„Eine völlig andere Kontrollrealität“ (Langfassung)

„Ein erhöhtes Kriminalisierungsrisiko“ (Foto: flickr-User "drp")

Boulevardmedien sprechen gerne über „kriminelle Ausländer“ – und schweigen über Faktoren und Kontext. Strafvollzugsexperte Joachim Walter spricht über das höhere Risiko von Ausländern, angezeigt zu werden und Vorurteile im deutschen Justizsystem.

unique: Herr Walter, sind Ausländer häufiger strafrechtlich auffällig als Deutsche – oder werden sie nur stärker juristisch verfolgt?
Joachim Walter: Ausländer, also Menschen ohne deutschen Pass, aber auch andere Menschen mit Migrationshintergrund, sind am `high end´ des Kriminalisierungsprozesses, nämlich im Strafvollzug, gegenüber den Deutschen um das zwei- bis dreifache überrepräsentiert. Allerdings sind weder die Staatsangehörigkeit – der fehlende deutsche Pass – noch die Zuwanderereigenschaft kriminogene Faktoren. Insofern macht die gängige Rede von der „Ausländerkriminalität“ wenig Sinn. Wer sich über die Europa-Brücke in Kehl nach Frankreich begibt, ist dort Ausländer, und wenn er bleibt, Zuwanderer. Ist er danach nun mehr oder weniger kriminell?
Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen dürften die Gründe für die überdurchschnittlich häufige Verurteilung und Inhaftierung von Menschen mit Migrationshintergrund weniger darin liegen, dass diese von vornherein mehr oder schwerere Straftaten begehen als andere. Sie dürften vielmehr in unterschiedlichen Lebenslagen und daraus teilweise resultierend unterschiedlichem Verhalten, in unterprivilegiertem rechtlichen Status und unterschiedlicher Behandlung durch das Recht und die Strafverfolgungsorgane zu finden sein. Für Zuwanderer besteht von vornherein ein erhöhtes Kriminalisierungsrisiko, weil sie in einer völlig anderen Kontrollrealität leben als die alteingesessenen Deutschen. Und sind sie erst einmal in die Mühlen der Strafverfolgung geraten, ist ihr Risiko, zu Freiheitsentzug verurteilt zu werden, etwa doppelt so hoch wie das der Einheimischen.

Vermutlich unterscheiden sich die Zuwanderer-Gruppen untereinander?
Die Unterschiede zum Beispiel in Bezug auf den kulturellen Hintergrund, Sprachkenntnisse, Religion sind gewaltig und führen zu einem hohen Differenzierungsbedarf: Steht bei einem Flüchtling aus Somalia für eine gelingende Integration vielleicht Spracherwerb oder sogar Alphabetisierung im Vordergrund, könnte dies bei einem gut deutsch sprechenden russlanddeutschen Aussiedler die Behandlung von Suchtproblemen sein, bei einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Türken vielleicht eine geeignete Berufsausbildung. Bei Zuwanderern aus Bürgerkriegsländern können posttraumatische Belastungsstörungen primär eine Therapie erfordern.

Stichwort ‚Unterschiede‘: Sind Ihrer Meinung nach für die Ungleichbehandlung der Zuwanderer eher äußerliche Merkmale wie Hautfarbe oder Sprache entscheidend oder der differente Rechtsstatus?
Beides dürfte eine Rolle spielen: Dunkle Hautfarbe, das Tragen fremdartiger Kleidung wie Kaftan oder Kopftuch, ungewohnte Begrüßungs- und Umgangsformen können zu erhöhter Auffälligkeit und Kontrolle durch die Polizei oder Hausdetektive in Kaufhäusern führen oder Anzeigen durch die Bevölkerung wahrscheinlicher machen. Der rechtliche Status von Nichtdeutschen ist erheblich schlechter als derjenige von Deutschen – wobei dies für Einwanderer aus EU-Ländern zu relativieren ist. Jedenfalls gelten für Zuwanderer ohne deutschen Pass eine große Zahl spezieller Rechtsvorschriften wie das Ausländerrecht, das Asylverfahrensgesetz; im Recht der Untersuchungshaft gilt die bei einem Zuwanderer meistens gegebene Möglichkeit der Flucht ins Ausland als klassischer Haftgrund.

Einen Hauptgrund für die überproportionale Inhaftierung sehen Sie in den Lebenssituationen der Zuwanderer, aber auch abweichenden Verhaltensweisen. Was ist damit gemeint?
Viele Zuwanderer, zum Teil auch noch ihre in Deutschland aufgewachsenen Abkömmlinge, haben einen kulturellen Hintergrund, der sich vom hierzulande üblichen stark unterscheidet. Dabei geht es um in ihrem Herkunftsland erlernte Verhaltensweisen, die dort nicht abweichend, sondern üblich, funktional oder sogar lebensnotwendig waren, es aber in Deutschland nicht sind. Das beginnt bei dem in einem dicht besiedelten Land nicht erlaubten Feuermachen im Freien oder dem Fischen in öffentlichen Gewässern und endet bei rituellen Geboten wie den Schächten von Schlachttieren, aber auch bei hier abgelehnten Verhaltensweisen wie dem Einsatz körperlicher Gewalt.
Was freilich am deutlichsten vom Durchschnitt der hiesigen Bevölkerung abweicht, sind die sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen Zuwanderer leben: erheblich schlechtere Einkommensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, ungünstige Wohnverhältnisse, bei den Jugendlichen schlechtere Schul-, Bildungs- und Berufssituation. Menschen mit Migrationshintergrund sind in Deutschland weitaus stärker von Armut betroffen als einheimische Deutsche. Dies führt im Übrigen dazu, dass sie erheblich leichter als andere Opfer von Straftaten wie Betrug, Wucher und sexueller Nötigung bzw. Ausbeutung werden.

Welche Rolle spielt die vielfach beschworene kulturelle Prägung, etwa was Familienstrukturen angeht?
Abweichendes und hierzulande strafbares Verhalten fördern können auch familiäre Strukturen wie patriarchalisch geführte Familienverbände und traditionell erlernte Rollenmuster. Archaische Erziehungsstile und Rollenmuster wie die brachiale Verteidigung der Familienehre gehören hierher. Auch können Gewalterfahrungen im Herkunftsland gemacht und Gewalt als Problemlösungstechnik, zumal unter (Bürger-)Kriegsverhältnissen, erlernt worden sein.

Man macht sich selten klar, dass deutsche Staatsbürger gegen manche Gesetze gar nicht verstoßen können, etwa das Ausländer- oder Asylrecht. Spielt das zahlenmäßig bei den Inhaftierungen eine Rolle?
Ein Wissenschaftler hat einmal formuliert, dass sich in Untersuchungshaft Menschen befinden, die, wären sie Deutsche, nicht in Haft wären. Das belegen die in der Untersuchungshaft noch stärker als in Strafhaft erhöhten Prozentanteile der Gefangenen mit Migrationshintergrund. Um wie viel diese geringer wären, wenn es die genannten spezielle Rechtsvorschriften nicht gäbe, lässt sich schwer bestimmen.

Studien belegen, dass Angehörige von Minderheiten überdurchschnittlich häufig von der Mehrheitsbevölkerung angezeigt werden. Wie lässt sich das erklären?
Das ist das Ergebnis von Untersuchungen zur Frage des Anzeigerisikos: Die erhöhte Wahrscheinlichkeit, als Nichtdeutscher angezeigt zu werden, wurde in nahezu allen Studien bestätigt, allerdings je nach Nationalität in unterschiedlichem Maße. Dabei muss man wissen, dass rund 90 Prozent aller Straftaten der Polizei durch Anzeigen aus der Bevölkerung oder von Behörden und nicht aus eigener proaktiver Tätigkeit bekannt werden. Dass Fremde nach allen Untersuchungen ein höheres Anzeigerisiko tragen als Einheimische, ist wenig überraschend. Wahrscheinlich geht alle Vorurteils- und Stereotypbildung auf das Grundphänomen des Ethnozentrismus zurück, also das Bedürfnis von Gruppen, ihr Verhalten kollektiv von Fremden abzusetzen. Und die Stereotypisierung von Gruppen nimmt noch weiter zu, wenn Menschen Angst haben.

Ist das oft kritisierte „racial profiling“ der Polizei mitverantwortlich für die Überrepräsentation und – wenn ja – wie kann man dem praktisch oder dienstrechtlich begegnen?
Das lässt sich auch nach polizeiinternen Untersuchungen nicht ausschließen. Hinzu kommt, dass der Aktionsradius von Zuwanderern mangels ausreichender Sprachkenntnisse, finanzieller Mittel und Informiertheit über die hiesige Gesellschaft oft beschränkt ist. Deshalb sind sie an bestimmten Orten wie Bahnhöfen, Supermärkten und in öffentlichen Verkehrsmitteln überrepräsentiert, was ihre Überwachung und Kontrolle einfacher macht als diejenige der gut informierten, sich angepasst-individualistisch und unauffällig verhaltenden Einheimischen. Erfreulicherweise ist die Problematik seit Jahren erkannt und wird inzwischen in der polizeilichen Ausbildung auch berücksichtigt.

Welchen Einfluss haben Ausländer- oder Sozialbehörden, wenn es um strafrechtliche Verfolgung von Migranten geht?
Das ist bisher kaum untersucht, sollte aber nicht unterschätzt werden. Denn die für Zuwanderer wegen der erforderlichen Aufenthaltserlaubnis und zur Erlangung zustehender Unterstützungsleistungen nötigen und recht häufigen Behördengänge implizieren auch Kontrollen durch die Ämter, zumal diese die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Erlaubnisse oder Leistungen zu prüfen haben.

Von den Massenmedien werden Migranten – vor allem „gewaltbereite jugendliche Ausländer“ – oft zur Gefahr stilisiert. Kann man eine Rückwirkung dieses Medienbildes auf die Akteure in Polizei und Justiz feststellen?
Eigentlich leicht erkennbar handelt es sich dabei um mediale Kampagnen, die einige spektakuläre Einzelfälle immer wieder ausschlachten. Dabei wird meist noch nicht einmal der Versuch unternommen, dies mit der statistisch dokumentierten Wirklichkeit abzugleichen, die seit längerem einen Rückgang der Jugendkriminalität und der Jugendgewalt zeigt. Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund, die meist als Beispiel herhalten müssen, sind in Wahrheit oft eher Opfer: Im Kontext ihres Aufwachsens im Herkunftsland und der Flucht aus demselben – und ein zweites mal bei uns, wo sie nicht selten von erwachsenen Landsleuten, Angehörigen oder Dealern ausgebeutet werden.
Auch auf Polizisten, Richter und Staatsanwälte werden Mediendarstellungen Auswirkungen haben, obgleich ihnen – im Gegensatz zum Normalbürger – in ihrem Berufsfeld Primärerfahrungen mit Kriminalität und Straftätern zugänglich sind. Allerdings führt das nicht selten zu einer Perspektiven-Verengung, denn Staatsanwälte und Strafrichter haben es nur selten mit gesetzestreuen Bürgern zu tun, was ihr Welt- und Menschenbild negativ beeinflussen kann. Ein Kriminologe ging so weit, Richter in diesem Zusammenhang als die „Angstbarometer der Gesellschaft“ zu bezeichnen.
Für die große Mehrheit der Bürger stellen Massenmedien in Sachen Kriminalität die wichtigste Informationsquelle dar. Doch sind sie weniger Spiegel als interessengeleitete Interpreten der Wirklichkeit: Das von ihnen gezeichnete Bild der Kriminalität und der Täter beruht auf eigenen Gesetzmäßigkeiten. In erster Linie zu nennen ist der geschäftliche Erfolg, das Profitinteresse, dessen Maßstab die Auflage bzw. die Einschaltquote ist. Um diesen Erfolg zu erreichen, wird auf die Mobilisierung von Gefühlen gesetzt, auf Vereinfachungen und Skandalisierungen. Weil sie beim Medienkonsum überhaupt nicht an diese Produktionsbedingungen denken, übersehen die Konsumenten diese Gesetzmäßigkeiten und fassen die Medieninhalte als Realität auf. Niklas Luhmann fragte deshalb: „Wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie Sie produziert werden?“

Verdacht – Anzeige – Anklage – Verurteilung: Lässt sich zeigen, an welchem Punkt des Verfahrens die größten Unterschiede zwischen einheimischen und ausländischen Personen gemacht werden?
Leider ist bisher nicht umfassend untersucht, in welchen der verschiedenen Stadien des Strafverfahrens die Überrepräsentation von Zuwanderern steigt oder sinkt. Gut erforscht ist, dass bereits auf der Ebene der Anzeigeerstattung, allerdings unterschiedlich je nach nationaler Herkunft, eine Überrepräsentation von Nichtdeutschen festzustellen ist. Gegen sie wird schneller und auch schon wegen Bagatellen Anzeige erstattet. Einige Forschungsergebnisse zeigen, dass auf der Ebene der Staatsanwaltschaft mittels des Instruments der Einstellung des Verfahrens eine gewisse Reduzierung der Überrepräsentation von Personen ohne deutschen Pass eintritt. Nach erfolgter Anklage und Verurteilung scheint sich dies wieder zu Ungunsten der Zuwanderer zu ändern.

Führt die tatsächliche und wahrgenommene Ungleichbehandlung im schlimmsten Fall auch zur erhöhter Ablehnung des „(Straf-)Systems“?
Viele Zuwanderer haben in Deutschland Diskriminierung erfahren. Dies kann im Umgang mit Einheimischen, mit Behörden oder im Schulsystem geschehen sein. Nicht wenige haben strukturellen Rassismus erlebt und die Erfahrung gemacht, dass den Zuwanderern ein unterer Rang in der Sozialordnung zugewiesen wird. Wer solche Ablehnung erlebt hat, wird womöglich geneigt sein, sich in die eigene ethnische Gruppe zurückzuziehen, statt auf Integration zu setzen. Im ungünstigsten Fall kann dies zu einer Re-Ethnisierung und aggressivem Verhalten nach außen führen, etwa den „Muslim- Fighters“.

Gab es seit der Aufdeckung der NSU-Morde Ihrer Meinung nach ein Umdenken bei der Polizei oder Justiz im Bereich Verdacht und Anzeige?
Nach meiner Wahrnehmung hat in Folge des NSU-Desasters sowohl die Aufmerksamkeit als auch die Nachdenklichkeit bezüglich mancher stereotypen Vorannahmen bezüglich der Menschen mit Migrationshintergrund durchaus zugenommen. Eine nachhaltig veränderte Praxis der Verdachtsgewinnung – im Wissen um den Einfluss von Anzeigeraten auf das Kriminalitätsaufkommen –, der Alltagsroutinen der Fallbearbeitung und schließlich der Sanktionspraxis dürfte aber allenfalls mittel- oder langfristig zu erwarten sein.

Wie wird das Thema in der juristischen Fachwelt, aber auch in Behörden im weiteren Sinne diskutiert und reflektiert?
Soweit ich es beurteilen kann, wird das Thema bei der Polizei durchaus diskutiert, wobei dieser Prozess gerade erst begonnen hat. Dasselbe gilt für die Strafrechtswissenschaft. Bei den Staatsanwälten könnte eine kritische Nachdenklichkeit dadurch relativiert sein, dass diese sich in den allermeisten Fällen auf die Ermittlungen der Polizei verlassen und nur selten, wie es das Gesetz eigentlich vorsieht, die Ermittlungen selbst leiten. Hinzu kommt das überkommene Selbstbild vieler Staatsanwaltschaften als der „objektivsten Behörde der Welt“, welches Selbstkritik nicht gerade fördert.
Was die Strafjustiz insgesamt anbelangt, wird eine Reflexion versteckter oder unbewusster Stereotypen und Alltagstheorien in dem Maße gelingen, in dem Richter und Staatsanwälte die Bedeutung ihres eigenen subjektiven Vorverständnisses bei der Rechtsfindung erkennen, die lieb gewordene Vorstellung ihrer Neutralität relativieren und sich zur Existenz unvermeidlicher Vorurteile auch in der eigenen Person bekennen.
Im Gefängnis gehen fast alle Mitarbeiter davon aus, dass die Gefangenen „zu Recht hier sind“. Sie sehen sich als ausführende Organe rechtskräftiger Entscheidungen, die sie nicht zu hinterfragen haben. Die enorme Überrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in Haft können sie gleichwohl nicht übersehen, erst recht nicht die zahlreichen Probleme, die das mit sich bringt.

Lassen sich in anderen Ländern ähnliche Muster bezüglich der Inhaftierung ausländischer Personen feststellen?
Auch in den Gefängnissen der meisten anderen Länder sind Angehörige von Minoritäten deutlich überrepräsentiert, insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, deren gesellschaftlicher Status ohnehin unterprivilegiert ist: Türken und Einwanderer aus den Balkanländern in der Schweiz, Algerier in Frankreich, Afrikaner in Italien, Tamilen in den Niederlanden, Syrer in Griechenland, Menschen dunkler Hautfarbe in den USA. Im Einzelnen mögen hier unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen, beispielsweise woher und wohin die aktuellen Flüchtlingsströme sich ergießen. Eine gemeinsame Ursache der überproportionale Inhaftierung der Angehörigen von Minoritäten weltweit dürfte aber darin liegen, dass sie im den meisten Ländern in einer anderen Kontrollrealität leben als alteingesessene Einheimische, weil man ihnen als Fremden grundsätzlich misstrauischer gegenübersteht.

Herr Dr. Walter, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Frank.

Joachim Walter (Jahrgang 1944), Dr. iur., ist Leitender Regierungsdirektor a.D. und war von 1989 bis 2009 Leiter der Jugendstrafanstalt Adelsheim.

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