Geschlechtsbilder und -verwandlungen

© Andrew Lang

Viele traditionelle Märchen thematisieren implizit die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und variieren darin je nach Überlieferung zwischen der Erniedrigung der Frau und ihrer aktiven Selbstbehauptung.

von Ladyna

Für die meisten von uns waren Märchen ein Teil unserer Kindheit. Wir haben uns von der Stimme unserer Eltern und Großeltern in diese Parallelwelt mit ihren ganz eigenen Regeln, schwarz-weiß Moralvorstellungen und klaren Rollenbildern mitnehmen lassen. Auch wenn wir wohl eher von der Magie, den fantastischen Wesen und den Helden fasziniert waren als die Beziehungen zwischen den Figuren und die Charakterzuschreibungen zu hinterfragen, ist gerade das Verhältnis von Mann und Frau eines der dominantesten Themen im Märchen. In etwa vier Fünftel aller Grimm‘schen Märchen steht die Paarbeziehung im Vordergrund. Die im Turm zur Passivität verurteilte Rapunzel wird vom strahlenden Helden gerettet, Rotkäppchen kann dem verschlagenen Wolf nichts entgegensetzen und der, der auszog, das fürchten zu lernen gruselt sich erst, als die Prinzessin nachts auf ihn kippt. Die Frau taucht primär als böse Stiefmutter oder verhuschte Prinzessin auf, welche als Trophäe am Ende des Märchens dem Prinzen zur Frau gegeben wird. Diese Rollenzuschreibung geht mit einer unterschiedlichen Bewertung von Eigenschaften einher: beim Mann ist Neugierde das Rüstzeug des Abenteurers, bei der Frau eine Zügellosigkeit, die Regelübertretung und Bestrafung nach sich zieht. Konflikte können dabei nicht nur durch das Handeln eines Partners zu Stande kommen. Auch die Ehe selbst kann eine Normwidrigkeiten darstellen, wenn sie auf Gegensätzen oder Ungleichheiten der Partner gegründet ist und die „Herrschaftsverhältnisse“ nicht im Gleichgewicht sind. Umgekehrte Rollenverteilungen werden sanktioniert, beim „Fischer und seiner Frau“ führt die Habgier der Frau, die männliche Herrschaftsansprüche verfolgt, auch zur Bestrafung des Mannes, da dieser seiner gesellschaftlich-erwarteten Rolle nicht nachkommt und ihr keinen Einhalt gebietet. Das anmaßende Verhalten, für das auch die Frau bestraft wird.

Abweichungen von den patriarchalischen Rollenzuweisungen werden im europäischen Zaubermärchen sanktioniert. Bei König Drosselbart wird die selbstbewusste Königstochter, die Heiratskandidaten ablehnt, systematisch erniedrigt und gezwungen, sich in das Schema der tugendhaften und unterwürfigen Frau einzuordnen, welches die Prinzessin zu Beginn der Geschichte ablehnte. Das Happy-End erscheint nur als solches, weil die Geschichte aus patriarchalischer Perspektive erzählt wird, in der sich der Wert der Frau nur durch den Mann definiert. Eine isländische Variante des Märchens mit dem Namen „Meykóngurinn“ (Der Mädchenkönig), das 1864 von Jón Àrnason, dem berühmtesten isländischen Märchensammler, veröffentlicht wurde, erzählt eine abgewandelte Version desselben Motives. Als die Eltern der Prinzessin versterben, wird sie auf väterlichen Wunsch zur vom Volk respektierten Königin. Der Mädchenkönig weist alle Freier ab, schneidet ihnen Löcher in Frisur und Kleidung, was als tiefgreifende Demütigung der Bewerber zu werten ist. Der Bruder eines der Verspotteten rächt sich, indem er sie in einen magischen Bann zieht und in Armut und Würdelosigkeit treibt. Am Ende heiratet der Mädchenkönig den Bruder ihres Peinigers.

Dass der Mädchenkönig eine männliche Rolle übernommen hat und in dieser auch grundsätzlich respektiert wird, ist insofern kompatibel mit dem Zeitgeist, als dass im mittelalterlichen Island kluge Frauen geschätzt wurden und im mittelalterlichen Europa Herrscherinnen zwar nicht alltäglich, aber bei Nichtverfügbarkeit  männlicher Thronanwärter nicht ausgeschlossen waren. Die Bestrafung der Protagonistin erfolgt hier nicht aufgrund der Übernahme männlicher Macht, sondern aufgrund ihres inakzeptablem Verhaltens gegenüber den Bewerbern.  So wird eine Königin, die charakterliche Mängel aufweist, von einer Herrscherin zur Frau degradiert. Am Ende ist aber auch diese Version von einer männlichen Erzählperspektive geprägt und thematisiert die brutale Erniedrigung der Frau.

Wie diese Abwandlungen ein und derselben Geschichte zeigen sind Märchen keine statischen Konstrukte, sondern werden an die Lebensrealität des jeweiligen Erzählers angepasst. Gleichzeitig werden Elemente früherer Epochen oder anderer Regionen über lange Zeit bewahrt. So tragen Märchen zum Zeitpunkt ihrer Verschriftlichung sowohl vergangene als auch gegenwärtige Elemente in sich. Während die mündliche Überlieferung dabei hauptsächlich in weiblicher Hand lag, wurden Märchen später durch Männer verändert und verschriftlicht. Damit veränderte sich auch die Perspektive auf das Geschlechterverhältnis. Dies lässt sich gut am Beispiel von Rotkäppchen darstellen – dem Grimm’schen Märchen mit dem wohl auffälligsten sexuellen Unterton.

In einer 1885 von Paul Delarue rekonstruierte Version der mündlichen Erzähltradition taucht das Motiv der roten Kappe noch nicht auf. Die Version enthält ausgeprägte kannibalistische und eindeutig sexuelle Elemente – der Wolf tötet die Großmutter und gibt dem Mädchen Fleisch und Blut zu essen. Außerdem fordert er – als Großmutter verkleidet – sie dazu auf, sich auszuziehen, zu ihm ins Bett zu legen und die einzelnen Kleidungsstücke ins Feuer zu werfen, da sie diese nicht mehr brauche. Diese Version kommt ohne männliche Retterfigur aus, die Protagonistin wird selbst aktiv, demonstriert Selbstbehauptung und überlistet den Wolf. Diese aktiv agierende Figur hat wurde im Verlauf der schriftlichen Weiterentwicklung immer mehr zum niedlich-naiven Mädchen. Die männliche Figur ist in der mündlichen Tradition noch von Aggressivität geprägt und triebhaft dargestellt. Sexualität wird hier ebenfalls weniger als Bedrohung, sondern als Teil des Übergangs in Erwachsenenwelt dargestellt. Die von Delarue rekonstruierte Version spiegelt die sexuellen Restriktionen im bäuerlichen Milieu des 17. Jahrhunderts wieder, die  im Vergleich zu  jenen des Bürgertums im 19. Jahrhundert, die von der Grimm’schen Version transportiert werden deutlich geringer waren.

Im Gegensatz dazu stellt Charles Perrault, der 1695 die erste schriftliche Version schuf, keinen brutalen, sondern einen verschlagenen Wolf dar, der seine Absichten verschleiert und äußerst höfliches Verhalten an den Tag legt. Der Wolf fordert Rotkäppchen auf, sich zu entkleiden und zu ihm zu legen. Die Figur des Jägers fehlt, ein Happy End folgt nicht. Rotkäppchen, deren Kopfbedeckung sie als zugehörige der Oberschicht identifiziert, wird durch Niedlichkeit und Naivität charakterisiert. Das Mädchen kann sich nicht gegenüber dem Wolf wehren. Durch die an die Geschichte angehängte Moral tritt der erzieherische Charakter des Märchens in den Vordergrund. Das Märchen soll durch seinen abschreckenden Charakter Aristokratentöchtern Werte der höfischen Ordnung vermitteln. Fügsamkeit und Sittsamkeit werden als die wichtigsten Tugenden der Frau dargestellt.

Die Gebrüder Grimm veröffentlichten ihre Version im ersten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen von 1812. Die Geschichte findet ein gutes Ende, welches in Anlehnung an „Der Wolf und die sieben Geißlein“ konstruiert wurde. Die sexuelle Komponente ist auf Anspielungen reduziert und das Motiv der Nacktheit wird vollkommen ausgeklammert. Stattdessen wird die biedermeierliche Moral des aufstrebenden Bürgertums des 19. Jahrhunderts transportiert, die Frau wurde auf häusliche Tätigkeiten reduziert. Mit dem Jäger wird eine neue Figur eingeführt, der im Gegensatz zum aggressiven Wolf eine väterliche Männlichkeit darstellt und als eigentlicher Held agiert.

Selbst wenn Märchen auf den ersten Blick einen anderen Anschein erwecken, sind sie zutiefst von binären und taditionellen Geschlechtsidentität geprägt. Selbst das Motiv der Geschlechtsumwandlung steht meist nicht für die Selbstbestimmung des Protagonisten, sondern reiht sich in den Kontext anderer märchenhafter Verwandlungen ein: Sie vollzieht sich unter Einwirkung einer magischen Kraft, die entweder bestrafen möchte oder die gesellschaftliche Ordnung wiederherstellen. Es geht nicht um Emanzipation oder Grenzüberschreitung. Märchen trennen in der Regel nicht  zwischen Identität und Rolle einer Person, so dass die Verzauberung nicht eine Kontinuität einer weiblichen Identität im männlichen Körper andeuten will, sondern eine vollständige Transformation zum Mann vorliegt. Im ungarischen Märchen „Tiszabercel“ verkleidet sich die Prinzessin als Soldat und zieht in den Krieg, da der König nur Töchter hat. In diesen vermeintlichen Soldaten verliebt sich die Prinzessin eines anderen Landes. Als diese in der Hochzeitsnacht unzufrieden ist, wird die Protagonistin nach einigen Abenteuern schließlich zum Mann verwandelt. Von Zeitgenossen, die in Rollenbildern verhaftet waren, dürfte dies weniger lesbische Liebesbeziehung, sondern als Konflikt, der sich aus einem Betrug heraus ergibt, gesehen worden sein. Die Verwandlung stellt die gesellschaftliche Ordnung wieder her.

Das Motiv des Transvestismus taucht häufiger auf. Dabei verkleiden sich männliche Figuren meist aus dubiosen Motiven als Frauen (z. B. der Wolf bei Rotkäppchen). Frauen tun dies umgekehrt, um wie in Tiszabercel einem höheren Ziel näher zu kommen. Meist sind solche Heldinnen von hoher Geburt und nutzen den Weg der Verkleidung, um männliche Macht annehmen zu können und so ihre Legitimität und die von außen erschütterte Ordnung wiederherzustellen. Diese Märchen beinhalten immer auch eine Enthüllung des wahren Geschlechts, das jedoch nicht zur Bestrafung der Heldin führt, sondern meist zur Erhöhung ihres sozialen Standes.

Auch wenn Märchen durchaus Aufschluss über die Vorstellung der Beziehung von Mann und Frau in unterschiedlichen Epochen und Schichten geben können, ist die Gefahr einer Überinterpretation immer gegeben. Beispielsweise sagt Erich Fromms Behauptung von 1951, Rotkäppchen sei eine „Erzählung vom Triumpf der männerhassenden Frauen“ wohl mehr über die Angst des Autors vor emanzipatorischen Bewegungen als über das Märchen selbst aus. Die Botschaft, die so aus Märchen gezogen wird, ergibt sich aus einem Zusammenspiel des tatsächlichen Inhalts und der Vorstellungen und Werte des Interpretierenden. Gerade dies verhilft ihnen zu eine gewissen Zeitlosigkeit. Daraus ergibt sich auch ein Anknüpfungspunkt für Eltern, ihren Kindern etwas über die Notwendigkeit, Konzepte zu hinterfragen und in ihren Entstehungskontext einzuordnen, beizubringen. Märchen bieten zum einen einen Blick in die Vergangenheit, zum anderen aber auch die Möglichkeit, über heutige Rollenbilder zu sprechen. In eben dieser Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörer liegt ja immer schon einer der größten Reize des Erzählens.

Wer mehr Artikel wie diesen lesen möchte: Unsere Autorin blogt unter dem Namen Superlocke.


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