auch in Deutschland; Günther Heydemann verweist hier sehr zu Recht auf die (viel zu späte) Anerkennung von Sinti und Roma oder Homosexuellen als Opfergruppen des Nationalsozialismus. Nicht selten ist, so fasst der Herausgeber zusammen, eine Wiedergutmachung trotz des letztlich zuerkannten Opferstatus nicht zwingend erfolgreich: „Oft ist es ein langwieriger, für die Betroffenen quälend langsamer Prozess; manchmal so lange, dass nicht wenige sterben, bevor sie überhaupt irgendeine Wiedergutmachung erhalten haben.“

 

Günther Heydemann / Clemens Vollnhals (Hrsg.):
Nach den Diktaturen. Der Umgang mit den Opfern in Europa
Vandenhoeck & Ruprecht 2016
288 Seiten
60,00 €

 


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