Das gebrochene Versprechen – Die Linke, der Zynismus und der Ukrainekrieg

Die Geschichte der deutschen Friedensbewegung reicht bis in die 1980er Jahre hinein. Mittlerweile nähert sie sich rechten und verschwörungstheoretischen Szenen an. Unser Gastautor analysiert die ideologischen Sackgassen einer enttäuschten Bewegung.

von Nils Richber


Wenige Tage nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine erschien die Märzausgabe der linken Monatszeitschrift konkret. Der Redaktionsschluss lag offenkundig ein Stück in der Vergangenheit, denn das Titelblatt lässt sich, kaum dass die Tinte getrocknet ist, bereits als ‚schlecht gealtert‘ bezeichnen: Unter dem Titel „Go East! Die Nato-Aggression gegen Russland“ prangt illustrierend ein zum Fadenkreuz stilisiertes NATO-Logo über einer Russland abbildenden Landkarte.

Man könnte sagen: Hier wurde spektakulär danebengehauen – aber präzise, exakt daneben. Ort und Zeitpunkt stimmen genau, aber der Film ist doch der falsche. ‚Exakt daneben‘ – in der Psychoanalyse heißt so etwas ‚Fehlleistung‘. Eine Fehlleistung – entsprechend der Zusammensetzung aus ‚Fehler‘ und ‚Leistung‘ – ist nicht einfach ein zufälliges Missgeschick. Sie ist symptomatisch; sie enthüllt eine unbewusste Logik in dem kritischen Augenblick, in dem sie an der bewusst wahrgenommenen Realität aneckt. Die Frage, die ich hier stellen möchte, lautet: Wofür ist diese Art Fehlleistung ein Symptom?

Einen Hinweis darauf gibt Sigmund Freud in seinem Text Zeitgemäßes über Krieg und Tod, mit dem er sich dem kulturellen Trauma des ersten Weltkrieges zu stellen versucht. Ein Knotenpunkt dieses Textes ist die Deutung eines grassierenden Gefühls der Enttäuschung: ob der gebrochenen Versprechen von Fortschritt und Aufklärung, die der mörderische und scheinbar so plötzlich seine Verheerungen entfesselnde Krieg als bloße Fassade erwiesen zu haben schien. Streng genommen, so schlussfolgert Freud aus seinen eigenen Überlegungen, sei diese Enttäuschung allerdings nicht berechtigt. Denn sie beruhe auf der Illusion, Fortschritt und Aufklärung wären im Begriff, die Barbarei zu überwinden; stattdessen aber hat die Kultur sie aus sich selbst heraus noch einmal hervorgebracht – was man hätte wissen können, hätte man sich nicht blind gemacht gegen die Gewalt, die zur Aufrechterhaltung derselben Zivilisation tagtäglich zum Einsatz kommt: der gegen andere und gegen sich selbst gerichtete Zwang.

Diese Lektion hat man in der politischen Linken anscheinend sehr gut gelernt – denn bewährt sich nicht das alltägliche Linkssein heute oft im Fortreißen des Schleiers der Zivilisation in all seinen Gestalten? Besteht nicht die Geste des (Pseudo-)Radikalismus darin, die barbarische Wirklichkeit dahinter zuverlässig zum Vorschein zu bringen? Im Versuch, der Enttäuschung von der Schippe zu springen, zu den Nicht-Getäuschten zu gehören, wird hier eine Flucht nach vorn angetreten, bei der man nicht länger fürchtet, enttäuscht zu werden, sondern zu einem „Einverständnis mit der Enttäuschung“ gelangt, das nach der Einsicht des Religionsphilosophen Klaus Heinrich die Resignation erst zum eigentlichen Zynismus macht. Mehr noch: Man hat es verstanden, die Enttäuschung in einen Triumph über die Täuschung umzukehren, aus der sich gar eine Lust an der Desillusion gewinnen lässt. Das Trauma der Enttäuschung wird als Sich-nicht-täuschen-Lassen zur Bedingung eines Genießens. Davor warnte der Psychoanalytiker Jacques Lacan, als er Freuds Urteil über die Enttäuschung durch den Hinweis auf die Vergeblichkeit des Versuchs ergänzte, sie präventiv in den Griff zu bekommen: „les non-dupes errent“, die Nicht-Getäuschten irren.

Das für die Linke ausschlaggebende Trauma der Enttäuschung ist nicht ohne Beziehung zur Katastrophe des selbstherrlichen Bürgertums, wie sie sich im ersten Weltkrieg manifestierte. Denn auch die Linke hat es mit einem Verlust von Fortschritts- und Zukunftsoptimismus zu tun. Der historische Untergang des real existierenden Sozialismus, in dessen Folge sich auch immer schlechter überspielen ließ, wie wenig es bei diesem wirklich um Befreiung gegangen war, musste das Vertrauen fundamental erschüttern, das Fidel Castro noch beschwor: Nein, die Geschichte hat die Linke nicht freigesprochen. Der Verlust einer konkreten historischen Verwirklichungsperspektive ihrer wie auch immer vagen Hoffnung auf Befreiung von der Misere kapitalistischer Vergesellschaftung in globalem Maßstab zwang die Linke in eine Position der Ohnmacht und Unglaubwürdigkeit. Im Wesentlichen sitzt sie dort noch heute fest – ohne den Enthusiasmus eines zur Wirklichkeit drängenden Gedankens. Das Läppische, das dem Massenbewegungs-Pathos der 1.-Mai-Demos anhaftet, zeugt davon. Im Grunde weiß man sich auf verlorenem Posten und die Kränkung, von der einstmaligen Rolle der Avantgarde des Fortschritts auf die von Statisten im bürgerlichen Betrieb relegiert worden zu sein, sitzt tief. Der Hass auf den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft wird um das utopische Selbstbewusstsein verkürzt, zu deren vollendender Überwindung berufen zu sein. Wo man sich also nicht mit der verkitschten Folklore begnügt, auf die der proletarische Revolutionsenthusiasmus heruntergekommen ist, übt man eine Art von Kritik, die ihre Leidenschaft aus dem Ressentiment enterbter Kinder des Bürgertums bezieht – ein Ressentiment, das sie in unvorhergesehene Allianzen mit dem traditionell bespöttelten, von Deklassierungsängsten umgetriebenen Kleinbürgertum treibt. Die Enttäuschung, der Versprechungen des Kapitalismus – des kommunistischen Utopia – nicht teilhaftig geworden zu sein, wirkt als unbetrauerter Kern der Furie des Entlarvens enttäuschender Wirklichkeit: Vom linken Emanzipationsanspruch ist bei vielen nicht viel mehr übriggeblieben, als die mit ohnmächtiger Verbitterung gehütete Gewissheit, die Lügen des kapitalistischen Westens zu durchschauen. Die Kronjuwelen der materialistischen Aufklärung, die Kritik der politischen Ökonomie im Anschluss an Karl Marx und die aufklärerische Tradition des abendländischen Denkens werden unter den Bedingungen von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht durch begriffliches Katzengold ersetzt: Man übt sich darin, das wirre Strauchwerk der Ideologie auf die Elementartatsachen des Interesses und der Macht herunterzubrechen, von denen man mal mehr, mal minder verhohlen lustvoll betont, wie knallhart, handfest und erbarmungslos sie sind. Sie mögen zwar unerfreulich, gewalttätig und gemein sein, aber immerhin darf man sich von ihnen doch wohl ein stabiles, enttäuschungsfest und krisensicher gebautes Weltbild versprechen – eine Mentalität, wie sie sich in noch kruderer Form etwa bei den Preppern findet. Man tröstet sich dann damit, recht bequem und ohne große Verrenkungen an die utilitaristischen Denkgewohnheiten von VWL und Alltagsverstand anknüpfen zu können und schmeichelt sich zusätzlich damit, der ungeschönten Wahrheit der so funktionierenden Welt ohne die Palliativa bürgerlicher Sentimentalität ins Angesicht schauen zu können. Einmal mehr beansprucht die Linke, der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigene Wahrheit zurückzugeben – nun nicht mehr aus der Position des Revolutionärs, sondern aus der des Trolls.

Aus dem Bedürfnis heraus, zu den Bescheidwissenden, Nicht-Getäuschten zu gehören, führt man einen Feldzug gegen die vermeintlichen Illusionen, Einseitigkeiten und Naivitäten und begradigt dabei alle Ambivalenzen. Man ‚fragt kritisch nach‘, gibt sich aber selber die Antwort. Die Wirklichkeit soll wirklich so enttäuschend sein, wie man sich selbst von ihr enttäuscht fühlt. Gehandelt wird allein in der harten Währung von Machtkalkül und Partikularinteresse, die man immer schon als Wahrheit der ‚westlichen Propaganda´ entschlüsselt zu haben meint.

Thomas von der Osten-Sacken hat dagegen kürzlich in einer Analyse des Kontinuums zwischen diesen Zerfallsprodukten kritischen Denkens und der antiwestlichen Propaganda im Putinschen Neofaschismus an Marx‘ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft erinnert. In dieser geht es nicht etwa darum, diese würde fadenscheinige Gründe vorschieben, die ihre eigentliche kapitalistische Agenda verschleierten, sondern um die „zwangsnotwendige Differenz von Anspruch und Wirklichkeit“ – darum, dass das Bürgertum politische Emanzipationsansprüche formuliert, die es auf Basis des Kapitalismus nicht fähig ist, sozial auch einzulösen. Diese Ansprüche, die auch in der westlich orientierten ukrainischen Nationalbewegung wiederkehren – wie liberté, égalité, fraternité, wie wie die Freiheit zur individuellen Selbstbestimmung, wie die Rechte der Menschen auch gegen ihre Staaten, auch gegen die Mehrheit der ‚eigenen‘ Gruppe – werden jedoch von einer Linken, die selbst an ihnen gescheitert ist, kurzerhand zu nichts als lästigem Blendwerk erklärt.

Damit erweist sich diese Linke aber als Kind der Postmoderne, in die auch Putin mit seiner postliberalen Parole von der „multipolaren Weltordnung“ bestens integriert ist: In einer Welt, in der jeder Anflug eines politischen Universalismus und jeder Glaube an die Möglichkeit, dass es anders sein könnte, als totalitärer Wahn verschrien sind, ist es kein Wunder, dass jemand wie Putin als eine Art machiavellistischer Patron der pragmatischen Vernunft wahrgenommen wird, dessen Kalküle ja immerhin nachvollziehbar seien; der Westen dagegen, der womöglich trotz des Schwindens seiner Vormachtstellung noch irre genug ist, seine eigenen Propagandalügen zu glauben, gilt als unberechenbar und im Zweifel zu allem bereit. Wenn man es mit Carl Schmitts Weisheit hält, wer Menschheit sagt, wolle betrügen, der kann schon auf den Gedanken kommen, wer sich nicht einmal mehr die Mühe macht, Menschheit zu sagen, halte es darum schon mit der Wahrheit. Wenn es daher an die Kritik des Westens geht – v.a. der USA –, scheinen oft weniger die tatsächlich stattfindenden Gräuel das zu sein, woran man sich stört, als die lästigen Ideale, mit denen sie bemäntelt werden. Sie ziehen leidenschaftlichere Wut auf sich, als es die Fassbomben in Syrien je konnten, die ja nicht im Namen von Demokratie und Menschenrechten gefallen sind.

Diese Leidenschaft der Enttäuschung und das eigentümliche Affektmuster, das sie hervorbringt, strafen die Rede vom eiskalten Interessenkalkül ebenso lügen, wie die ostentativ nüchternen Unparteilichkeitsbekundungen: Freuds Einsicht, derzufolge die „Völker“ sich vor allem auf ihre Interessen berufen, „um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können“, behält Gültigkeit. Denn wie sonst sollte sich erklären, dass diejenigen, die gewohnt sind, alles auf Kategorien des Interesses zurückzuführen und sich mithin Äquidistanz gegenüber „allen Imperialisten“ zugutehalten, ihr eigenes kritisches Interesse so ungleich verteilen? Woher kommt die hier aus Platzgründen nicht darstellbare, aber an Beispielen reiche Beflissenheit, die Widerständigkeit in der ukrainischen Gesellschaft als bloß eine weitere von den weltherrschaftslüsternen USA geschnürte Mogelpackung zu entlarven? Woher das gleichzeitig flagrante Desinteresse an den konkreten Verhältnissen im Einflussbereich des russischen Neofaschismus? Ist es Zufall, dass eine solche Linke dann doch recht häufig ihre gemeinsamen Interessen mit jemandem wie Putin entdeckt und sich das auch in ihren Desinteressen niederschlägt? Zur Konsolidierung dieser Interessenallianz versteht es Putin, die uneingestandene melancholische Identifizierung mit dem verlorenen Sowjetreich auch für Linke ansprechend zu bebildern, ungeachtet seiner geistigen Wurzeln in der antibolschewistischen Tradition der „weißen Bewegung“.

Diese Tragik reicht bis in die Gegenwart: Denn dasselbe Versprechen lebt bei denen weiter, die von dem Bürgertum, das es ausgegeben hat, nie so recht mitgemeint waren. Was der Autor Lars Quadfasel in der eingangs erwähnten konkret über die ideologischen Verhältnisse in den USA schreibt, lässt sich in diesem Sinn auch auf das Verhältnis vieler Linker und Friedensbewegter zur ukrainischen Zivilgesellschaft und deren illusorischem ‚europäischen Traum‘ übertragen:

Was nämlich die Rassisten den Schwarzen, den Latinas, den anderen Minderheiten am allerwenigsten verzeihen können, ist nicht deren wie auch immer geartetes Anderssein – es ist die Tatsache, dass sie die letzten sind, die noch an den amerikanischen Traum glauben, an das ungeheure und zugleich ungeheuerlich kompromittierte Versprechen auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Alle entsprechenden Umfragen bestätigen, dass in den USA niemand hoffnungsfroher in die Zukunft schaut, als die Mitglieder einer unterdrückten Minderheit. Weil sie nie wirklich dazugehören durften, haben sie auch keinen Grund, sich enttäuscht abzuwenden – in schroffem Gegensatz zum Nihilismus der Trump-Gefolgschaft, die vom Leben eigentlich nichts mehr erwartet, als dass man es anderen zur Hölle machen kann.

Lars Quadfasel, konkret

Wir, die wir vielleicht enttäuscht und desillusioniert oder gar resigniert sind über der Wirklichkeit von Demokratie und Menschenrechten, europäischen Werten und dem hohldrehenden Freiheitspathos und gleichzeitig beschämt über die relativen Privilegien, die uns in diesem System zuteilwerden und uns zu seinen Komplizen machen, müssen uns aber fragen, ob wir uns gemeint fühlen von den Menschen, die ihre Hoffnungen genau in diese Illusionen setzen und ob es eine Perspektive gibt, für die es sich trotz des Risikos der Enttäuschung zu kämpfen und ein Bündnis zu bilden lohnt – oder ob wir unseren Kompromiss-Frieden mit den sich rasch verschlechternden Verhältnissen machen wollen, wie sie halt unabänderlich herrschen, möglichst schauen, dabei nicht zu kurz zu kommen und uns darüber schadlos halten, indem wir uns über die vermeintlich naiv Gebliebenen erheben, die wir gleichzeitig heimlich um ihre Naivität beneiden. In letzterem Fall bliebe allerdings zu fragen: Wenn das die Linke ist, wer braucht da noch eine Rechte?


Nils Richber studierte Sozial-/Kulturwissenschaften, sowie Philosophie in Leipzig und Religionsphilosophie in Frankfurt am Main. Dort arbeitet er an einem Promotionsprojekt zu einer religionsphilosophisch reflektierten Formkritik kapitalistischer Vergesellschaftung. Er lebt derzeit in Marburg.

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