Kolumne: Sprachgenerationen

Über altenglische Großmütter und isländische Zwillingsschwestern schreibt Thomas Honegger, Professor für Anglistische Mediävistik an der FSU Jena.

von Thomas Honegger

Hey, der Kompostie mit den Blechpickeln hat aber üble Maulpesto.“ So oder ähnlich soll sich laut PONS-Wörterbuch der Jugendsprache ‚die Jugend’ ausdrücken. Oder sagen wir genauer: ‚ein Teil der Jugend’, denn die Jugendsprache ist nicht nur Ausdruck einer Altersgruppenzugehörigkeit, sondern auch eines gewissen sozialen Milieus. Die meisten Nutzer einer solchen Jugendsprache lassen diese dann nach ein paar Jahren hinter sich und drücken sich wieder normal aus.
Das Beispiel der Jugendsprache zeigt, dass wir in gewissen Fällen durchaus eine generationsbedingte Unterteilung der zeitgenössischen Sprache haben. Für den Sprachwissenschaftler konstituiert die Jugendsprache jedoch noch keine neue ‚Sprachgeneration’, denn sie existiert neben, mit und innerhalb der von der Mehrheit verwendeten Varietät und die menschlichen Generationen decken sich in den seltensten Fällen mit den sprachlichen. Unsere Ur-ur-ur-Großeltern gehören immer noch zur gleichen Sprachgeneration wie wir und man muss über Luther hinausgehen, um die Generationsübergänge im Deutschen wahrzunehmen.
Das populärste Generationenmodell für das Deutsche oder Englische postuliert drei Sprachstufen: Alt-X, Mittel-X und Neu-X/Modern-X. Diese Dreiteilung zeigt nicht ganz zufällig Parallelen zu der den meisten Menschen vertrauten Familienstruktur von Großeltern, Eltern und Kindern und suggeriert eine direkte Abfolge von einer Sprachstufe zur nächsten – was jedoch für das Englische auf Grund der bewegten Geschichte der Insel nicht zutrifft. Die vermeintliche ‚Großmutter’ des Englischen, das uns überlieferte (westsächsische) Alt-Englisch des 7. bis 11. Jahrhunderts, ist linguistisch gesehen eine Großtante, da die Belege für die eigentliche Vorgängersprache (das mercische Alt-Englisch) durch die Wikingereinfälle zerstört wurden. Was das genealogische Modell im Englischen jedoch gut abbildet, ist die Mischung aus Veränderung und Beharren, denn wie in echten Familien kommt mit jeder Generation neues genetisches Material von außen hinzu. Das Studium der Sprachstufen des Englischen zeigt, dass wir es mit drei eigenständigen Einheiten zu tun haben, die ihre Familienähnlichkeit jedoch nicht verleugnen können. Die verschollene altenglische ‚Großmutter’ hatte wohl eine Beziehung mit einem dänischen Wikinger. Dies bewirkte, dass ihre mittelenglische Tochter nur noch eine beschränkte Zahl von vereinfachten Flexionsendungen besaß und eine Mitgift aus nordischen Lehnwörtern auf den Weg bekam. Diese mittelenglische Tochter hatte dann wiederum eine folgenreiche Liaison mit einem (oder mehreren) französisch sprechenden normannischen Eroberer(n) – was zur Folge hatte, dass die moderne englische Enkelin einen umfangreichen französisch geprägten Lehnwortschatz erbte.
Wenn wir das genealogische Modell auf das Deutsche anwenden wollten, dann wird es schwierig, denn der Unterschied zwischen dem Althochdeutschen und dem Mittelhochdeutschen ist in keiner Weise mit demjenigen zwischen dem Altenglischen und dem Mittelenglischen vergleichbar. Das gleiche gilt für die neueren Sprachstufen. Aus sprachtypologischer Sicht liegen also zwischen dem Althochdeutschen und dem heutigen Deutschen höchstens eine einzige Generation – und es wäre passender, von einer älteren Schwester (Althochdeutsch) und ihren jüngeren Geschwistern (Mittel- und Neuhochdeutsch) zu sprechen. Vollständig unbrauchbar wird das genealogische Modell bei Sprachen wie dem Isländischen: Ein moderner Isländer kann ohne Probleme die aus dem 12. Jahrhundert erhaltenen Texte lesen und verstehen und aus sprachtypologischer Sicht wäre das sogenannte moderne Isländisch am ehesten als die leicht jüngere (eineiige) Zwillingsschwester des Altisländischen zu sehen – womit wir wohl an die Grenzen des Generationenmodells für die Sprachen gestoßen sind.


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