„Wir saßen am Tisch und spielten Karten“

Für Lea und Bo fühlte sich das Psychologiestudium wie ein Kartenspiel an. Mit verwirrenden Regeln und vielem, was sie kritisch hinterfragen. In ihrem Text laden sie aus einer gemeinsamen Ich-Perspektive auf ein paar Runden Kartenspielen mit dem Psychologie-Studium ein.

von Lea Krismann und Bo Weinschenk


Ich drehe die Zeit zurück und sehe mich vor Freude rufen: „Ich habe eine Zusage für mein Traumstudium Psychologie, juhu!“ (Na klar studiert sie das, bei dem Abi und überhaupt, sie ist ja so gut mit Menschen!). Diese Zusage war gleichzeitig meine Eintrittskarte in die Welt der Universität (Da gehöre ich hin, yeah!) und die Antwort auf meine tiefe Faszination für die menschliche Innenwelt (Was gibt es Spannenderes als zu lernen, Menschen zu verstehen?). Und, sind wir mal ehrlich, das Ganze passte auch wunderbar zu meinem lang trainierten Leistungsdenken (Ich will die Beste im Menschen-Verstehen werden, au ja!).

Was aus meiner anfänglichen Euphorie im Laufe der Jahre wurde, lässt sich vielleicht ganz gut erklären, wenn ich mein Psychologiestudium mit einem Kartenspiel vergleiche. Jedes Studienjahr steht für eine Runde eines Spiels, dessen Sinn und Regeln mir bald frustrierend erscheinen sollten und das so ganz anders war, als ich es mir vorgestellt hatte. Und doch stehe ich nun, meine Masterarbeit fleißig in meinen Laptop tippend, kurz vor dem Ende der letzten Spielrunde. Ich werfe einen Blick zurück, mein Kopf leicht geneigt, der Gesichtsausdruck ein wenig verwirrt – was ist das für ein Spiel und wer macht hier eigentlich die Regeln?

Runde 1 – Enthusiasmus.
Aber mal ganz von vorne. Ich setze mich also zur ersten Runde mit funkelnden Augen und viel Aufregung im Bauch an den Tisch. Die Studieninhalte werden in Form von Spielkarten verteilt und eifrig versuche ich, sie mir alle einzuprägen. Ich bin schwer damit beschäftigt, die Methoden der Psychologie – mit dem Bild des Spiels gesprochen: die Regeln – zu verstehen und möglichst alles richtig zu machen.

Runde 2 – Sperrige Karten.
Die ersten zermürbend-stressigen Prüfungsphasen hinter mir, sitze ich für die zweite Runde ein bisschen müder und weniger aufrecht am Tisch – aber versuche mich weiter zu motivieren (Ich schaff das schon, im Master wird’s dann bestimmt auch entspannter).

Dozierende fragen uns in diesem Spiel Sachen wie: „Woher kommt Burn-Out?“ – Im Studium werden dann entsprechende Karten ausgeteilt. Auf ihnen steht Folgendes: geringes Selbstwertgefühl, hohe Erwartungen an sich selbst, konfliktmeidendes Verhalten,… – Die Karten geben eindeutige Antworten. Auch ich spiele diese Karten, bin mir aber nicht so richtig sicher, ob das die einzigen Antworten auf die gestellte Frage sind.

Das Studium ist allerdings nicht das einzige Spiel, das ich spiele – so gehe ich unter anderem zu Lesekreisen und Vorträgen. Hier wird sich ausgetauscht und diskutiert – hier wird gemeinsam versucht die Probleme zu verstehen und über Lösungen nachzudenken. Und auch die Karten sind andere – diese thematisieren die gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf psychische Gesundheit. Sie sagen mir klar: „Menschen sollten in ihrem gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden.“ Das passt gut zu meiner Alltagserfahrung, in der ich täglich spüre, dass ich kein Individuum im luftleeren Raum bin. Vielmehr fließt durch Sprache, Gewohnheiten und Ansichten das Kollektive ständig durch mich durch. So komme ich bei der, zum Burn-Out gestellten, Frage plötzlich auf andere Antworten: krankmachende Arbeitsbedingungen, Wohnsituation, fehlende gewerkschaftliche Organisierung,….

Gerne würde ich die neuen Karten aus dem Lesekreis mit in das Spiel meines Studiums nehmen, wo sie mir doch so gut beim Beantworten der vielen Fragen in meinem Kopf helfen. Ihre Inhalte passen aber nicht zum sturen Auswendiglernen und anschließendem Kreuzchenmachen für Multiple-Choice-Klausuren – wie im Studium so oft von mir verlangt. Die sperrigen Karten brauchen Zeit und Raum für gemeinsames Überlegen. Aber die Haltung in der Uni ist klar: der gesellschaftliche Kontext hat hier keinen Platz! So bekomme ich immer wieder das Gefühl meine neuen Karten seien zu sperrig. Das frustriert mich und führt zu einer ständigen Spannung zwischen meinem eigenen Erleben, meinen Überzeugungen und meinem akademischen Handeln.

Runde 3: Am Tisch umgucken.
Mein sperriges Kartendeck in der Hand, trete ich verwirrt einen Schritt zurück und frage mich: Wer sitzt hier eigentlich mit mir am Tisch? Wenn ich mich umsehe, sehe ich vor allem weiße, privilegierte Ichs wie mich selbst, umgeben von anderen weißen, privilegierten Ichs – meine Kommilitoninnen, Dozierenden und die Forschenden an meiner Uni. Und das ist kein Zufall, sondern repräsentativ für die Psychologie. Ziemlich homogen dafür, dass wir alle Menschen verstehen wollen, oder? Genauso homogen bleibt’s leider auch, wenn wir den Blick auf die werfen, die beforscht werden. (Was nicht allzu sehr ver- wundert, wenn man beachtet, dass die Probandinnen psychologischer Forschung fast immer Psychologiestudierende sind.) Auch in hochrangig publizierten psychologischen Studien wimmelt es an Erkenntnissen, die ausschließlich an sogenannten WEIRD people gewonnen wurden. WEIRD steht hier für Menschen aus Westlichen, gebildeten (engl. Educated), Industrialisierten, Reichen und Demokratischen Gesellschaften (Heinrich et al., 2010). Weirderweise wird davon ausgegangen, dass man von dieser spezifischen Gruppe auf alle Menschen generalisieren kann. Das würde vielleicht funktionieren, wenn es der Standard wäre, WEIRD zu sein. Ist es aber nicht.

Runde 4 – Regeln hinterfragen.
Mich interessiert nun aber nicht nur, wer hier eigentlich mit mir sitzt, sondern auch nach welchen Regeln hier eigentlich gespielt wird. In anderen Worten: Wie werden in der Psychologie Erkenntnisse gewonnen? Bei der Beantwortung dieser Frage stechen quantitative Methoden so sehr ins Auge, dass alles andere nebensächlich erscheint. Uns Spielerinnen wird also beigebracht, dass sich Erkenntnisse am besten gewinnen lassen, indem man die Methode des Expe- riments nutzt (der sogenannte Goldstan- dard) – das geht so: Man lädt möglichst vie- le Probandinnen ein. Diesen werden dann einer von mehreren Bedingungen zugewiesen – und Störeinflüsse möglichst ausgeschlossen. Anschließend wird für jede*n ein Wert ermittelt und daraus ein Durchschnitt für alle berechnet. Wer zu weit weg ist vom Mittelwert, gilt übrigens meistens als Abweichung (genannt Ausreißer) und wird im Zweifel aus den Berechnungen ausgeschlossen – sorry!

Runde 5 – ein grundlegendes Warum.
Klaus Holzkamp, der Begründer der Kritischen Psychologie, arbeitet in seinem Vortrag „Der Mensch als Subjekt wissenschaftlicher Methodik“ (1983) heraus, dass mit psychologischen Experimenten immer nur untersucht werden kann, wie sich Menschen unter verschiedenen Bedingungen verhalten. Die andere Seite, also wie Menschen Bedingungen verändern, kann dabei nicht untersucht werden. Damit trifft er meiner Meinung nach eine große Schwachstelle der Psychologie: Mit ihren Regeln kann sie nur beschreiben, nicht aber emanzipatorisch wirken! So formuliert es Holzkamp 1983.

Statt Antworten auf meine Fragen zu finden, habe ich viel über die angemessene Menge Schlaf für den Durchschnittsmenschen (8 Std.) gelernt. Oder auch über Versuche mit Affenbabys, die statt ihrer Mutter einen Roboter um sich herum haben (die leiden dann). Oft erscheinen mir die Erkenntnisse komplex, offensichtlich oder beides zugleich und bleiben mir nicht viel länger als eine Prüfungsphase erhalten.

Aber zwischen Mittelwerten und Standardabweichungen, zwischen IQ-Tests und ihren Anwendungsbereichen fühle ich mich oft allein mit meinen sperrigen Fragen. Aber, ich sag‘s, wie es ist – bei all meiner Kritik am Spiel bin ich trotzdem oft brav sitzen geblieben und habe mitgemacht. Wenn ich heute an meine Euphorie aus Runde 1 denke, werde ich ein bisschen traurig. Bald werde ich meine letzte Karte spielen und so kommt in mir die Frage auf – wie geht es jetzt weiter?

Runde 6 – Das Spiel ändern!
Ich bin von Herzen gerne Psychologin und nicke meinem Ich aus Runde 1 in dieser Frage bestätigend zu: Was gibt es Spannenderes, als zu lernen, Menschen zu verstehen?

Ich glaube, wir müssen das Spiel auf den Kopf stellen, wenn es wirklich unser Ziel ist, menschliches Handeln umfassend zu verstehen. Und unter menschlichem Handeln muss dann auch das aktive Mitgestalten von (vorgefundenen) Bedingungen verstanden werden. Ich bin überzeugt, dass wir uns dafür nicht nur isolierte Individuen anschauen können, sondern uns all der sperrigen Karten annehmen müssen:
Lasst uns anerkennen, dass wir unseren gesellschaftlichen Kontext, immer, wirklich immer, in uns tragen. Lasst uns Menschen mal nicht als Abweichungen vom Mittelwert verstehen, sondern als komplexe Systeme, von denen bestimmte Aspekte nicht in Zahlen und allgemeinen Regeln ausgedrückt werden können. Und lasst uns diese Aspekte feiern, anstatt sie als Messfehler in die Ecke zu stellen. Lasst uns auch krankmachende Verhältnisse verändern. Und lasst uns für diese große Aufgabe auch noch andere Disziplinen mit an den Tisch holen. Lasst uns akzeptieren, dass eine homogene, privilegierte Gruppe von Forschenden auch homogene Forschungsfragen entwickelt, die die Welt aus einer privilegierten Perspektive verstehen wollen. Lasst uns aufhören, das als objektive Wissenschaft zu bezeichnen! Und lasst uns vor allem dafür sorgen, dass die Psychologie heterogener wird, um uns dem Menschen aus mehr Blickwinkeln annähern zu können! Lasst es uns abgewöhnen, im Publikationsdruck Studien über Studien zu produzieren, deren Erkenntnisgewinn knapp unter dem Alltagsverstand liegt (Markard, 1984). Lasst uns stattdessen gemeinsam innehalten und die grundlegenden Konzepte und Begriffe dieser Wissenschaft (re)definieren. Lasst uns genau hinschauen, wie die Psychologie historisch gewachsen ist. Lasst uns die wirklich relevanten Fragen adressieren: Warum haben wir die Psychologie erfunden und welche Rolle spielt sie in unserer Gesellschaft? Wem dienen ihre Erkenntnisse? Wie kann sie ihrem emanzipatorischen Auftrag gerecht werden? Und wie kann sie gesellschaftliche Strukturen hinterfragen, anstatt sie (immer wieder) zu reproduzieren?

Kurz und etwas pathetisch zusammengefasst: Lasst uns die Psychologie als einen der Wegweiser hin zu einem guten Leben für alle nutzen! Lasst uns eine Gesellschaft aufbauen, in der alle eine Chance auf psychische Gesundheit haben!


Lea und Bo haben beide im Master Psychologie studiert. Sie haben sich 2021 beim gemeinsamen Organisieren der Veranstaltungsreihe „Fußnoten der Psychologie“ kennengelernt. Seitdem sind sie sich in verschiedenen anderen politischen Kontexten wiederbegegnet – unter anderem in einem Lesekreis zu „Kritischer Psychologie“ nach Holzkamp.


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