„Der Staat hat auf uns freche Spatzen mit seinen großen Kanonen geschossen“

Foto: © Hans-Jürgen Schaller / Udo Scheer

unique im Gespräch mit dem Schriftsteller Udo Scheer über DDR-Vergangenheit, Tabus in der Literatur und die alternative Szene im Jena der frühen 1970er Jahre.

unique: Herr Scheer, sehen Sie besondere Gründe für das gesteigerte Interesse an Literatur und Lyrik in der DDR Anfang der 1970er Jahre?
Scheer: Ja, unbedingt. Kritische Literatur war eine Ersatzöffentlichkeit. Jeder nicht völlig angepasste Leser in der DDR versuchte, sich zwischen den Zeilen – man war sehr gut im Zwischen-den-Zeilen-Lesen – wiederzufinden oder sich zu vergleichen mit dem, was der Autor oder seine Figuren erlebt hatten, wie sie mit Konflikten umgingen. In einer Gesellschaft, in der ein großes Informationsdefizit vorherrschte, waren kritische Autoren sehr gefragt. Deswegen diese Resonanz, die man sich heute kaum noch vorstellen kann.

Und die Gründung des Arbeitskreises Literatur und Lyrik in Jena 1973 war auch politisch motiviert?
Zunächst eher nicht, allenfalls indirekt. Damals hat fast jeder Zweite als junger Mensch geschrieben. Sich austauschen und eine Orientierung finden, also eine Selbstbestimmung: Wer bin ich? Wo will ich hin? Wie denken andere? Das hat man sehr stark über Literatur gemacht. Sich untereinander auszutauschen war also ein Anspruch, diesen Arbeitskreis zu gründen. Als junger Mensch ist man ja vielleicht auch nicht so gefestigt und selbstbewusst. Man sucht die Gruppe, sucht Gleichgesinnte. Wir hatten die Möglichkeit, im Kulturhaus Jena Neulobeda wöchentlich kostenlos einen Raum zu nutzen. Lutz Rathenow, der Inspirator und Initiator, hat diesen Kreis mit sehr viel Engagement geleitet und wir haben uns mit eigenen Werken – Gedichten, Kurzprosa, Satiren – kritisch auseinandergesetzt. Darüber hinaus wurden osteuropäische kritische Autoren vorgestellt, aus Rumänien, Polen, der Tschechoslowakei, das war eine Erweiterung für unseren Horizont. Der andere Punkt: Erich Honecker hatte nach seinem Machtantritt 1971 sinngemäß gesagt, es dürfe keine Tabus geben im Bereich der Kunst und der Literatur – fantastischer Satz. Der entscheidende Nebensatz war: „…wenn sie von der festen Position des Sozialismus ausgeht.“ Das haben wir bewusst überhört. Es war das erste Mal, dass gesagt wurde: Man kann sich kritisch mit den Verhältnissen im Land auseinandersetzen, auch in der Literatur. Das ging eine Zeit lang gut. Aber dann hat der Staat recht schnell auf uns freche Spatzen mit seinen großen Kanonen geschossen.

Also könnte man diese Zeit als eine Art „kleines Tauwetter“ bezeichnen?
Unbedingt. Honeckers Machtantritt bedeutete eine kulturpolitische Öffnung. Es gingen – gerade in der Literatur – Dinge, die vorher nicht gegangen wären. Der Dichter Reiner Kunze beispielsweise war von 1965 bis 1971/72 Persona non grata in der DDR gewesen; plötzlich konnte er einen Gedichtband mit wirklich kritischen, vorher nur in der Bundesrepublik erschienenen Gedichten veröffentlichen. Seine große Kunst war es, die Dinge absolut auf den Punkt zu bringen:

Das ende der kunst
Du darfst nicht, sagte die eule zum auerhahn,
du darfst nicht die sonne besingen
Die sonne ist nicht wichtig
Der auerhahn nahm
die sonne aus seinem gedicht
Du bist ein künstler,
sagte die eule zum auerhahn
Und es war schön finster

So etwas hat natürlich jeder verstanden: Die Realität durfte nicht abgebildet werden, sondern nur, was in die ideologische Linie passte. Und da sind wir vielleicht schon an dem Punkt Zensur.

Wie erinnern Sie sich an das Verbot, zwei Jahre nachdem der Arbeitskreis entstanden war?
Wir wurden 1974 zum Zentralen Poetenseminar nach Schwerin eingeladen, wo etwa 100 der begabtesten jungen Lyrikertalente eine Woche Seminar im Schloss abhielten. Die Seminarleiter waren allesamt geprüfte parteinahe Schriftsteller aus der zweiten Reihe. Dort kam es zum Eklat, als bei einem internen Talentwettbewerb einer aus unserem Arbeitskreis ein Kinderlied von Wolf Biermann sang – ein völlig harmloses, aber Biermann war verboten. Das führte dazu, dass die Nacht über mit uns fast verhörähnliche Gespräche geführt wurden, wir sollten uns von diesem Teilnehmer distanzieren. Und man wollte natürlich auch unsere Position erfahren. Wir haben das abgelehnt und gesagt, über das Verhalten des Teilnehmers müsse bitte im großen Kreis der Seminarteilnehmer gesprochen und entschieden werden, als eine demokratische Entscheidung, aber nicht administrativ von oben. Das geschah natürlich nicht. Stattdessen wurde er am nächsten Morgen von zwei Seminarleitern vor das Tor des Schlosses gezerrt und in ein Taxi gesteckt. Daraufhin sagten wir: Wenn er gehen muss, dann gehen wir auch. So einen Eklat hatte es noch nie gegeben. Es war eine große Auszeichnung, beim Poetenseminar sein zu dürfen, und plötzlich reist dieser Kreis aus Jena demonstrativ ab. Der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, der der oberste Veranstalter war, hat daraufhin das Ministerium für Staatssicherheit in Gera informiert, die dann unseren ersten Gruppenvorgang OV „Pegasus“ einleitete. Das Ziel war, den Kreis zu zersetzen, zu zerschlagen, arbeitsunfähig zu machen. Wir hatten keine Möglichkeiten mehr, Veranstaltungen durchzuführen, plötzlich war keine Räumlichkeit mehr da. Leuten aus unserem Kreis, die noch studierten, wurde angedroht, dass sie das Studium nicht beenden dürften. Es wurden auch Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi in den Kreis eingeschleust. Außerdem waren ständig Leute da, von der Universität, von der Stadt, Abteilung Kultur, die nichts sagten, aber notierten, was bei uns im Kreis gesprochen wurde. Autoren, die wir zu Lesungen eingeladen hatten, durften nicht auftreten. Wir konnten also nicht mehr arbeiten. Dem geplanten Verbot, verbunden mit Maßnahmen gegen einige von uns, sind wir zuvorgekommen und haben uns aufgelöst. Das war für die Staatssicherheit dann doch ein Schlag, denn jetzt mussten sie ihre Inoffiziellen Mitarbeiter und ihre ganze Strategie neu ausrichten. Die Arbeit verlagerte sich danach in Privatwohnungen und in die Junge Gemeinde Stadtmitte in Jena.

Wie war die Atmosphäre in Jena zu jener Zeit?
Durch die Studenten gab es in Jena eine – nicht nur politische – Dynamik in der Stadt. Nicht zu vergessen die Lehrlinge und auch jungen Arbeiter bei Zeiss, Jenapharm und Schott, die – gerade bei Zeiss – aus der ganzen Republik kamen, darunter viele hochintelligente junge Leute. In der DDR durften ja nur zehn bis 15 Prozent auf die Erweiterte Oberschule. Das war nicht viel. Und wer auf die Erweiterte Oberschule ging, der studierte normalerweise auch. Aber gefragt waren vor allem gute und qualifizierte Facharbeiter. Unter den Lehrlingen gab es eine gewisse Entwurzelung: Man konnte nicht jedes Wochenende nach Cottbus oder Stralsund nach Hause fahren. Das war mit der Bahn fast eine Tagesreise. Also suchte man Kontakte und neue Verbindungen in Jena. Die fand man unter anderem in der Jungen Gemeinde, dem Arbeitskreis für Literatur und anderen Kreisen. Manche lebten in Kommunen in Abrisshäusern, man war sehr offen in allen Dingen miteinander. Lehrlinge, Studenten, zum Teil auch Schüler bildeten die Basis für eine alternative Kulturszene in dieser kleinen Stadt Jena, wo man ja alles zu Fuß erreichen konnte. Ein Telefon hatte kaum jemand, aber man konnte natürlich zu jemandem gehen und sagen: „Pass mal auf, heute Abend macht einer aus dem Arbeitskreis eine Lesung oder es werden Lieder von Biermann gespielt, kommt hin.“ Natürlich war das illegal, aber manchmal ging das durch. Diese Dinge liefen einfach. Bis Ende 1976 entwickelte sich hier etwas. Der staatliche Apparat bekam das natürlich mit und suchte nach Möglichkeiten, es zu unterbinden. Da war die Biermann-Ausbürgerung genau die richtige Möglichkeit. 56 Leute von der Jungen Gemeinde Jena unterschrieben eine Protestresolution. Es kam zu fast 50 Verhaftungen; acht Haupträdelsführer kamen in U-Haft und blieben dort ein dreiviertel Jahr, bis der internationale Druck so groß war, dass sie freigekauft werden konnten. Es gab mehrere politische Exmatrikulationen, unter anderem Lutz Rathenow und etwas später auch Roland Jahn, heute Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen. Nach diesen Massenverhaftungen und Exmatrikulationen war das Klima der Stadt gelähmt. Die Staatssicherheit wurde verdoppelt, Jena hatte die auf die Bevölkerung gemessen höchste Dichte an Stasi-Mitarbeitern. Die Stadt und ihre alternative Kultur war in eine regelrechte Agonie verfallen. Es herrschte Angst, starke Angst.

Wie ernst wurde das geschriebene Wort in der DDR genommen? Sie haben schon gesagt, dass eher zwischen den Zeilen gelesen wurde.
Leben in der DDR bedeutete ein Leben in einer – Zitat Jürgen Fuchs – „Landschaft der Lügen“. Deshalb versuchten Leser, Identität zwischen sich und dem Autor beziehungsweise dem Protagonisten zu finden. Auf der anderen Seite gehen Literatur und Zensur oder Kunst und Zensur in jeder Diktatur einher. Und Zensur beginnt eben bei der Schere im Kopf des Autors: Ist es ein Tabuthema, ist es ein Thema, das ich darstellen kann, wie kann ich es darstellen? Ich kann ein problematisches Thema so gestalten, dass es den ideologischen Maßstäben des Apparates entspricht. Dann verbiege ich mich als Autor, dann bin ich nicht mehr bei der Wahrheit. Schriftsteller sind wie alle Menschen: Inwieweit bin ich angepasst, inwieweit bin ich unangepasst im System? In der DDR war die Zusammenarbeit zwischen Autor und Verlagslektor sehr stark ausgeprägt. Bevor ein Buch erschien, wurde intensiv am Manuskript gearbeitet. Es war nicht wie heute, dass der Verlag gewöhnlich veröffentlicht, was der Autor vorlegt. Oft saß der Lektor über Jahre mit dem Autor an einem Manuskript. Das kam auch der inhaltlichen Qualität zugute.
Nach der mehr oder weniger stark ausgeprägten Schere im Kopf, nach der Einflussnahme des Verlages, einschließlich der von ihm zu seiner Absicherung eingeholten Gutachten, griff die dritte Stufe der Zensur: Das war das Büro für Urheberrechte im Ministerium für Kultur, angegliedert an die Hauptabteilung Buch, die jede Veröffentlichung für die DDR und für die Bundesrepublik zu genehmigen hatte. Der Maßstab für Veröffentlichungen in der DDR war dabei bedeutend schärfer, als für eine Veröffentlichung im Westen. Da zählte vor allem, dass man Devisen erwirtschaften musste. Deshalb war bedeutend mehr Zeitkritik möglich. Diese in der DDR geschriebenen und gedruckten Bücher durften nicht in die DDR eingeführt werden. Es gab ein rigides Grenzregime: Zoll und Post hatten den Auftrag abzusichern, dass diese Bücher weder durch Reisende noch im grenzüberschreitenden Brief- und Paketverkehr geschmuggelt würden. Man kann schon staunen, selbst jemand wie der Schriftstellerfunktionär Herrmann Kant, der später Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der DDR war, war der Zensur ausgesetzt. Anfang der 70er hat er einen Roman geschrieben, Das Impressum, in dem er Einblicke in den Journalismus in der DDR gibt. Diesen Roman musste er mehrfach umschreiben, bis er veröffentlicht wurde.

Sie hatten auch selbst zu DDR-Zeiten das Ziel, einen Roman zu veröffentlichen. Wie haben Sie damals die Zusammenarbeit mit dem Verlag empfunden?
Ende der 70er, Anfang der 80er hatte ich die Idee, einen Roman über das sozialistische Produktionsmilieu zu schreiben, in einer zweiten Ebene über einen Journalisten, der für eine Reportage in diesen Betrieb kommt. Daneben sollte es noch eine dritte Ebene geben, die ihre Inspiration aus der Subkultur zog. Das Thema Produktion, mit Abstrichen auch des Journalismus, wäre möglich gewesen. Was aber absolut nicht möglich war, war die Darstellung einer Subkultur in der DDR. Die passte nicht in das unumstößliche sozialistische Weltbild. Die größte Angst der Staatssicherheit war, dieses Buch könnte in der Bundesrepublik erscheinen. Deswegen eröffnete man in der MfS-Bezirksdienststelle Gera den Operativen Vorgang „Mentor“ mit dem Ziel der Verhinderung des „gefährlichsten Nachwuchsschriftstellers des Bezirkes Gera“. So steht es in meiner Akte. Und der Verlag hat mitgespielt. Die Lektorin war eine Inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit, eine eigentlich sympathische Frau. Wir haben inhaltlich gut zusammengearbeitet. Aber was ich erst nach Jahren gemerkt habe: Es lief immer darauf hinaus, umzuschreiben, Abschnitte, Kapitel neu zu schreiben. Lange Zeit war ich naiv, dachte, dass sei so üblich. Dabei war es – wie heute im OV nachzulesen – das Ziel des MfS, dieses Buch nie erscheinen zu lassen, den Scheer am Ende dazu zu bringen, dass er aufgibt. Inzwischen sind mehrere Bücher entstanden, der Stoff liegt noch. Mal sehen.

Wie empfinden Sie heute das Schreiben ohne Zensur?
Es ist ein Glücksfall und keinesfalls selbstverständlich auf der Welt. Nur manchmal, wenn ich angefragt werde, wie bei den Biografien zu Jürgen Fuchs, zu Reiner Kunze oder zur Revolutionsgeschichte in Plauen ´89, wünschte ich mir, mehr Zeit zu haben.

Herr Scheer, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Heide.

Udo Scheer ist Schriftsteller und Publizist. Er kam 1960 in die DDR und studierte bis 1974 Technologie für den wissenschaftlichen Gerätebau in Jena. Im nahen Stadtroda wohnt er noch heute mit seiner Frau. Seine Hauptinteressen – Opposition und Friedensbewegungen in der DDR in der Literatur und in den Medien – gehen auch auf seine Studienjahre zurück. Von 1995 bis 2001 war er Vorsitzender des Geschichtswerkstatt Jena e.V.


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