Im Westen nichts Neues?

Seit dem 24. Februar 2022 steht die Welt Kopf – zumindest für den Westen, der sich in seinen liberal-demokratischen Werten bedroht sieht. Es scheint, als hätte sich in den letzten Jahren eine Achse zu neuem Selbstbewusstsein heraufgeschwungen: Russland gegenüber der Ukraine, China gegenüber Taiwan, Aserbaidschan gegenüber Armenien, und viele mehr. All diesen Fällen scheint gemeinsam zu sein, dass pro-westliche, demokratie-freundlichere Staaten zu Opfern eines globalen Trends werden, den man als Multipolarisierung beschreiben könnte – weg von der globalen Hegemonie der USA. Dazu reden wir mit der ehemaligen ARD-Moskau-Korrespondentin Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz.


unique: Am 24. Februar 2022 ist die Ukraine von Russland angegriffen worden. Eigentlich gab es aber schon vorher kriegerische Konflikte im Osten der Ukraine. Was rechtfertigt denn die öffentliche Wahrnehmung, dass der Krieg erst im Februar dieses Jahres heiß geworden sei?

Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz: Ja, Sie haben Recht. Menschen in Donezk und Lugansk hatten bereits seit 2014 Krieg oder kriegsähnliche Zustände in ihren Wohngebieten. Den Separatisten in der Ostukraine begegnete Kiew mit einer
sogenannten ‚Antiterror-Operation‘, während Russland die Aufständischen unterstützte. Es gehört zur Wahrheit, darauf hinzuweisen, dass Russland diese Situation politisch genutzt, aber nicht initiiert hat. Die Ursachen für die Bestrebungen nach mehr Autonomie waren jedenfalls innerukrainische. Die chronologischen Einzelheiten dazu habe ich in meinen Büchern ausführlich beschrieben. Die Wahrnehmung, dass der Krieg erst am 24. Februar – wie Sie sagen – „heiß“ geworden ist, liegt wohl daran, dass an diesem Tag die russische Armee die Ukraine als Ganzes angegriffen hat und uns dadurch der Krieg näherkam. Kriege in anderen Teilen der Welt beschäftigen uns eher weniger. Um gleich zu Beginn Missverständnissen vorzubeugen: Ich verurteile den russischen Einmarsch ohne Wenn und Aber. Gleichzeitig halte ich es für gefährlich, sich durch diese Katastrophe den klaren Blick auf diverse Vorgeschichten vernebeln zu lassen.

Häufig wird auf Seiten der Friedensbewegung von berechtigten geostrategischen Interessen Russlands gesprochen, welches sich durch eine Nato-Osterweiterung bedroht fühlt und fühlen dürfe. Meistens wird dann betont, dass dies keine Rechtfertigung, sondern eine Erklärung sei und dass außerhalb Europas ‚harte materielle Interessen‘ von ‚ideologischer Schönfärberei‘ verschont blieben. Nichtsdestotrotz erlebten wir in den letzten 30 Jahren, die von einer technokratischen Politik geprägt waren, dass ideologische Rechtfertigungen für technokratische Entscheidungen immer wichtiger geworden sind. Entpolitisierung ist in dieser Hinsicht nicht primär ein Problem westlicher Bevölkerungen, sondern ein Problem ihrer politischen Eliten, sodass viele schon von einer einfachen Richtungsänderung durch Wahlen überrascht worden sind, wie z.B. bei Trump oder dem Brexit. Nehmen wir an, Technokratie ist eine Abwehr gegen das Politische, insofern letzteres etwas ist, das eine Idee oder Vision durchsetzt, was notwendigerweise polarisierend und gewaltsam erscheinen muss. Ist dann nicht das Argument der Geopolitik eines, das ebenso unter diese Abwehr fällt, insofern die radikale Verantwortlichkeit, die mit dem Politischen einhergeht, an äußere Faktoren abgegeben wird? Je nachdem, wie Sie zu dieser Einordnung stehen, was bedeutet Ihre Schlussfolgerung dann für die Friedensbewegung, die sich, wie eingangs behauptet, häufig auf dem Argument der Geopolitik ausruht?

Man muss kein Mitglied der Friedensbewegung sein, um von berechtigten geostrategischen Interessen Russlands zu sprechen. Fernab von Ideologie oder Moral kommt man an der Erkenntnis nicht vorbei, dass jedes Land ein Recht auf Sicherheit hat. In diversen internationalen Verträgen (Istanbul 1999, Astana 2004) ist sogar festgeschrieben, dass die Sicherheit des einen nicht zu Lasten der Sicherheit des anderen gehen darf. Warum ist es dann so schwer, an einer europäischen Sicherheitsarchitektur zu arbeiten, die Russland miteinbezieht? Egon Bahr, ein Entspannungspolitiker der ersten Stunde, hat einmal gesagt: „Wir können politisch allesmögliche ändern – nur nicht die Geografie.“ Insofern wäre die Idee eines europäischen Hauses, die vom kürzlich verstorbenen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow mit Nachdruck und unter größten Risiken für sich und sein Land betrieben wurde, die richtige Lösung gewesen. Ich glaube übrigens nicht, dass es die politischen Ideen oder Visionen sind, die notwendigerweise zu einer Polarisierung führen. Es ist die Radikalisierung, die durch die Ideologisierung und moralische Aufladung von Themen entsteht. Dann geht es nicht mehr um die Sache als solche.

Die Ukraine, wie von Wladimir Putin oft wiederholt, sei eine Erfindung Russlands – genauer gesagt Lenins – gewesen, was seiner Meinung nach eine schlechte Entscheidung war. Können Sie kurz zusammenfassen, was Lenins Gedanke dabei war?

Wenn Sie gestatten, werde ich mich jetzt nicht mit Gedanken Lenins aufhalten, sondern versuchen der Frage nachzugehen, was es mit „der“ Ukraine auf sich hat. Selbst innerhalb des Landes ist das Thema umstritten. Wichtig zu wissen, scheint mir, dass das Gebiet der heutigen Ukraine nie ausschließlich von Menschen bewohnt wurde, die sich als Ukrainer begriffen. Aufgrund seiner geografischen Lage und seiner wechselvollen Geschichte gab es dort immer starke ethnische und auch religiöse Minderheiten, seien es Russen, Polen, Deutsche, Rumänen, Tschechen oder Juden und Muslime. Als die Sowjetunion entstand, existierte eine Westukrainische Volksrepublik (auf dem ehemals habsburgischen Territorium nach dem Zusammenbruch von Österreich-Ungarn) und eine Ukrainische Volksrepublik (aus der Konkursmasse des Russischen Reiches). Beide Republiken wurden in dieser Zeit sowohl von der im Entstehen begriffenen Sowjetunion als auch von Ländern wie Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei bedrängt. Der größere Teil der heutigen Ukraine wurde dann im Dezember 1922 zur Sowjetrepublik. Die Ukraine, wie wir sie heute kennen, existiert seit 1991. Ein Problem der ukrainischen Identität besteht darin, dass der Ukraine – wie ich neulich treffend formuliert in einem Artikel gelesen habe – „eine historische Kontinuität der Staatlichkeit fehlt“. Die vielfältigen Zugehörigkeiten und damit verbundenen vielfältigen Beziehungen zu wechselnden Nachbarstaaten machen es einfach hochgradig kompliziert. Das hat ja nichts damit zu tun, der Ukraine ihr Existenzrecht abzusprechen. Die Dinge sind nur nicht so holzschnittartig, wie sie hin und wieder in politischen Auseinandersetzungen zu sein scheinen.

Das Paradoxe: Seit 2015 verfolgt die ukrainische Politik eine ‚Dekommunisierung der Ukraine‘, um alle übriggebliebenen Flecken der Sowjet-Geschichte auszumerzen, und bereits 2013 haben Kiewer Demonstranten eine Lenin-Statue gestürzt, um ein Zeichen gegen die russlandfreundliche Politik des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu setzen. Putin selbst machte vor dem 24. Februar die ironische Bemerkung mit Blick auf die Ukraine: „Ihr wollt Dekommunisierung? Das passt uns gut!“ Damit ist die Revision der Leninschen Entscheidung gemeint und damit die Revision der Existenz der Ukraine. Wie erklären Sie sich diese paradoxe Übereinstimmung der russischen und ukrainischen Agenda? Handelt es sich hier um einen zynischen Zufall oder liegt darin eine Notwendigkeit?

Zynischer Zufall oder Notwendigkeit, was immer – es gibt ja nicht nur die Wahl zwischen zwei Extremen: einerseits der Ukraine ihr Existenzrecht abzusprechen und andererseits so zu tun, als handele es sich um einen monolithischen Block ohne Fliehkräfte. Ich bleibe dabei, wenn in der Ukraine eine Dezentralisierung gelungen wäre, die den historischen Entwicklungen Rechnung getragen hätte und dieses Land seine Rolle als Brücke zwischen Ost und West hätte spielen können – es wäre sicher nicht zum Schaden der Ukraine gewesen. Ganz im Gegenteil. Russlandfreundliche Politik einzelner ukrainischer Präsidenten hatte im Übrigen nicht im Entferntesten mit kommunistischer Nostalgie zu tun, sondern schlicht mit tatsächlich vorhandenen wirtschaftlichen und anderen Verflechtungen. Janukowitsch hat wie einige seiner Vorgänger auch eine Art Schaukelpolitik verfolgt, um das Beste für sein Land herauszuholen. Dass er 2013 im letzten Augenblick das EU-Assoziierungsabkommen nicht unterschrieben hat, hatte ja keine ideologischen Gründe, sondern ganz handfeste materielle. Die EU konnte/wollte der Ukraine nicht die Mittel zur Verfügung stellen, die Russland geboten hat. Vielleicht sollte man sich vergegenwärtigen, dass Russland die Westorientierung der Ukraine erst angegriffen hat, als sie begann, jegliche Ostorientierung auszuschließen. Erst dann. Was für eine vertane Chance! In erster Linie für die Ukraine.

Es ist bereits Anfang April von der Journalistin Anna Aridzanjan, die vor allem zum südlichen Kaukasus publiziert, die Parallele gezogen worden, dass Russland „fast 1:1 Alijews Krieg in Bergkarabach 2020 kopiert“. Ihre lange Vergleichsliste beinhaltet unter anderem die Blockade von Fluchtwegen, den Einsatz von Söldnern und Bombardierungen von Kultureinrichtungen. Können Sie diesem Vergleich etwas abgewinnen?

Offen gestanden – nein. Ich bin immer sehr vorsichtig mit Vergleichen dieser Art. Ich kenne die Publikation nicht, aber ich frage mich, wozu soll das gut sein? Was ist der Erkenntnisgewinn, der sich in eine politische Strategie ummünzen ließe? Zudem widerstrebt es mir, das Verhältnis zwischen Azerbaidschan und Bergkarabach einerseits und zwischen Russland und der Ukraine andererseits auf diese Weise in Verbindung zu bringen, außer dass es in beiden Fällen ein hochkompliziertes Verhältnis ist. – Wie gesagt, ich kenne die Publikation nicht.

Westliche Sanktionen schaden mehr und mehr westlichen Staaten selbst, deren Bevölkerung einen wirtschaftlich katastrophalen Winter erleben wird. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Pape erklärte bereits 1997 – nach den Embargo-Erfahrungen mit dem Irak unter Saddam Hussein, gegen Kuba, Serbien uvm. –, dass Wirtschaftssanktionen prinzipiell ihr Ziel verfehlen. Politische Strategen wissen darum – was treibt dann den Westen weiterhin zu solch einer Politik? Wie ließe sich Russland alternativ zur Verantwortung ziehen?

In der Tat, Sanktionen haben meines Wissens noch nie funktioniert. Sie sind Symbolpolitik, die sich zu allem Überfluss auch noch kontraproduktiv auswirkt. Sanktionierte Staaten neigen dazu, nach innen autoritärer und nicht offener zu werden. Und die Kriegsgefahr steigt eher. Solche Entwicklungen können nicht ernsthaft im Interesse der Sanktionierenden sein, ganz davon abgesehen, dass die Russland-Sanktionen unserem eigenen Land massiv schaden. Ich habe neulich in einem Artikel von Heinz Gärtner, Professor für Politikwissenschaft und Mitglied des Advisory Board des International Institut for Peace, ein, wie ich finde, überzeugendes Beispiel gelesen. Gärtner vergleicht die Situation Deutschlands nach dem Ende der beiden Weltkriege. Während Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg mit hohen Reparationsforderungen belegt und durch den Versailler Vertrag hart sanktioniert wurde, bekam (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Unterstützung, u.a. in Form des Marshall-Plans. Was daraus geworden ist, wissen wir alle: Nach dem Ersten Weltkrieg eine politische Radikalisierung, die zu Hitler und zum Dritten Reich führte; nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Wirtschaftswunder und Demokratisierung. Ich will das jetzt um Himmels Willen nicht eins zu eins vergleichen, aber der gängigen Lesart etwas entgegensetzen, nach der man Sanktionen nur scharf und lange genug durchhalten muss, um politisch etwas Positives zu bewirken. Das ist eine Illusion. Und das ist das große Problem: Die schmerzliche Erkenntnis der Hilflosigkeit einer solchen Situation gegenüber. Deswegen ist die Prophylaxe so elementar. Dramatischen Entwicklungen vorzubeugen durch weitsichtige intelligente Politik – das ist das Entscheidende. Es hat überhaupt nichts damit zu tun, Russlands Rolle in irgendeiner Weise zu beschönigen, aber eben diese intelligente weitsichtige Politik hat auf westlicher Seite nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gefehlt. Oder anders ausgedrückt, diejenigen, die sie verfolgen wollten, konnten sich nicht durchsetzen. Ich würde in dem Zusammenhang gerne die Heuchelei ansprechen, die z.B. darin besteht, dass „der Westen“ überhaupt nicht daran denkt, Aserbaidschan zu sanktionieren, obwohl dieses Land jetzt Armenien angegriffen hat, nicht nur die umstrittene Enklave Bergkarabach, sondern zum ersten Mal das Kernland Armenien mit hundert Toten auf armenischer Seite. Im Gegenteil, Aserbaidschan ist Anfang Oktober sogar zum großen Europagipfel nach Prag eingeladen worden. Aber man kann es sich ja nicht gleichzeitig mit allen Gaslieferanten verderben… Ich denke, es ist angebracht, um die beste politische Lösung zu streiten und dabei alles auf den Tisch zu legen, was helfen könnte, ohne bestimmte Überlegungen von vornherein für undiskutabel zu erklären. Zivilisierter Streit, der auf Fakten basiert – das zeichnet funktionierende Demokratien aus.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Dennis Pieter.


Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz promovierte in Geschichte und Politischen Wissenschaften. Seit 1976 ist sie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätig und war von 1987–1991 als erste Frau ARD-Moskau-Korrespondentin, wo sie ebenfalls als erste Frau Michail Gorbatschow interviewen konnte. Seitdem arbeitet sie als freie Journalistin und setzt sich für bessere deutsch-russische Beziehungen ein. In den Medien gilt sie als umstrittene Person und wurde bereits 2014 u.a. “Putin-Versteherin” genannt.


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