memorique: Österreichs Nazi-Erbe

Waldheim (zweiter von links) 1943 in Wehrmachtsuniform (Foto: Wikimedia Commons / World Jewish Congress)
Waldheim (zweiter von links) 1943 in Wehrmachtsuniform (Foto: Wikimedia Commons / World Jewish Congress)

Die Waldheim-Affäre 1985 brach ein Jahrzehnte andauerndes Schweigen und löste eine Diskussion über die NS-Vergangenheit aus, die das Selbstbild Österreichs veränderte.

von Robert

März 1938: Deutsche Truppen überqueren die österreichische Grenze und Hitler hält noch am selben Tag unter tosendem Applaus eine Rede in Linz. Kaum 24 Stunden nach Einmarsch wird das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ verabschiedet. Im juristischen Sinne war Österreich ab diesem Zeitpunkt nur noch eine unselbständige Provinz des Deutschen Reiches. Erst das Kriegsende 1945 beendete diesen Zustand und es sollte ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis Österreich seine staatliche Souveränität wiedererlangte. Was sich in den sieben Jahren unter nationalsozialistischer Herrschaft abspielte, wurde lange Zeit geleugnet und verschwiegen.
Österreich, das erste Opfer des NS-Terrors – eine einfache und angenehme Erklärung für die Ereignisse ab 1938, die sich bereits in der Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister von 1943 fand. Doch kann ein Land, in dem Zehntausende Hitler zujubelten, in dem in einer Volksabstimmung über 99 Prozent für den Anschluss ans Deutsche Reich stimmten, Opfer sein?

Geniale Verhandlungskunst
Nach Ansicht österreichischer Politiker in den 1950er Jahren schon. Die Moskauer Deklaration wurde in die Präambel des Österreichischen Staatsvertrags von 1955 eingebettet. „Ein Geniestreich der Verhandlungskunst“, urteilen die Historiker Robert Keyserling und Günter Bischof. Die Klassifizierung Österreichs als Opferstaat in der Deklaration von 1943 war ursprünglich als Propagandamittel gedacht und sollte den österreichischen Partisanen die Solidarität der Alliierten bekunden. Doch die österreichische Delegation setzte bei den Verhandlungen mit den Alliierten alles daran, diesen Passus in den Staatsvertrag aufzunehmen, vor allem, da man Reparationszahlungen an die Siegermächte vermeiden wollte.
Die Hauptargumente für die Einbindung in die Präambel waren der Verweis auf die juristische Nichtexistenz Österreichs als souveräner Staat zwischen 1938 und 1945, sowie die Behauptung, Österreicher seien nicht freiwillig an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen. Jeder Österreicher in der Wehrmacht sei sozusagen in die Nazi-Uniform gezwungen worden. Die Eindeutigkeit der Statistiken lässt diese Argumente aus heutiger Sicht geradezu skurril erscheinen: 1942 waren 10 Prozent der österreichischen Bevölkerung NSDAP-Mitglieder. Die Schätzungen über den Anteil von Österreichern an KZ-Wachmannschaften gehen bis zu 40 Prozent: Adolf Eichmanns Mitarbeiterstab bestand fast zu 80 Prozent aus Österreichern. Auf praktisch jeder Ebene der Reichsverwaltung fand man Österreicher.
Doch mit der Einbettung in den Staatsvertrag war ein Opfermythos geboren, der es Österreich in den Folgejahren ermöglichte, Forderungen von Opferverbänden sowie der Sowjetunion souverän abzuschmettern. Vielmehr stellte das Land selbst Entschädigungsansprüche an die BRD. Der damalige Kanzler Adenauer kommentierte dies bissig: „Wenn die Österreicher von uns Reparationen verlangen sollten, dann werde ich ihnen die Gebeine Adolf Hitlers schicken“, bewilligte allerdings trotzdem 1953 eine Zahlung von 101 Millionen Mark an Österreich als „Beitrag der Wiedergutmachung“.
Innenpolitisch setzte man in den ersten Jahren nach Gründung der zweiten Republik auf eine kurze und übertriebene Glorifizierung der eigentlich nur spärlich vorhanden österreichischen Partisanenbewegung. Jedoch stand dies in krassem Gegensatz zur Rehabilitierung von ehemaligen Nationalsozialisten seit Ende des Kriegs. „Die Volksgerichtsbarkeit in Österreich war zwar zunächst tatsächlich vergleichsweise forsch, mit Ende der 1940er Jahre aber faktisch vorbei – und mit ihr die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechern“, so Florian Wenninger, Historiker an der Universität Wien. 38 Todesurteilen im Jahr des Kriegsendes steht die faktische Begnadigung von 90 Prozent der Angeklagten ein Jahr später gegenüber.
Nach der Reintegration folgte das Schweigen: über die eigene Beteiligung, aber auch über den Widerstand. Schon 1954 stellte der Historiker Gustav Canaval fest, dass ab 1950 Widerstandsdenkmäler außerhalb von Wien praktisch nicht akzeptiert wurden, jedoch zugleich die Anzahl von Gefallenengedenkstädten im gesamten Land drastisch zunahm. Erst die Waldheim-Affäre in den 1980er Jahren sollte das Thema der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs wieder in den nationalen und internationalen Fokus rücken.

Nur Pflichterfüllung?
Kurt Waldheim, ehemaliger UN-Generalsekretär, trat 1985 als Kandidat der ÖVP für das Amt des Bundespräsidenten an. Waldheim hatte im Krieg als Wehrmachtsoffizier gedient, dies jedoch bis dahin systematisch verschwiegen. Als dies im Rahmen des Wahlkampfes publik wurde, folgte ein internationaler Eklat. Allen voran forderte der World Jewish Congress (WJC) einen Rückzug seiner Kandidatur. „Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hunderttausend andere Österreicher, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt,“ war Waldheims Antwort an seine Kritiker.
Während Waldheim von Seiten des WJC als Nazi und Kriegsverbrecher bezeichnet wurde, scheuten sich seine Verteidiger – nach erfolglosen Leugnungsversuchen – nicht davor, mit antisemitischen Parolen zu kontern und den WJC als „Österreichverleugner“ und, so der ÖVP-Abgeordnete Wendelin Etmeyer, „Schandfleck für das Judentum in der ganzen Welt“ zu bezeichnen. Der internationale Protest bremste Waldheims Kandidatur nicht, sondern wurde vielmehr zu ihrem Motor: Unter dem Slogan „Jetzt erst recht!“ mobilisierte Waldheim die rechten Protestwähler und konnte die Wahl 1986 im zweiten Wahlgang mit fast sieben Prozent Vorsprung für sich entscheiden. Aber die Empörung ebbte nicht ab und Waldheim wurde 1987 auf Drängen des WJC sogar auf die US-amerikanische Liste der gesuchten Kriegsverbrecher gesetzt. Der Bundespräsident war zum Sinnbild des Österreichers im Dritten Reich geworden.
Auch innenpolitisch war längst eine Debatte über die Rolle Österreichs in der Nazi-Ära entbrannt. Die Grünen, seit 1986 im Parlament, stellten als erste Partei fest, dass Österreich „in der jüngsten Geschichte als Teil des Großdeutschen Reiches, als Ostmark, an einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte teilgenommen“ hatte.
Noch im selben Jahr gründete sich als Folge der Waldheim Affäre der „Republikanische Club – Neues Österreich“. Der Verbund aus Intellektuellen, Künstlern und Journalisten machte es sich zur Aufgabe, die Verstrickungen Österreichs in nationalsozialistische Verbrechen aufzuklären und bemühte sich, Licht in die Vergangenheit des Bundespräsidenten zu bringen. Der Club, sowie das Nachrichtenmagazin profil, betrieben mit Aktionen und Reportagen eine akribische Aufarbeitung von Waldheims Vergangenheit.
Unter öffentlichem Druck kam es 1988 zum politischen Kurswechsel: Anlässlich des 50. Jahrestages des „Anschlusses“ kündigte die Regierung aus der sozialdemokratischen SPÖ und der konservativen ÖVP eine „kritische und sachliche“ Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit an. Waldheim, der einst selbst von „Pflichterfüllung“ sprach, entschuldigte sich in einer Fernsehansprache als Staatsoberhaupt für die von Österreichern begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus, wies jedoch eine persönliche sowie kollektive Schuld Österreichs zurück.

Richtungswechsel?
Das Jahr war geprägt von einer Flut an medialen Berichten. Auf den Gedenkveranstaltungen von SPÖ und ÖVP traten häufig ehemalige Widerstandskämpfer auf, die von ihren Erlebnissen sprachen. Obwohl es sich um Einzelschicksale handelte, sollten diese Schilderungen exemplarisch die Opferthese aufrechterhalten. Trotz solcher Aktionen hatte der Begriff des Opfers in seinem ursprünglichen Verständnis seine Berechtigung verloren. Dennoch ließ sich 1988 der Versuch einer perversen Generalisierung der Opferthese erkennen: NS-Opfer, Kriegsgefallene und Vertriebene wurden zu einem gleichwertigen Opferkollektiv zusammengefasst. Das „patriotische Volk“ wurde zur Aussöhnung im gemeinsam erlittenen Leid aufgerufen – und so zugleich die österreichische Beteiligung an den Massenverbrechen relativiert.
Ausläufer dieses Gedankens finden sich bis heute in der österreichischen Erinnerungskultur. Florian Wenninger bemerkt hierbei eine starke Fixierung auf die NS-Opfer. Diesen wird ein Denkmal gesetzt, doch zugleich vergisst man die Täter: „Sich als Konsequenz an die Verbrechen nur ‚erinnern’ zu müssen ist zweifellos angenehmer, als sich mit materieller Verantwortung gegenüber Opfern und Nachkommen beschäftigen zu müssen“, so der Historiker.
Erst 1991 bekannte zum ersten Mal ein österreichischer Politiker Farbe: In einer Rede, die er 1993 vor der Knesset wiederholte, gestand Bundeskanzler Franz Vranitzky eine Mitverantwortung Österreichs für die Verbrechen der NS-Zeit ein. Die Rede wurde damals von vielen als Meilenstein und Wendepunkt der österreichischen Vergangenheitspolitik gesehen. „Franz Vranitzky hat 1993 die Mitverantwortung – wohlgemerkt: nicht die Mitschuld – Österreichs einbekannt. Seither sind mehrere ähnliche Stellungnahmen ergangen“, erläutert Florian Wenninger die damaligen Aussagen Vranitzkys. Trotz des nur halben Eingeständnisses wurde Vranitzkys Rede zum Katalysator einer neuen Geschichtskultur. Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde zum offiziellen Thema im Schulunterricht. Der 5. Mai – Tag der Befreiung des KZ Mauthausen – wurde zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus erklärt. 1995 richtete der Nationalrat den „Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“ ein. Fünf Jahre später wurde dieser um einen Fond für die Entschädigung der Zwangsarbeiter erweitert.
Die Folgen der jahrzehntelangen Leugnungspolitik sind bis heute zu spüren. Seit der Waldheim-Affäre vollzog sich ein Rechtsruck in der FPÖ. Kennzeichnend hierfür war der damalige Parteivorsitzende Jörg Haider. Dieser besaß Mitte der 1990er Jahre die Dreistigkeit, Ehre und Anerkennung für die Waffen-SS zu fordern. Oder im Jahr 2000 darauf hinzuweisen, dass es höchstens eine individuelle, keine kollektive Schuld in der SS gegeben habe. Die Verharmlosung der Nazi-Vergangenheit ging auf und führte zum kontinuierlichen politischen Aufstieg der FPÖ, machte sie 2000 schließlich sogar zur Regierungspartei. Und auch abseits der politischen Rechten finden sich noch immer populäre Vertreter der Opferthese. Als die FPÖ-ÖVP-Koalition an die Regierung kam, war besonders ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel immer wieder darum bemüht, die Opferrolle Österreichs zu betonen. Ein breiter öffentlicher Diskurs blieb nach solchen Aussagen erstaunlicherweise aus. Für mehr Wirbel sorgte 2008 die Rede von Kaiserenkel Otto von Habsburg: Vor einer jubelnden Menge von ÖVP-Anhängern verkündete dieser, „dass es keinen Staat in Europa gibt, der mehr Recht hat, sich als Opfer zu bezeichnen!“.
Der seit Vranitzkys Rede ausgelöste Aufarbeitungsprozess ist nach wie vor ein instabiles Konstrukt. Der österreichische Philosoph Rudolf Burger war schon 1992 in seinem Essay Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Plädoyer für das Vergessen der Ansicht, dass die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit eigentlich schon vollständig abgeschlossen sei und nur noch stören würde. Damit hinterlässt Burgers Appell in Anbetracht der aktuellen österreichischen Tagespolitik einen bitteren Nachgeschmack. Denn es sind Aussagen wie die von Schüssel und Habsburg, die verdeutlichen, wie salonfähig revisionistisches Gedankengut noch bis heute in der österreichischen Gesellschaft ist.


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