„Stefan Raab, nein, so etwas gucke ich mir nicht an. Das ist Schwachsinn.“

Über Freundschaften mit Politikern, die heutige Relevanz der Tagesthemen und seine Faszination für die USA: Journalisten-Legende Ulrich Wickert im Gespräch mit der unique.

unique: Herr Wickert, Sie haben das deutsche Mediensystem über Jahrzehnte begleitet. Wie hat sich in dieser Zeit der deutsche Journalismus verändert?
Ulrich Wickert: Grundsätzlich hat sich der deutsche Journalismus eigentlich nicht verändert – die Situation hat sich verändert. Wir haben ein größeres Deutschland und dadurch haben wir auch andere Strukturen bekommen. Zweitens haben sich die technischen Gegebenheiten gewandelt: Vor 20 Jahren gab es das Internet in der Form nicht; beim Fernsehen war es damals immer noch schwierig, in jede Ecke der Welt zu schalten. Heute können Sie mit dem Laptop in die Wüste gehen und von da aus eine Live-Schaltung machen. Videokameras sind heutzutage eben keine große, schwere Apparatur mehr, sondern sehen zum Teil aus wie ein Fotoapparat. Das verändert natürlich die Möglichkeit des Journalisten: Er kann sehr viel schneller arbeiten. Das Problem, das damit entstanden ist, ist aber, dass vom Journalisten heute erwartet wird, sehr viel schneller zu produzieren – und Schnelligkeit ist nicht immer gleichbedeutend mit Qualität.

Haben sich denn auch die Möglichkeiten zum Einstieg in den Journalismus verändert?
Zu meiner Zeit war es unglaublich leicht, in den Journalismus einzusteigen, aber damals war es auch nicht unbedingt ein Traumberuf. Auch heute ist der Journalist zwar auf der Skala der gesellschaftlich anerkannten Berufe weit unten, trotzdem ist es ein Beruf, der viele Leute anzieht, weil er Spannung verspricht. Und dadurch, dass es wesentlich mehr Verbreiter gibt – private Rundfunkanstalten, private Fernsehanstalten – gibt es den sehr viel leichteren Zugang. Man sagt einfach: Ich gehe mal irgendwo hin, ich muss jetzt nicht unbedingt die große Ausbildung haben; ich kann beim Lokalrundfunk anfangen, als Praktikant. Oder ich kann zum Privatfernsehen gehen und als Freier hier und da mal arbeiten; das ist sicherlich einfacher. Bei den Öffentlich-Rechtlichen ist es aber bedeutend schwieriger geworden, denn die stehen unter einem sehr viel größeren Finanzdruck als früher.

Gibt es etwas, dass Sie uns Nachwuchsjournalisten mit auf den Weg geben könnten?
Journalismus ist ein Handwerk – und Handwerk lernt man durchs Machen. Ich selbst habe kein Volontariat gemacht, keine Journalistenschule besucht. Ich habe Jura studiert und ich sage, das Wichtige ist: Wenn man berichten will, muss man einen Fundus haben, aus dem heraus man die Dinge beurteilen kann. Diesen Fundus muss man sich anarbeiten, z.B. durch ein Studium.

Sie haben vorhin schon darüber gesprochen, wie das Internet den Journalismus verändert hat. Ist so etwas wie die Tagesthemen heute noch relevant, wenn man tagsüber bereits alles im Web verfolgen und nachlesen kann?
Wenn Sie die Einschaltquoten sehen, sind die Tagesthemen natürlich relevant! Es sehen ja immer noch jeden Abend Millionen Zuschauer diese Sendung. Insofern würde ich schon sagen, dass sie relevant sind. Sie können Themen vielleicht im Netz zum Teil angerissen sehen, aber da die Berichte für die Tagesthemen von Korrespondenten der ARD gemacht werden, können Sie deren Darstellungen des Geschehens vorher nicht sehen. Das sind eben dann doch Originalstücke. Wenn Sie ins Internet gehen, dann haben Sie häufig nicht den Hintergrund und die Breite des Themas. Das Internet ist etwas, das Ihnen schnell die Information geben kann, ob etwas passiert ist; es gibt Ihnen meistens aber nicht diesen Hintergrund.

Wenn wir jetzt einmal bei Journalismus und Fernseh-Gewohnheiten sind: Was halten Sie von Formaten wie der neuen Stefan Raab-Sendung Die Absolute Mehrheit? Oder der heute-Show?
Stefan Raab, nein, so etwas gucke ich mir nicht an. Das ist Schwachsinn. Diejenigen, die dahin gehen, lassen sich verarschen und sind schön blöd, wenn sie es tun! Denn da geht’s ja wirklich nur darum, Leute zu verarschen – und das Publikum soll das toll finden. Die heute-Show ist etwas ganz anderes, eine sehr gelungene satirische Sendung. Gucke ich mir häufig an. Die hat zu Recht den Hans-Joachim-Friedrichs-Preis, den seriösesten Fernsehpreis, bekommen.

Was brauchen Ihrer Meinung nach die öffentlich-rechtlichen Nachrichten heute, um für ein breites, auch jüngeres Publikum attraktiv zu sein?
Die Nachrichten, wie zum Beispiel die Tagesschau, sind ja unglaublich attraktiv. Sie dürfen nicht vergessen: Jeden Abend schalten etwa 10 Millionen Leute ein, das ist eine enorme Zahl. Das Problem dabei ist, dass 15 Minuten kurz sind – eine sehr beschränkte Zeit – und dass sie auch eine sehr strikte Form haben. Aber das Wichtige ist ja, dass Nachrichten gut informieren, also nicht, dass sie sozusagen „unterhaltend“ sind. Es ist schön, wenn die einzelnen Stücke so konstruiert sind, dass sie zwar den Inhalt geben, aber sie auch gleichzeitig gut kommunizieren. Gut kommunizieren kann natürlich auch bedeuten, dass sie ein gewisses Interesse wecken und – ja, ich will das Wort „unterhaltend“ da nicht benutzen… Aber dass Sie sich zumindest nicht langweilen dabei. Wichtig ist, dass man eine verständliche Sprache spricht. Sie dürfen dort keine Fremdworte benutzen, die die Leute nicht kennen, aus dem einfachen Grund: In der Zeitung können Sie ein Fremdwort nachschauen, im Fernsehen ist das Wort vorbei, wenn Sie anfangen, darüber nachzudenken. Dann hören Sie schon nicht mehr, was als nächstes kommt.

Erinnern Sie sich spontan daran, was die aufwühlendste, die schockierendste Nachricht war, die Sie selbst einmal vorlesen mussten?
Es gab sehr viele schockierende Nachrichten, aber das Dramatischste waren natürlich die Attentate in New York seinerzeit. Da habe ich am Nachmittag vier Stunden live hintereinander moderiert. Das war ohne Frage das Dramatischste.

Gab es auch Meldungen, über die Sie sich beim Vorlesen persönlich gefreut haben?
Das Problem an Nachrichten ist ja, dass man eigentlich immer das berichtet, was nicht geht; wo ein Fehler ist. Ich erinnere mich daran, dass es lange gedauert hat, bis die LKW-Maut auf deutschen Autobahnen funktionierte. Das wurde immer wieder rausgeschoben aus technischen Gründen und irgendwann hieß es: Am 1. Januar, sonntagabends um 10, soll das nun endlich anfangen. Sonntagabends senden die Tagesthemen immer erst um viertel vor 11 und ich habe gesagt: Dann gibt es das schon eine Dreiviertelstunde – lasst uns das mal senden! Daraufhin sagte die Redaktion: Wenn es funktioniert, ist es doch keine Meldung. Ich habe gesagt: Doch, jetzt haben wir jahrelang immer berichtet, dass es nicht geht – und wenn es jetzt funktioniert, ist das eine Meldung! Und wir haben das dann auch gemacht. Das heißt, wir haben etwas Positives berichtet [schmunzelt]. Sie sehen, ich habe das nicht vergessen. Ich fand es wichtig, dass wir hier mal über etwas Positives berichten, denn es war ja die Folge eines ewigen Prozesses von Berichterstattungen über „Es geht nicht“. Dann ist die Berichterstattung über „Es geht eben doch“ eine wichtige Nachricht.

Wie vielleicht irgendwann beim neuen Berliner Flughafen?
Das wird auch so… wenn der irgendwann mal funktioniert [lacht].

Sie haben in Ihrer journalistischen Karriere eine Vielzahl von Personen getroffen – unter anderem darum geht es ja auch in Ihrem aktuellen Buch Neugier und Übermut. Gibt es zu manchen davon auch heute noch eine Art Freundschaft bzw. treffen Sie einige regelmäßig?
Sagen wir mal eher: Bekanntschaft. Ich habe mich kürzlich mit Hans-Dietrich Genscher getroffen. Aber es ist so, dass man – und das schildere ich auch in meinem Buch – eine gewisse Distanz einnehmen muss zu denen, über die Sie berichten müssen, selbst wenn Sie mit ihnen befreundet sind. Besonders schwierig war das für mich bei Günther Grass. Mit ihm fühle ich mich befreundet, aber als er damals seine Biographie Beim Häuten der Zwiebel veröffentlichte, wurde ihm vorgeworfen, er habe da zum ersten Mal zugegeben, dass er bei der Waffen-SS gewesen war. Ich meine, der Mann ist eingezogen worden, der hat sich nicht freiwillig gemeldet… Aber die Diskussion darum kochte hoch, und ich hatte schon vorher mit ihm ein Fernseh-Interview vereinbart. Das war dann eine sehr schwierige Situation: Freund zu bleiben, aber auch in die Rolle des unabhängigen Journalisten zu schlüpfen.

Gibt es jemanden, der Ihnen als besonders beeindruckende Persönlichkeit in Erinnerung geblieben ist?
Sehr viele. Auch „kleine“ Persönlichkeiten, die gar keiner kennt, wenn ich sie jetzt nenne. Absolut beeindruckende Figuren waren Bill Clinton oder François Mitterrand. Jemand wie Genscher ist beeindruckend durch die Art und Weise, wie er Außenpolitik gemacht hat. Oder Gerhard Schröder, der heute in Deutschland ein schlechtes Image hat, im Ausland aber sehr positiv gesehen wird, weil man sagt, Deutschland steht heute so gut da, weil er die Reformen gemacht hat. In Frankreich etwa ist Schröder heute das politische Vorbild. Aber auch andere Leute, die ich getroffen habe, haben mich absolut fasziniert. Zum Beispiel eine ganz unbekannte Person namens Hans Müller, geboren in Düsseldorf, den ich 1979 in Peking treffe. Er war Mitglied des chinesischen Volkskongresses. Da fragt man: Wie kommt ein Hans Müller aus Düsseldorf in den chinesischen Volkskongress? Und wenn Sie sich dann die Biographie dieses Mannes anschauen, dann sagen Sie: unfassbar! Der ist nämlich 1939 als Feld-Chirurg zu Mao Tse-tung gegangen, weil er gesagt hat: Ich will den Faschismus bekämpfen, in diesem Falle Japan als Achsenmacht. Unglaublich! Oder der Bruder des letzten Kaisers von China – hinter solchen Persönlichkeiten stecken so unglaubliche Biographien. Da ist es dann gut, wenn man neugierig ist.

Ein anderes Thema: Sie sind nicht nur Journalist, sondern haben auch verschiedene Patenschaften inne – unter anderem eine Wortpatenschaft
Freiheit!

Genau… Wo sehen Sie für die Freiheit heute die größten Herausforderungen?
Überall dort, wo es keine Freiheit gibt, also in Diktaturen oder autoritären Regimen. Aber auch wir bei uns müssen uns immer wieder Gedanken darüber machen, was wir mit dem Begriff „Freiheit“ meinen. Ich halte es für ein großes Problem, wie die Freiheit von neoliberalen Wirtschaftsvertretern definiert wird, die zum Teil sagen: Freiheit bedeutet die völlige ethische Unabhängigkeit des Handelns. Das ist ein Zitat! Da sage ich immer: Es ist absurd, so etwas zu fordern oder es ernsthaft zu sagen – aber die sagen es ja ernsthaft! Das bedeutet: Wenn ich von der völligen ethischen Unabhängigkeit des Handelns rede, dann darf ich im Namen des Gewinns Menschenleben riskieren. Das klingt vielleicht absurd, aber das Schlimme ist: Es gibt viele Beispiele, wo Unternehmen das tun, etwa in der Pharma-Industrie. So weit darf Freiheit eben nicht gehen! Wenn wir Freiheit definieren, dann bin ich auf der einen Seite der Meinung, dass in Deutschland Freiheit sehr eingeschränkt ist: „Das hat es noch nie so gegeben, das haben wir noch nie so gemacht“ statt zu sagen „Du willst? Dann versuch’s!“. Auf der anderen Seite muss es Schranken geben für die Freiheit. Und die allererste Schranke, für den Einzelnen, muss die Verantwortung des Handelnden sein.

Sie sind in Japan geboren und haben seit Ihrer Kindheit die verschiedensten Kulturen erlebt. Zu welcher haben Sie eine besondere Bindung; in welcher würden Sie gern Ihren Lebensabend verbringen?
Es hat lange gedauert, bis ich erkannt habe, dass Deutschland meine Heimat ist. Es hat deswegen lange gedauert, weil es natürlich auch bei mir so war, dass die Belastung durch das Dritte Reich, die Konzentrationslager, die Vernichtung der Juden, etwas ist, was man nicht mit seiner Identität verbinden möchte. Es bleibt einem aber nichts übrig: Wenn man Deutscher ist, gehört es zur eigenen Identität; man muss sich damit auseinandersetzen und dann auch die Konsequenzen ziehen. Das musste ich lernen, das dauerte eine Weile. Ich habe sicherlich eine besondere Beziehung zu zwei Kulturkreisen. Das eine ist Frankreich – dort bin ich zur Schule gegangen, habe dort später zehn Jahre als Korrespondent gearbeitet. Ich habe ein kleines Häuschen und verbringe viel Zeit dort. Aber genauso fasziniert mich immer noch Amerika: Dort habe ich studiert, war Korrespondent, dort mache ich sehr häufig Urlaub. Aber „Lebensabend verbringen“? Irgendwo in einem Stuhl sitzen und warten, dass die Sonne untergeht? Das ist nicht mein Ding.

Herr Wickert, wir danken Ihnen vielmals für das Gespräch!

Das Interview führten Frank und Martin.

Ulrich Wickert (Jahrgang 1942) wurde in Tokio geboren und kann auf eine beachtliche journalistische Karriere zurückblicken: Er arbeitete u.a. als Korrespondent in Paris, New York und Washington. Unserer Generation ist er am ehesten als „Mister Tagesthemen“ bekannt. Die abendliche Nachrichtensendung im Ersten moderierte er von 1991 bis 2006.

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