Das emanzipierte Deutschland

Seit sechs Jahren lebe ich in Deutschland. Dinge, die für Deutsche normal sind, erscheinen mir fremd. Sind deutsche Frauen „normal“? Aus meiner Sicht sind sie anders.

von Roman Gherman

Ich beobachte gern Menschen. Einfach so, ohne Grund. Die meisten eilen irgendwohin, gucken ständig auf die Uhr, ihr ganzer Körper vermittelt Spannung, ihr Blick verliert sich in jenem abstrakten, unbestimmten Punkt, der nur ihnen bekannt ist. Dieser Punkt liegt meistens irgendwo hinter den Gesichtern der Menschen, die den „Betroffenen“ entgegenlaufen. Am liebsten beobachte ich unterschiedliche Frauen. Mit oder ohne Hut, in Absatzschuhen und in Vans, modisch oder gar elegant angezogene, und diejenigen, die – na ja – aus meiner Sicht nichts Besonderes sind. Dieses Mal warte ich auf meinen Zug, auf diesen großen Staubsauger, der die Menschen unterschiedlichster Art und Größe auf den Bahnsteig ausspuckt, wieder einsaugt und dann verschwin­det. Mein Zug hat Verspätung. Das ist keine Neuigkeit und sollte für viele Menschen ein Zeichen des Lebens und der Zufälle sein. Menschen gucken auf ihre Uhren, schütteln den Kopf und fangen an zu meckern. Gäbe es diese Verspätung nicht, so würden alle, dem line­aren Lebensablauf folgend, einsteigen, zwei Sitze für sich und den Rucksack reservieren, und hätten dann nichts mehr zu erzählen.


Zwischen Selbstfindung und Verzweiflung

Auf den Bahnsteig gegenüber steigt ein Pärchen aus. Der junge Mann ist groß und scheint stark zu sein, in seiner rech­ten Hand trägt er eine H&M-Tüte, mit seiner Linken umarmt er seine hübsche Freundin und streichelt sanft ihren Po. Die junge Frau hat einen Rucksack auf dem Rücken und einen mittelgroßen Koffer in ihrer linken Hand. Wahrscheinlich sind das die Hormone, die beim Streicheln des Pos in den Körper freigesetzt werden und der Frau besondere physische Stärke verleihen, sodass sie glücklich und mit einer vor Anstrengung zitterten Hand die Treppe hinunterstieg – und so aus meinen Augen verschwand. Vielleicht ist das einfach ein modernes, emanzipiertes Pärchen und der junge Mann macht sich auf eine andere Art und Weise nützlich, die für mich noch nicht nachvollziehbar ist.

Die Frauen wissen, was sie wollen
Die Fahrt dauert 30 Minuten, ich begebe mich zur rechten Tür. Auch wenn ich schon lange in Deutschland lebe, gibt es bestimmte Reflexe, die ich dank meines Migrationshintergrundes noch nicht verloren habe. Zur Tür kommt eine junge Frau, die einen großen, schweren Koffer trägt. Beim Aussteigen biete ich ihr meine Hilfe an. Zur Antwort erhalte ich einen schockierten Blick voller Angst und Unverständnis. Ihre Finger greifen noch fester an die Seiten des Koffers, sodass sie vor Anstrengung fast blau werden. Als sie auf dem Bahnsteig steht, dreht sie sich um und meint halb unfreundlich, halb ironisch: „Nein danke! Ich bin stark genug.“ Ich lächele nur und gebe mir selbst gegenüber zu, dass es diesmal aus reinem Zufall eine sehr hübsche Frau ist. Vielleicht hat sie Angst, dass ein altmodischer Mann sie kennenlernen möchte, wer weiß!Leider funktionierte es bei den anderen Frauen auch nicht, denen ich ab und zu während meiner Zugreisen begegnete. Dabei hatte ich meine Hilfe selbst denen angeboten, die aus meiner Sicht – na ja – nichts Besonderes waren.Nur einmal hatte ich Erfolg, und dieses eine Mal handelte es sich um eine Frau, die meiner Einschätzung nach Mitte 40 war und zudem einen Rock trug. Wahr­scheinlich war sie noch altmodisch und schaffte es nicht mehr sich zu emanzi­pieren. Während eines Treffens der Gruppe, in der ich mich engagiere, redeten wir über die Aufgabenverteilung. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber Frau M. meinte: „Eine moderne, emanzipierte Frau lässt sich die Tür nicht aufhalten …“ Ich fragte sie, was sie unter Emanzipation verstehe, aber wie immer wurde meine Frage einstimmig als Abweichung vom Thema verstanden, und so bekam ich keine Antwort. Als das Tref­fen zu Ende war, lief ich neben Frau M. zur Tür und hielt diese auf. Ein charmantes, freundliches Lächeln war die erste Reaktion, plötzlich gefolgt von Wol­kendunst. Sie ging hindurch und warf ein „Danke!“ über die Schulter.

Wie Frau zum Mann wird
In einem ZEIT-Artikel mit dem Titel „Bewerbung als Hausmann“ wundert sich der Herr Martenstein, warum es immer mehr Bücher über die Freuden des Vaterseins Gibt, man im Buchladen aber nichts über das Mutterglück findet. Beim Lesen des Artikels fiel mir plötzlich Arnold Schwarzenegger ein. In seinem Film „Junior“ brachte er es auf den Punkt: Erst wenn auch die Männer schwanger werden können, erst dann könnten wir von einer vollständigen Emanzipation sprechen.


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