Von Vatermördern und Mörderkindern

Leben und Sterben der „Generation AIDS“: Szene aus Gregg Arakis „Nowhere“
Leben und Sterben der „Generation AIDS“: Szene aus Gregg Arakis „Nowhere“

Junge und Alte haben sich im Kino teils bis aufs Blut bekämpft – aber auch unerwartete Allianzen gebildet. Eine Auswahl von zehn Filmen zu Generationsbeziehungen.

von David

Les 400 coups / Sie küssten und sie schlugen ihn
(François Truffaut, Frankreich 1959)
Antoine wird in der Schule von autoritären Lehrern, zuhause von gleichgültigen Eltern schikaniert. Er schwänzt oft die Schule und begeht kleine Gaunereien, bis er schließlich auf Veranlassung seiner Eltern in ein Besserungslager für Jugendliche abgeschoben wird. Mit diesem Film, einem der ersten, der konsequent aus Perspektive eines Kindes erzählt wird, begann die „nouvelle vague“, eine der einflussreichsten Filmreformbewegungen der Kinogeschichte: so wie Antoine seine eigene Mutter für tot erklärt, proklamierten François Truffaut und andere Filmemacher den Tod des biederen französischen Mainstreamfilms. Zur Inspiration für ihre Filme suchten sich Truffaut und Co. neue „Väter“, und fanden sie unter anderem in den Hollywood-Regisseuren Alfred Hitchcock und Howard Hawks. Retrospektiv lässt sich Les 400 coups auch als Kindheitsportrait jener Generation verstehen, die zehn Jahre später in Paris auf die Barrikaden stieg.

La minorenne / Valeria – Leidenschaften einer Minderjährigen
(Silvio Amadio, Italien 1974)
La minorenne wurde als „commedia sexy all’italiana“, als erotische Komödie, vermarktet, könnte allerdings kaum deprimierender sein: Valeria wurde als kleines Kind von ihren Eltern in eine Klosterschule gesteckt. Nach ihrem Abschluss kehrt sie in eine „Freiheit“ zurück, die nicht weniger gruselig als das katholische Lehrinstitut ist. Sie sieht sich finanziell reichen und emotional armen Eltern gegenüber. Beide Parteien haben sich nichts zu sagen – ein eisig schweigsames Abendessen „zelebriert“ Valerias Rückkehr. Unerwünschte Aufmerksamkeit bekommt sie vom schmierigen Liebhaber ihrer Mutter, der sie sexuell belästigt. Die Gleichaltrigen verbergen ihren Zynismus und ihre emotionale Kälte hinter schnellem Sex. Von der Elterngeneration entfremdet und ohne Anschluss an ihre eigene (68er-?)Generation entscheidet sich Valeria schließlich resigniert für ein Leben als Aussteigerin.

Heimat – eine deutsche Chronik: Hermännchen, 1955/56
(Edgar Reitz, BRD 1984)
Die TV-Serie Heimat blickt in über 15 Stunden auf drei Generationen im fiktiven Hunsrück-Dorf Schabbach, von 1919 bis 1982. In der emotional intensivsten Episode entfremdet sich Teenager und Nesthäkchen Hermann, gesegnet mit der „Gnade der späten Geburt“, von seiner Familie und der repressiven Aufbruchsidylle des Wirtschaftswunders. Eine Flucht findet er in der Liebe zur zehn Jahre älteren Klärchen, einer Zugezogenen. Als die Liebschaft im Dorf bekannt wird, kommt es zum Eklat: Hermanns Mutter und sein ältester Bruder, die als ehemals glückliche Mitläufer wissen, was anständig ist, tun alles, um mithilfe von Intrigen das Leben des jüngsten Familienmitglieds und das seiner Liebhaberin zu zerstören.

Nowhere / Nowhere – Eine Reise an den Abgrund der Seele
(Gregg Araki, USA / Frankreich 1997)
Wie lästig Eltern sein können, wenn sie einen mitten beim Masturbieren unterbrechen. Zum Glück verspricht die nächste Party ein bisschen Abwechslung bei queerem Sex, synthetischen Drogen und Indie-Rock. Dumm nur, dass ausgerechnet an diesem sonnigen Tag in L. A. Aliens auftauchen und reihenweise Teenager wegbeamen, während ein fundamentalistischer TV-Prediger mit telepathischen Kräften unter den Feierwütigen eine Mord- und Selbstmordwelle auslöst. Nowhere ist der zornig-wüste Abschluss von Gregg Arakis sogenannter „teenage apocalypse trilogy“, die sich dem Leben und Sterben junger Menschen der „Generation AIDS“ widmet.

¿Quién puede matar a un niño? / Ein Kind zu töten…
(Narciso Ibáñez Serrador, Spanien 1976)
„Wer kann ein Kind töten?“ – diese provokante Frage beantwortet der Prolog: dokumentarische Bilder von verstümmelten Körpern, kontrapunktisch mit fröhlichem Kindergesang unterlegt, weisen nachdrücklich darauf hin, dass Kinder im 20. Jahrhundert millionenfach in Völkermorden und Kriegen getötet wurden. Danach dreht ¿Quién puede matar a un niño? den Spieß um: Ein Ehepaar kommt zum Urlaub auf eine idyllische Insel, die scheinbar nur von Kindern bevölkert wird. Bald finden die beiden heraus, dass die Kleinen alle Erwachsenen ermordet haben und es nun auch auf sie abgesehen haben. Dass diese parabelhafte Rachegeschichte, in der Kinder „ihren“ Krieg gegen Erwachsene führen, im postfranquistischen Spanien entstand, ist nur folgerichtig: eine Generation zuvor hatte das Land einen der großen Bürgerkriege des Jahrhunderts erlebt, der noch drei Generationen später eher in solch provokanten Filmen als von der offiziellen Geschichtspolitik thematisiert wird.

Batoru rowaiaru / Battle Royale
(Kinji Fukasaku, Japan 2000)
2010 rief der ehemalige Résistant Stéphane Hessel im Essay „Empört Euch!“ die junge Generation zum Widerstand gegen Ungerechtigkeiten auf. In ähnlicher Absicht drehte der 70-jährige Kinji Fukasaku ein Jahrzehnt vorher seinen letzten, kontroversen Film. In einer dystopischen Zukunft zwingt die Regierung als Maßnahme gegen Jugenddeliquenz Schüler dazu, sich in Wettbewerben auf einer Insel bis auf einen einzigen Überlebenden gegenseitig zu töten – Lehrer dienen dabei als willige „Spielleiter“. Regisseur Fukasaku, als Schüler im Zweiten Weltkrieg zu Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik mobilisiert, musste nach einem Bombardement einmal die Leichen seiner Mitschüler bergen. Autoritäre Tendenzen und Gewalt, die er in den 1970er Jahren in einer Reihe explosiver Gangsterfilme anprangerte, machen in Batoru rowaiaru Kinder zu ihren ersten Opfern (aber auch ihren ersten Nachahmern).

Un singe en hiver / Ein Affe im Winter
(Henri Verneuil, Frankreich 1962)
Alles scheint den Rentner Albert, Hotelbesitzer an der Normandieküste, und den jungen Werbeagenten Gabriel, seinen einzigen Gast im Spätherbst, zu trennen. Albert ist ein Mann des 19. Jahrhundert: Ein ehemaliger Marinesoldat, stationiert in China, der nach der Entlassung die fernöstliche „zivilisatorische Mission“ bei Trinkgelagen in seiner Fantasie fortsetzte, bevor er dem Alkohol entsagte. Gabriel trinkt sich hingegen in eine Zukunft, in der er in Spanien der größte Stierkämpfer der Welt werden wird. Der ehemalige Kolonialsoldat lässt sich von der jugendlichen Energie des Bohemiens anstecken und bricht mit ihm schließlich zu einer wüst-fröhlichen Sauftour voller chinesisch-spanischer Träumereien auf. Es ist die geniale Besetzung mit Jean Gabin, dem großen Star des französischen Kinos der 1930er Jahre, und Jean-Paul Belmondo, der jungen Ikone der „nouvelle vague“, die diesen intergenerationellen Trinker-Buddy-Film zur Perle macht.

Il mio nome è Nessuno / Mein Name ist Nobody
(Tonino Valerii, Italien / Frankreich / BRD 1973)
Ein ergrauter Revolver-Held des Wilden Westens möchte sich nach Europa in den Ruhestand zurückziehen, doch ein junger frecher Niemand will ihn noch zu einer letzten Heldentat animieren. Der Übergang von der vormodernen, gesetzlosen Frontier-Ära zur kapitalistischen, rechtstaatlichen Moderne, ein urwüchsiges Thema des Westerns, wurde nie so fröhlich, lustig und anrührend wie in Il mi onome è Nessuno präsentiert. Auch dieser Film profitiert von einem genialen Besetzungscoup, indem Henry Fonda, eines der wichtigsten Gesichter des klassischen Hollywood-Westerns, mit Terence Hill konfrontiert wird, dem zentralen Darsteller des späten postmodern-parodistischen Italowesterns. Gemeinsam erreichen beide ihr Ziel: der eine geht in die Geschichtsbücher ein und fährt nach Europa, der andere wird selbst zum Helden in einer Ära, in der es eigentlich keine Helden mehr geben wird.

Tōkyō monogatari / Die Reise nach Tokyo
(Yasujirō Ozu, Japan 1953)
Im Prinzip geht es in allen Filmen Yasujirō Ozus ab den 1950er Jahren um Entfremdung zwischen den Generationen – meist aus der Perspektive der Älteren. In Tōkyō monogatari besucht ein Rentnerpaar aus der Provinz die erwachsenen Kinder in der Hauptstadt und findet nur Desinteresse. In einer zentralen Trinkszene lassen sich der Vater und zwei seiner Freunde darüber aus, wie enttäuscht sie von ihren Kindern und deren nur durchschnittlichen Leben sind – und sehen dann doch ein, dass in normalen Zeiten Menschen eben normale Leben führen. Das ist das Tragische bei Ozu: Die Älteren verstehen die Jüngeren – aber sie sind unfähig, es ihnen zu sagen.

The Expendables 3
(Patrick Hughes, USA 2014)
Einige gesellschaftsuntaugliche alte Männer, die eigentlich in den Knast oder wenigstens in ein Betreuungsheim für delinquente Senioren gehören, wollen auch im hohen Alter durch die Welt reisen, Sachen kaputt schießen und bösen Jungs ihr ganz persönliches Den Haag zukommen lassen. Mehr noch als die Vorgänger ist The Expendables 3 ein Film, der Generationsfragen mit den Mitteln des postmodern-ironischen Event-Actionfilms behandelt – und dabei faszinierend scheitert. Wir sehen alte Männer, die die Funktion junger Männer ausüben; in einem Film, der durch die Besetzung eine Brücke zu einer anderen Kinogeneration für ein Mehrgenerationen-Publikum schlagen möchte; dies allerdings in einer Ästhetik, die vollkommen in den Grenzen der Gegenwart gefangen ist.


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