Interview: „Es gibt ein heftiges Ringen um die Deutungshoheit“

Nicht nur in Deutschland, auch in den Staaten Osteuropas ist die Erinnerung an die kommunistischen Diktaturen bis heute ein großes Thema – wie auch deren Aufarbeitung. Wir sprachen mit Professor Joachim von Puttkamer über die länderspezifischen Unterschiede im Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit.

UNIQUE: Herr von Puttkamer, kann man mit Blick auf Osteuropa eigentlich von EINER Erinnerungskultur sprechen?
J. von Puttkamer: Das lässt sich bestimmt nicht unter einem Schlagwort zusammenfassen. Es gibt zwar durchaus Parallelen in der Art und Weise, wie vor allem die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in den baltischen Staaten, in Polen, Tschechien, der Slowakei und Rumänien erinnert werden. Aber diese unterscheidet sich ganz zentral davon, wie in Russland, der Ukraine und Weißrussland mit diesen Ereignissen umgegangen wird. In Südosteuropa, insbesondere in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, geht die Erinnerungskultur noch einmal in eine ganz andere Richtung.

Lassen sich diese Unterschiede an geografischen Räumen oder kulturellen Prägungen festmachen?
Nein. Die Unterschiede liegen in der historischen Erfahrung, vor allem des II. Weltkriegs und der nachfolgenden kommunistischen Herrschaft. Was für die Länder Mitteleuropas oft als doppelte Unterwerfung erinnert wird – erst durch die Nationalsozialisten und dann durch die Sowjetunion – ist, vor allem aus russischer Sicht, bis heute der glorreiche Sieg in einem völlig legitimen Verteidigungskrieg gegen NS-Deutschland.

Und diese beiden „Unterwerfungen“ werden dann wahrscheinlich auch unterschiedlich erinnert. Oder wird damit ähnlich umgegangen?
Damit wird im Kern ähnlich umgegangen, auch wenn die Erfahrungen vor allem während des II. Weltkrieges in den betreffenden Ländern wiederum unterschiedlich gewesen sind: Es gibt einerseits die Länder, die ganz offensichtlich vom nationalsozialistischen Deutschland angegriffen und unterworfen worden sind, insbesondere Polen und die heutige Tschechische Republik. Es gibt aber auch die Länder, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt zunächst dem sowjetischen Machtbereich zugeschlagen wurden: Die baltischen Staaten und heutige Teile Weißrusslands, der Ukraine und Rumäniens waren zunächst sowjetisch besetzt. Diese haben den deutschen Überfall auf die dermaßen erweiterte Sowjetunion anfangs als Befreiung empfunden, bevor man merkte, was man sich eingehandelt hatte. Noch etwas schwieriger ist es in Ungarn und anderen Teilen Rumäniens, die ja von Anfang an mit Deutschland verbündet waren und erst ab 1944, angesichts der sich abzeichnenden deutschen Niederlage, mit sowjetischer Besatzung zu kämpfen hatten.

In Ihrem Buch schreiben Sie, das Ende des Krieges sei keine Zäsur gewesen, sondern habe in erster Linie eine Zerschlagung der nationalen Eliten dargestellt. Wie hat sich dies auf den Aufbau der folgenden kommunistischen Herrschaft ausgewirkt?
Man kann sehr deutlich sehen, dass schon mit dem Ende des I. Weltkrieges der Untergang der traditionalen, überwiegend adelig geprägten grundbesitzenden Eliten eingeleitet wurde – im Baltikum, in Polen und in der Tschechoslowakei, aber auch in Rumänien. Die soziale und oft auch physische Vernichtung der alten Eliten begann aber erst im Zweiten Weltkrieg, zuerst unter deutscher und dann unter sowjetischer Besatzung. In Polen, wo sich im Untergrund eine nationale und teilweise demokratische Gegen-Elite herausgebildet hatte, wurde diese von der heranrückenden Roten Armee schließlich niedergekämpft.

Wie haben sich diese aus dem Kampf gegen den Nationalsozialismus hervorgegangenen Eliten unter der aufkommenden kommunistischen Herrschaft verhalten?

Es gab im Widerstand gegen den Nationalsozialismus fast überall, wenn auch nicht überall gleich starke kommunistische Gruppierungen, meist Partisanen, die sich mit dem Vorrücken der Roten Armee ganz eindeutig auf deren Seite stellten. Es gab aber in dem gesamten Bereich, vom Baltikum über die heutige westliche Ukraine und bis Rumänien hinein, auch nationalkonservative Gruppen, die versucht haben militärisch gegen den sowjetischen Besatzer anzukämpfen.
In den meisten derart von der Roten Armee eroberten Ländern gab es zunächst keine wirkliche Basis für eine kommunistische Herrschaft, sodass die zu bildenden Regierungen als Koalitionsregierungen angelegt waren, in denen dann auch wieder entstehende Parteien der Mitte oder Bauernparteien mit den Kommunisten koaliert haben. Ab 1947/1948 wurden diese dann allerdings systematisch aus den Regierungen herausgedrängt oder in größere übergreifende Arbeiterparteien zwangsweise vereinigt.

Wie verfuhr man nach dem Umbruch von 1989/90 mit den kommunistischen Eliten?

Es gibt nicht den einen stereotypen Verlauf des Umbruchs von 1989. Klassischerweise lassen sich einerseits Länder wie Polen und Ungarn anführen, wo die Transformation aus einem langen Reformvorlauf, auch aus den kommunistischen Parteien heraus, mit gestaltet wurde. Andererseits gibt es diejenigen Länder, für die vor allem die damalige Tschechoslowakei steht, wo breite Massendemonstrationen, ähnlich wie in der DDR, den Sturz des alten Regimes erzwungen haben. Ein wenig dazwischen stehen die baltischen Staaten. Ein besonderer Fall ist schließlich Rumänien mit der putschartigen Machtübernahme durch eine „Front der nationalen Rettung“, die sehr stark von den alten Kräften geprägt gewesen ist.
Es haben sich dann eigentlich in allen Ländern Ostmitteleuropas schnell postkommunistische, sozialdemokratische Parteien herausgebildet, in denen sich diese Unterschiede wieder verwischt haben: Die jeweiligen alten Staatsparteien haben sich größtenteils als sozialistische oder sozialdemokratische Parteien neu gegründet und auch recht erfolgreich in das neue Parteiensystem hineingefunden. Eine unmittelbare, auch institutionelle Kontinuität zu einer alten kommunistischen Partei im Sinne eines Weiterbestehens gibt es nur in der Tschechischen Republik.

Gab es wie in der DDR auch in Osteuropa einen umfassenden personellen Austausch oder retteten sich die alten Partei-Eliten einfach in das neue System hinüber?
Eine direkte Elitenkontinuität an der Spitze gibt es eigentlich nirgendwo. Das prominenteste Beispiel wäre der spätere ungarische Ministerpräsident Gyula Horn, der 1989 kommunistischer Außenminister gewesen war und sich internationales Ansehen dadurch erworben hatte, dass er den Eisernen Vorhang mit abgebaut hat. Ansonsten waren es Reformkommunisten aus der zweiten Reihe, die aufstrebende, jüngere Garde, die ihre Chance ergriffen hat, um in den 90er Jahren die neu gegründeten sozialistischen Parteien zu prägen: in Polen der spätere Präsident Aleksander Kwaśniewski, in Ungarn der langjährige Ministerpräsident Gyurcsány und in Rumänien der zweimalige Präsident Iliescu. Dort ist die Kontinuität ganz an der Spitze deutlich unterbrochen worden, indem Nicolae Ceauşescu nach einem raschen Prozess hingerichtet wurde. Ergänzend sei erwähnt, dass die Spitzenfiguren des alten Regimes in einigen Ländern auch schon ein biographisches Alter erreicht hatten, das ihnen für die 90er Jahre keine Perspektive mehr gab.

Wie ging man mit den ehemaligen Ikonen der Freiheitsbewegung um, die exponiert gegen die kommunistische Herrschaft gekämpft hatten?
Das prominenteste Beispiel wäre Václav Havel, der nach dem Umbruch lange Zeit tschechoslowakischer und später tschechischer Präsident war und relativ bald miterleben musste, wie sich aus der Bürgerbewegung heraus schnell ein konservativerer Flügel formiert hatte, der seine Wurzeln der intellektuellen Dissidenz hinter sich ließ – insbesondere wäre da an den heutigen Präsidenten Václav Klaus zu denken.
Das ist ein Prozess, den man auch in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern beobachten kann: eine sehr rasche Ausdifferenzierung der alten Bürgerbewegung in ein breiteres Parteienspektrum. Die intellektuellen Führungsfiguren der früheren Dissidenz haben sich entweder ganz isoliert, sind in die zweite Reihe zurück getreten oder im Journalismus weiter präsent geblieben. Einige haben sich auch irgendwann enttäuscht von der Politik zurück gezogen, wie Lech Wałęsa, der ähnlich wie Havel die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte. Am deutlichsten brachen solche inneren Konflikte zum 30jährigen Gründungsjubiläum der Gewerkschaft Solidarność in Polen auf, als die Feierlichkeiten ganz massiv von dem heftigen Streit geprägt waren zwischen der heute regierenden liberalen Partei um Donald Tusk und den Rechtspopulisten um Jarosław Kaczyński, die beide das Erbe der Solidarność für sich beanspruchen, aber sich politisch erbittert bekämpfen.

Die damaligen Führungsfiguren sind also heute größtenteils nicht mehr die Träger der Erinnerungskultur?
Es gibt ein heftiges Ringen um die Deutungshoheit. Es sind dabei vor allem die damaligen jüngeren, teilweise kompromissloseren Hardliner, die heute versuchen, bestimmte Deutungen eher nationalkonservativer Sicht durchzusetzen. Es ist nicht so, dass die damaligen Vorkämpfer alle abserviert worden wären. Nehmen Sie den heutigen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der damals als Student ein prominenter Anführer einer Jugendbewegung gewesen war und in der Umbruchzeit das Fundament seiner politischen Karriere gelegt hat.
Diese Milieus sind es aber auch, die eine Erinnerungskultur zu prägen versuchen, welche auf die nationale Opfererfahrung im Kommunismus und weniger auf eine differenzierte gesellschaftliche Selbstbefragung zielt. Man merkt es in der Presse, dass diese Strömungen beide vorhanden sind. Aber vor allem in den großen Museumsprojekten wird der Ton meist ganz eindeutig von den Nationalkonservativen gesetzt.

Kann man sagen, dass diese „Deutungshoheit“ über die Geschichte auch für politische Ziele missbraucht wird?
Ich bin nicht sicher, ob man von einem Missbrauch sprechen kann. Es ist an sich völlig normal in einer Demokratie, dass die Beschäftigung mit der unmittelbaren Vergangenheit und deren Deutung eine politische Dimension hat und wichtiger Teil einer politischen Debatte ist. Man sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass es sich um eine öffentliche Debatte handelt, die eben nicht nur wissenschaftlich ist und die auch das politische Spektrum sehr stark mit strukturiert.

Gibt es in anderen Staaten eine vergleichbare staatliche Koordination der Aufarbeitung im Rahmen einer zentralen Einrichtung, wie das etwa in Deutschland mit der Birthler-Behörde der Fall ist?
Das sind Dinge, die in den letzten 20 Jahren in den Ländern der Region sehr intensiv und auch sehr unterschiedlich diskutiert worden sind. Dabei hat sich fast überall – deutlich später als in Deutschland – eine Politik durchgesetzt, bei der staatliche Forschungsinstitute zur Archivierung der Hinterlassenschaft der jeweiligen Staatssicherheit oder auch des gesamten bürokratischen Apparates gegründet worden sind. Diese wurden meist relativ schnell zu den institutionellen Hochburgen der erwähnten nationalkonservativen Geschichtsdeutungen.
Ich denke da an die Debatte, die vor zwei Jahren geführt wurde, als man eine Akte fand, die den tschechischen Schriftsteller Milan Kundera als Zuarbeiter der kommunistischen Polizei in den 50er Jahren erkennbar werden ließ – nicht als informellen Spitzel, sondern als jemand, der einen Widerstandskämpfer denunziert haben soll, was Kundera bis heute entschieden bestreitet, was aber zu einer sehr heftigen Debatte in der tschechischen Öffentlichkeit geführt hat. Eine deutliche Ausnahme bildet hingegen Rumänien, wo die entsprechende Behörde sich inzwischen engagiert darum bemüht, die breite und wissenschaftlich gestützte Aufarbeitung der Akten der Securitate aus geschichtspolitischen Deutungskämpfen herauszuhalten.

Spielen die Medien bei diesen öffentlichen Debatten eine spezifische Rolle? Man denke nur an Deutschland, wo Erinnerungskultur gern in Form von „Ostalgie“-Shows und Ähnlichem aufgekocht wird?
In dem Sinne eigentlich weniger, denn da die kommunistische Herrschaft in der Mehrzahl der Länder als nationale Unterwerfung gedeutet und verstanden wird, ist die Rückbesinnung auf eine vermeintlich glücklichere Epoche nicht ganz so stark ausgeprägt wie das in den neuen Bundesländern der Fall ist. Hier spielt sicher das Gefühl hinein, sozusagen von einer „fremden“ Kultur überformt worden zu sein und dass dabei viel eigene, auch materielle Kultur „untergegangen“ ist. In den Ländern Ostmitteleuropas findet sich das nicht so stark. Es gibt beispielsweise nicht so etwas wie DDR-Museen, wo die materielle Kultur einer „untergegangenen Epoche“ gepflegt wird.
Was es sehr wohl gibt, ist eine nostalgische Erinnerung an das, was ja auch für viele Ostmitteleuropäer ihre eigene Jugendepoche gewesen ist. Das äußert sich eher darin, dass man auch dort Ranglisten, z.B. der größten Ungarn oder der größten Rumänen, aufstellt und dann zum Teil erstaunliche Ergebnissen erhält, wo doch erkennbar wird, dass auch ein Teil dieser kommunistischen Epoche als goldene und glückliche Zeit erinnert wird. Oder man kann es z.B. auch daran erkennen, dass es in Polen einen eigenen Fernsehkanal gibt, der nahezu ununterbrochen alte sowjetische Spielfilme – mit dem nötigen Heldenpathos – zeigt, für die es offensichtlich auch eine Nachfrage gibt, auch seitens von Leuten, die darin ihre Jugenderinnerungen widergespiegelt sehen.

Also ist diese Verklärung weniger sozioökonomisch oder schichtspezifisch als vielmehr altersmäßig bedingt?
Wenn man es soziologisch angehen will, könnte man wahrscheinlich argumentieren, dass es viel leichter fällt, sich in der heutigen Zeit zurechtzufinden und die kommunistische Epoche mit kritischer Distanz zu betrachten, wenn man selbst einen gelungenen Neuanfang aufweisen kann oder in der Zeit allenfalls seine Kindheit verbracht hat.
Dazu muss man auch sagen, dass es in den Ländern Ostmitteleuropas natürlich noch sehr viel breitere Schichten, gerade in der Generation der heute 30-40jährigen, gibt, die in den 90er Jahren einen unternehmerischen Neuanfang gewagt haben und lange Zeit zu kämpfen hatten, heute aber verhältnismäßig gut da stehen. Es wuchs also eine neue Mittelschicht heran, die auch keine Konkurrenz dadurch hatte, dass aus „dem Westen“ Anwälte, Unternehmer oder Verwaltungsbeamte, wie in Deutschland, gekommen wären.
Dass auch viel unternehmerisches Potenzial durch ausländische Investitionen und Firmen nach Ungarn, nach Polen usw. gekommen ist, das sei dahingestellt. Insofern ist es schon auch ein Generationenphänomen, weil gerade diejenigen, die schon in den ökonomisch sehr schwierigen 90er Jahren auf staatliche Pensionen angewiesen waren oder heute von staatlichen Gehältern oder Renten leben müssen, tatsächlich materiell sehr viel schlechter da stehen als das in Deutschland der Fall ist – und teilweise auch viel schlechter, als sie es sich während ihres aktiven Arbeitslebens erhofft hatten.

Werden denn heute trotzdem die Jubiläen des Umbruchs – auch von diesen „Verlierern der Wende“ – gefeiert oder wird eher verbittert damit umgegangen
?
Es ist auch da wieder sehr unterschiedlich: Dieses Verbitterte beobachtet man vor allem dort, wo es, wie in den baltischen Staaten, starke russische Minderheiten gibt, die diesen Umbruch als massive soziale Deklassierung empfunden haben und danach vielerlei Anfeindungen ausgesetzt waren und bis heute ausgesetzt sind. Es gibt in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern das vielleicht merkwürdige Phänomen, dass diejenigen, die man als die sozialen Verlierer der Wende betrachten würde, sich nicht nur auf der linken Seite finden, die diese Epoche verklärt, sondern teilweise eher auf der rechtspopulistischen Seite. Diese Menschen versuchen sich umso heftiger von der kommunistischen Epoche abzugrenzen, je schwieriger sie ihre eigene Situation empfinden, weil sie diese für all ihre Entbehrungen verantwortlich machen und sich weiterhin als Opfer sehen.

Kann das, am Beispiel Ungarns, dann auch in Fremdenfeindlichkeit umschlagen?
Ungarn ist sicherlich das Land, das die größte Besorgnis erregt, weil sich dort rechtsnationale und auch rechtsradikale Tendenzen herausgebildet haben. Um das zu erklären bedürfte es wohl eher soziologischer als historischer Kompetenz.
In Ungarn spielt sicher eine wichtige Rolle, dass sich der sozialistische Ministerpräsident Gyurcsány zu Beginn der letzten Legislaturperiode deutlich diskreditiert hat, indem er öffentlich eingestand, die Wählerschaft belogen zu haben. Das führte dann, zusammen mit einigen Korruptionsskandalen sowie Auseinandersetzungen über die Stasi-Mitarbeit einiger Parteimitglieder, dazu, dass die Linke massiv an Akzeptanz verloren hat und sich gesellschaftliches Protestpotenzial nun eher auf der rechten Seite wiederfindet. Es spielen aber sicher auch noch andere Dinge eine wichtige Rolle, z.B. das ungeklärte Verhältnis des rechtskonservativ-bürgerlichen Lagers, das jetzt die Regierung stellt, zu nationalen Fragen und etwa ihre Bereitschaft, immer wieder den Nationalitätenkonflikt gegenüber den in der Slowakei und in Rumänien lebenden ungarischen Bevölkerungsteilen innenpolitisch zu instrumentalisieren.
Zudem mag hineinspielen, dass Ungarn von der Finanzkrise des letzten Jahres fast bis an den Rand des Staatsbankrotts getrieben worden war, also sehr viel schlechter da stand als etwa Polen oder Tschechien. Insofern ist auch die Enttäuschung über das Ergebnis des EU-Beitritts in Ungarn wiederum größer als in manch anderen ostmitteleuropäischen Ländern und verschafft sich jetzt auch in einer antieuropäischen Grundhaltung einzelner Bevölkerungs-schichten Luft.

Vielleicht auch eine Enttäuschung von der Demokratie, die man sich früher erhofft hatte?
Die Unterscheidung zwischen Staatsform und wirtschaftlichem Erfolg wird, so würde ich das auch einschätzen, nicht immer präzise gezogen – und das nicht nur in Ostmitteleuropa! Auch in Deutschland kann man bei entsprechenden Umfragen immer wieder beobachten, dass sich diese Enttäuschung über ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolg auf das politische System überträgt. Und da, wo es manifest fremdenfeindliche Züge annimmt – bis hin zu offenen Bedrohungen von Roma und mehreren ganz offensichtlich politisch motivierten Morden, die in Ungarn intensiv diskutiert worden sind – wird es auch für das politische System wirklich bedrohlich.

Was würden Sie im Gesamtbild als den charakteristischsten Unterschied zwischen Ostmitteleuropa und Deutschland bzw. Ostdeutschland hinsichtlich Aufarbeitung und Erinnerung des Sozialismus bezeichnen?

Der charakteristische Unterschied ist, dass man sich in Deutschland mit der Birthler- bzw. Gauck-Behörde sehr früh und ganz radikal dafür entschieden hat, die Akten der Staatssicherheit offenzulegen. Somit hatte die Diskussion um Stasi-Verwicklungen in den 90er Jahren auch schon ihren Höhepunkt erreicht – auch wenn sie ja bis heute nicht völlig ausgestanden ist – während das vor allem in Polen und Ungarn, aber etwa auch in Tschechien, erst mit deutlicher zeitlicher Verzögerung eingesetzt hat, von Rumänien ganz zu schweigen.
Der andere deutliche Unterschied scheint mir zu sein, dass es in den neuen Bundesländern das Empfinden viel stärker ist, eine eigene, kulturelle Lebensform, an die man sich durchaus auch positiv erinnert, sei durch den Einbruch des bundesrepublikanischen Westens gewissermaßen untergegangen. Insofern waren die von Ihnen angesprochenen Formen von Nostalgie hier auch für eine längere Zeit sehr viel deutlicher ausgeprägt, als man das in Ostmitteleuropa beobachten kann. Aber auch da scheint mir der Höhepunkt der Diskussion schon wieder überschritten zu sein.

Ist es nicht paradox, dass mit der Aufarbeitung hierzulande viel früher begonnen, die Verklärung aber trotzdem weitaus intensiver betrieben wurde?

Ich bin nicht sicher, ob das ein Paradox ist. Es ist ja deutlich zu erkennen gewesen, dass hier in Deutschland eine sehr radikale Diskreditierung der DDR in der Öffentlichkeit stattgefunden hat, die auch sehr stark mit den Debatten um Stasi-Verwicklungen verbunden war. Insofern kann man diese nostalgische Welle durchaus als eine Art trotziger Gegenbewegung betrachten.

Herr von Puttkamer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Frank.

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(Foto: © privat)
(Foto: © privat)

Prof. Dr. Joachim von Puttkamer wurde 1964 in München geboren und hat seit Dezember 2002 den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der FSU Jena inne. Er forscht u.a. zu Staatsbildung und Staatlichkeit in Ostmitteleuropa sowie zu osteuropäischen Erinnerungskulturen.


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