Aus der Geschichte ist nichts zu lernen

Der absolut-idealistische Philosoph G.W.F. Hegel hielt gegen die seinerzeit vorherrschende Romantik, dass ein ewiger Friede katastrophal wäre. Sein Argument geht davon aus, dass der Mensch nicht aus der Geschichte lernt, weil es nichts aus ihr zu lernen gibt. Jede historische Situation ist einzigartig. Doch was bedeutet das für einen modernen Pazifismus?

von Dennis Pieter


Wem sollte man als deutscher Bildungsbürger eher vertrauen als Immanuel Kant? In seinem romantisch angehauchten Text Zum ewigen Frieden heißt es:

Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und, indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden […].

Kant, Zum ewigen Frieden

Der Fraktion ‚si vis pacem, para bellum‘ ließe sich allein mit dieser recht einfachen Logik entgegnen: Da Waffen per definitionem keine Werkzeuge des Friedens seien, sollte man sie abschaffen. Diese Haltung ist aber reichlich naiv, denn nicht nur wusste jeder erfolgreiche Kolonialist, dass Waffen eben doch Werkzeuge des Friedens sein können, sondern auch zahlreiche revolutionäre Befreiungsarmeen. Mein Punkt ist eher, dass sowohl diese ‚Aufrüstungs-, weil Friedensbefürworter‘ als auch Kants Utopie eines ewigen Friedens in eine Falle tappen. Sie gehen beide davon aus, dass Frieden per se gut sei bzw. dass die Verbannung des Krieges aus der zukünftigen Geschichte nicht selbst problematische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Krieg, so der viel vertrauenswürdigere deutsche Philosoph Georg W. F. Hegel, ist ein Phänomen desjenigen Zeitalters, das mit dem Auftauchen des sogenannten „ausschließenden Eigentums“ entstanden ist, womit der Übergang von Jäger- und Sammler-Kulturen zu Ackerbau- und Viehzucht-Kulturen vor über 10.000 Jahren gemeint ist. Nach Hegel zieht das ausschließende Eigentum sozialpsychologische Konsequenzen nach sich. Denn wo Jäger und Sammler noch Nomaden waren, um mit den Unsicherheiten der Umwelt umgehen zu können, bot die Sesshaftwerdung ebenjene Sicherheit, die es erlaubte, feste Gewohnheiten zu etablieren.

Der Garant der Freiheit

Nur hier beginnt die Krux für Hegel: Gewohnheit enthält zwei Seiten, einerseits die Wiederholung einer bzw. Unterwerfung unter eine Struktur, andererseits gehen auch neue Freiheiten mit einer automatisierten Wiederholung einher – die Freiheit, sich auf anderes konzentrieren zu können. Gewohnheit ist nach dem Philosophen für praktisch alles konstitutiv: Für das Nach-Links-Swipen bei Tinder, für Smalltalk, aber auch für das Sehen und sogar Denken! Ein ewiger Friede, wie Kant ihn vorschlägt, würde aber ewige Wiederholung der Gewohnheiten bedeuten, da nichts Gravierendes dazu dränge, die Gewohnheiten zu ändern. Ewige Wiederholung hieße aber eine Entleerung der Gewohnheiten und des damit einhergehenden gesellschaftlichen Bedeutungsfeldes. Eine ewig wiederholte Gewohnheit entleert nicht nur seinen eigenen Inhalt, sondern ebenfalls das Wissen darüber, dass diese Gewohnheit ja eine endliche ist, also irgendwann einmal entstanden ist und auch wieder untergehen könnte. „There is no alternative!“, wie die ehemalige Premierministerin Großbritanniens Margaret Thatcher sagte und noch in einer perfiden Kampagne alleinerziehenden Müttern alles Schlechte der Gesellschaft unterschob. Die „sittliche Funktion des Krieges“, wie Hegel es ausdrückte, ist es, diesem Schein von Alternativlosigkeit ein Ende zu setzen. Wenn bestimmte Gewohnheiten als Unendliches und daher Notwendiges gesehen werden, dann ist es nicht nur zum Kolonialismus kein weiter Weg mehr – denn als alternativlos erscheinende Gewohnheiten gilt es doch zu exportieren! Solche Gewohnheiten verlieren jegliche Bestimmung. Bestimmung bedeutet bei Hegel sowohl Begrenzung als auch Zielsetzung. Das bedeutet aber, dass eine Gesellschaft, die nicht mehr um die Endlichkeit ihrer Gewohnheiten weiß, nicht nur gewalttätig ist – und quasi nach Krieg schreit –, sondern auch interessenlos, zu antriebslos, um noch substanzielle gesellschaftliche Projekte zu verfolgen. Und sagen uns nicht die Statistiken bereits, dass wir in einer solchen Gesellschaft gerade leben? Über 60% der Deutschen trauen momentan keiner Partei zu, die Probleme unserer Zeit anzugehen, die Vereinstätigkeit nimmt seit Jahrzehnten ab. In den Sozial- und Geisteswissenschaften gab es – so bekomme ich sehr oft zu hören – seit geraumer Zeit keine großen Würfe mehr, keine Ideen, die eine Masse zu bewegen imstande wären. Für Hegel ist die gewohnheitsmäßige Verknöcherung eines Staates und die damit einhergehende Ideenlosigkeit also kein Zufall – genauso wenig wie der Krieg zufällig passiert, obschon der konkrete Anlass zufällig sein kann. Krieg und Frieden bedingen einander! Die größte Gefahr für Hegel wäre nicht ein brutaler Krieg, sondern ein ewiger Frieden, weil eine ewige Wiederholung einer Gewohnheit das Denken abschaffen würde, mithin das, was den Menschen zum Menschen macht. Für Hegel ist eine lebendige Gesellschaft das, was sich zwischen zwei Kriegen entwickelt. Es ist für ihn logisch unmöglich, eine Gesellschaft zu schaffen, die den Krieg nicht kennt, da das Gesellige an einer Gesellschaft genau durch ihre Lebendigkeit definiert ist, und diese Lebendigkeit auf den stets gefährlichen und unberechenbaren Exzess der Gewalt zwischen Staaten und zwischen Menschen angewiesen ist.


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