Rückkehr der Weltraumutopie

Der Raumfahrt wurde vor gerade einmal 100 Jahren durch Hermann Oberth’s Klassiker Die Rakete zu den Planetenräumen (1923) ein solides und umfassendes theoretisches Fundament gelegt. Nur sechs Jahre später gab es bereits das erste ernsthafte Konzept für eine Weltraumsiedlung: Die Bernall-Sphäre – eine gigantische Raumstation, die 30.000 Menschen als permanenter Lebensraum dienen könnte. Diese Vision einer Weltraumkolonie macht durch ihre Frühzeitigkeit und Größe das enorme utopische Potenzial deutlich, das die Raumfahrt seit ihren konzeptionellen Anfängen in sich trägt. Und es drängt sich die Frage auf, inwiefern solch gigantesk erscheinende Ideen den Fortschritt lenken. Noch lässt die Bernall-Sphäre sich nicht realisieren, eine ununterbrochene menschliche Präsenz außerhalb der Erdatmosphäre existiert jedoch bereits seit November 2000. Am Mond soll sie in den kommenden Jahren realisiert werden und selbst Visionen von Menschen auf dem Mars sind im Begriff, nicht mehr wie Science Fiction zu klingen.

von Heinrich Dirks


Von der Fantasie zur Berechnung

„Erst kommen das Denken, die Fantasie und die Märchen, dann die wissenschaftliche Berechnung“, sagte der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski. Er legte 1903 die Raketengrundgleichung vor. Eine seiner Inspirationen waren Jules Vernes Romane Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond. Vielleicht hätte er nie an den wissenschaftlichen Berechnungen gearbeitet, wären seine Fantasie und Neugierde nicht durch derartige Werke angeregt worden. Die gegenseitige Beeinflussung von Kunst und Technik ist schwer konkret fassbar und dennoch zweifellos wirksam. Auf anekdotische Weise bewies das der deutsche Filmemacher Fritz Lang. Für Frau im Mond (1929) erfand er als erster den Countdown zum Raketenstart. Doch vom Vorhaben, den Mars zu besiedeln, über die bemannten Mondmissionen der späten 1960er Jahre, Fritz Lang und Konstantin Ziolkowski lassen sich bis zurück zu Jules Verne und über ihn hinaus noch weitere und bedeutendere Fäden zu einem ideengeschichtlichen Strang verzwirnt vorfinden. Erst kommen utopisch anmutende Visionen und Kunstwerke, dann Wille und Drang, sie zu realisieren. Der gesellschaftliche Glaube an den Nutzen der Raumfahrt und der Wille, die mit ihr verbundenen Utopien zu realisieren, erreichte in den 1960er Jahren einen ersten Höhepunkt, erlebte dann einen mehrere Jahrzehnte währenden relativen Abschwung und lebt seit den 2010er Jahren wieder auf. Diese Entwicklung lässt sich auch anhand von Kunstwerken nachzeichnen. Drei Kinofilme können dafür beispielhaft herangezogen werden: 2001: A Space Odyssey (1968), Koyaanisqatsi (1982) und Interstellar (2014).

Zum Mond, zum Mars, zur Erde zurück

Das 20. Jahrhundert war bis in die 70er Jahre von einem ausgesprochenen allgemeinen Technikoptimismus geprägt. Der Beginn des Nuklearzeitalters, die Entwicklung des Computers und die aufblühende Raumfahrt erzeugten gemeinsam geradezu eine Fortschrittseuphorie. Man glaubte an eine bessere Zukunft dank der neuen Technologien. Vor diesem Hintergrund führte das technologische Kräftemessen zwischen der Sowjetunion und den USA – das Space Race – zu einem so rapiden Fortschritt in der Raumfahrt, dass schon vor der ersten bemannten Mondlandung im Rahmen des Apollo-Programms eine dauerhafte menschliche Präsenz im Weltall sowie Reisen durch unser Sonnensystem realistisch erschienen. Das lag auch daran, dass vom Zeitgeist inspirierte Künstler glaubhafte Bilder zu den Visionen schufen. Stanley Kubricks Kinofilm 2001: A Space Odyssey tat 1968 genau das. Obwohl er unmissverständlich auch mögliche Schattenseiten eines astronautischen Lebens und der Abgabe von Kontrolle an Maschinen und Computer ausspricht, kann der Film insgesamt als horizontale Utopie verstanden werden: In grauer Vorzeit entdecken primitive Menschenaffen erstmals, dass sie Werkzeuge benutzen können – die Geburt des modernen Menschen. Dieser entwickelt seine Werkzeuge immer weiter, bis er damit die Erde verlassen, Raumstationen und mehrere Mondbasen betreiben kann. Eine notwendig erscheinende Reise bis an den Rand unseres Sonnensystems wird durch weitere Fortschritte in verschiedenen Technologien möglich und realisiert. Dort angekommen sehen wir den Astronauten sinnbildlich für die moderne Menschheit altern, zum Greis werden und sterben. Doch in seinem Sterbebett wächst schon sein Nachfolger heran: das Starchild – eine Menschheit neuen Typs: Bewohner nicht mehr bloß der Erde, sondern des Alls.
In dieser Evolutionsgeschichte folgt jeder Horizonterweiterung bald schon die nächste, mit jeder Entwicklung entstehen neue Möglichkeiten, die genutzt werden wollen und die wiederum neue Horizonte sichtbar werden lassen. Mit seinem Film zeigte Stanley Kubrick: Er glaubte an die Raumfahrt, an eine baldige Landung auf dem Mond, an die bemannte Erkundung des Weltalls und an die (horizontale) Weltraumutopie insgesamt. Und er hatte recht, zumindest vorerst. Nur ein Jahr darauf, im Juli 1969, sagte der Astronaut Neil Armstrong seinen berühmten Satz beim ersten Schritt auf die Mondoberfläche. Und nach der Logik der horizontalen Utopie folgt auf diesen „kleinen Schritt“ bald der nächste „große Sprung“. Dieser würde, so versprach der Raketenwissenschaftler Wernher von Braun beim Start der Mondmission, die bemannte Landung auf dem Mars werden – und das bereits im Jahr 1980! Doch dieser Sprung blieb aus. Stattdessen beendeten die Amerikaner ihr Mondprogramm nach sechs bemannten Landungen und die Sowjets taten es ihnen gleich. Der Wettlauf zum Mond war beendet und die Weltraumutopie überzeugte nicht länger. Nicht zufällig gewann zu dieser Zeit die Umweltbewegung immer mehr Anhänger, sodass für einen wachsenden Anteil der Bevölkerung technologischer Fortschritt – und damit auch die Raumfahrt – keine Priorität mehr hatte. Stattdessen wurden Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Gesundheit zu den Idealen der Zeit.

Overview-Effekt

Es ist ironisch, dass gerade die Raumfahrt als ein Katalysator für diese Entwicklung gesehen werden kann. Das als „Overview-Effekt“ bezeichnete Phänomen beschreibt der Astronaut Ronald John Garan im Dokumentarfilm OVERVIEW wie folgt:

„When we look down at the Earth from space we see this amazing, indescribably beautiful planet – it looks like a living, breathing organism. But it also, at the same time, looks extremely fragile. […] Anybody else who has been out at space says the same thing, because it really is striking, and is really sobering, to see this paper thin layer and to realize that this little paper thin layer is all that protects every living thing on earth from death, basically, from the harshness of space.“

Astronauten beschreiben immer wieder eine unmittelbare Veränderung ihrer Perspektive beim Anblick der Erde aus dem All. Aber man kann davon ausgehen, dass auch das kollektive Bewusstsein der Menschheit davon nicht unberührt bleibt. 1972, im Jahr der Beendigung der Mondprogramme, ging zum ersten Mal ein aus dem All aufgenommenes Foto von der Erde (genannt „Blue Marble“) um die Welt: ein historischer Perspektivwechsel für die menschliche Zivilisation. Prompt wurde dieses Foto zu einem Symbol der Umweltbewegung. Wir müssen nicht alle in den Weltraum reisen – bereits beim Anblick des Fotos wirkt der Overview-Effekt und macht uns die Verantwortung bewusst, die wir für unseren Heimatplaneten tragen.

Leben im Ungleichgewicht

Der Regisseur Godfrey Reggio sah ebenfalls dank dieses Bildes die Erde erstmals von außen. 1982 veröffentlichte er einen Spielfilm, der, weil er allen Sehgewohnheiten trotzt, die Massen vielleicht nicht erreichte, ihre Stimmung und Weltsicht jedoch in eindrucksvoller Weise zum Ausdruck brachte. Und der ohne die neue Perspektive auf unseren Planeten vielleicht nicht entstanden wäre. Der Film Koyaanisqatsi ist eine Kritik an der modernen Kultur – einer technisierten, an den Rhythmus der Maschinen angepassten und von der Natur des Menschen entfremdeten Lebensweise. Er ist gänzlich frei von Dialog, Narration und Handlung. Stattdessen zeigen teils bizarre, zeitlich verzerrte Sequenzen Naturlandschaften, Städte, Gesichter der modernen Gesellschaft, Öde und Zerstörung. Die irritierende Wirkung wird verstärkt durch die für jede Szene eigens komponierte Musik von Philip Glass: minimalistisch-mechanisch, repetitiv, mal düster-schön und dann wieder stechend schrill. Der Film beginnt mit einer Sequenz, die die ersten Sekunden eines Raketenstarts zeigt, jedoch so stark ver langsamt und vergrößert, dass erst gar nicht erkennbar ist, was überhaupt dargestellt wird. Gerade durch diese extreme zeitliche und visuelle Lupeneinstellung wird die entsetzliche Gewalt spürbar, die für einen solchen Flug notwendig ist. Der eigentliche Lift-Off wird erst ganz zum Schluss des Films gezeigt, sodass der Raketenstart alles in der Zwischenzeit gezeigte einrahmt. Während Kubrick, der Regisseur der Weltraumodyssee, die Rakete als Transportmittel zum nächsten Horizont des Fortschritts sah, erscheint sie nun bei Reggio gewissermaßen als Anfang und Ende der modernen Zivilisation, vielleicht sogar als Anfang vom Ende. Denn die gerade abgehobene Rakete explodiert und stürzt in brennenden Fragmenten zurück zur Erde. Das Wort „Koyaanisqatsi“ stammt aus der Sprache der Hopi und bedeutet etwa „Leben im Ungleichgewicht“ – ein Ungleichgewicht, das, so die Aussage des Films, Mensch und Natur zerstört. Koyaanisqatsi warnt vor der Nutzung und der damit einhergehenden Unterwerfung unter die Technik. Er ruft zu einer Rückbesinnung auf ein Leben im Einklang mit der Natur auf und drückt damit aus, was der Overview-Effekt auslöst und was die Umweltbewegung forderte.

„Die bemannte Raumfahrt hat ein Imageproblem“

Obwohl die Satellitentechnik mit den Diensten, die sie ermöglicht, in den folgenden Jahrzehnten zunehmend unseren Alltag durchdrang, nahm die mediale und popkulturelle Aufmerksamkeit für die Raumfahrt ab. Das ist nicht verwunderlich, denn mit dem Ende der bemannten Mondmissionen endete gewissermaßen auch das Vordringen des Menschen ins Weltall. Aus wissenschaftlicher Sicht war dem zwar nicht so, hinsichtlich ihres utopischen Potenzials sind Erdbeobachtungssatelliten, Weltraumteleskope und selbst Sonden zum Rand unseres Sonnensystems jedoch mit bemannten Missionen kaum vergleichbar. 1998 kam mit der Inbetriebnahme der Internationalen Raumstation (ISS) ein neuer Meilenstein sowohl der Raumfahrttechnik als auch der bemannten Raumfahrt und der internationalen Zusammenarbeit. Doch mehr als ein kurzes Aufflammen des allgemeinen Interesses bewirkte sie nicht. So heißt es im August 2006 beispielhaft in einem Artikel in der ZEIT: „Die bemannte Raumfahrt hat ein Imageproblem“, dem die Europäische Weltraumorganisation ESA mit einer Kampagne zum Thema „Kunst im Orbit“ entgegenwirken wollte. Raumfahrt, besonders die bemannte, ist extrem teuer und daher auf gesellschaftlichen Rückhalt angewiesen. Die Raumfahrtbehörden verstärken inzwischen ihr Engagement in der Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel, die Bevölkerung an ihren Aktivitäten und Ergebnissen teilhaben zu lassen, und vor allem: Interesse zu wecken. Oder: Die Faszination für die Raumfahrt und den Glauben an ihren Nutzen zu stärken.

Von der Klima-Dystopie zur Weltraumutopie

Seit den 2010er Jahren lebt der Raumfahrtenthusiasmus wieder auf. Die Öffentlichkeitsarbeit der Raumfahrtbehörden trug durchaus dazu bei. Insbesondere aber das Aufkommen von privaten Akteuren, vor allem SpaceX. Ihre äußerst ambitionierten Pläne und zum Teil erstaunlich schnellen Erfolge führen dazu, dass viele die Raumfahrt wieder als aufregend wahrnehmen und erneut an große Visionen, wie eine Marskolonie, glauben. Angesichts einiger Auswüchse kommerzieller Raumfahrt fordern wissenschaftliche Kreise und die zivile Bevölkerung eine stärkere und vor allem überstaatliche Regulierung. Zu diesen Auswüchsen zählen Megakonstellationen von mehreren zehntausend Satelliten, die den natürlichen Nachthimmel überstrahlen, astronomische Beobachtungen stören und den erdnahen Weltraum mit immer mehr Weltraumschrott zu verstellen drohen, sowie Vorhaben mit dem Ziel, Rohstoffe vom Mond und von Asteroiden abzubauen, zur Erde zu transportieren und hier zu nutzen. Unabhängig davon ist das erneute allgemeine Interesse an und die grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Raumfahrt nicht zu leugnen. Die Vielzahl neuer Filme und Serien über den Themenkomplex kann als ein Beleg dafür gewertet werden. Ein Kinofilm, der von der Idee der horizontalen Utopie im Weltraum besonders stark durchdrungen ist, ist Christopher Nolans Interstellar aus dem Jahr 2014. Er spielt in einer nahen Zukunft, in der die Erde droht, der Menschheit bald nicht mehr genügend Nahrung zur Verfügung zu stellen. Obwohl die Ursache nicht explizit genannt wird, lässt das Szenario sich leicht als Folge des menschengemachten Klimawandels und der Übernutzung natürlicher Ressourcen interpretieren – als Folge eines Lebens im Ungleichgewicht. Technikfeindlichkeit und damit ein Misstrauen gegenüber den großen technologischen Erfolgen der Vergangenheit prägen die Gesellschaft. Das wird besonders deutlich in einer Schlüsselszene, in der zwei Schullehrer feststellen: „We don’t need more engineers. […] The world needs famers.“ Sie sprechen vom „good farmer“ und von „useless machines“. Die Szene gipfelt in der Erklärung, dass die Mondlandungen ein „genialer Schwindel“ gewesen wären und die Geschichtsbücher entsprechend geändert wurden. Wissenschaft und technischer Fortschritt werden nicht mehr öffentlich gefördert. Es ist kein Zufall, dass Hans Zimmers Musik für den Film teils unverkennbar an die Kompositionen aus Koyaanisqatsi erinnert. Nolan greift mit seinem Film die Botschaft von Reggio ganz direkt auf und nimmt sie ernst. Doch Interstellar sagt auch, dass wir nicht wissen, ob wir die Erde mit einer Rückbesinnung retten können. Vielleicht wird es zu spät sein. Was dann? Nolans Antwort ist die Flucht nach oben. Eine im Geheimen weiterforschende Gruppe von Ingenieuren und Wissenschaftlern sieht zwei Möglichkeiten. Erstens: Die Menschheit von der Erde in eine riesige Raumstation zu retten. Allerdings fehlt dafür noch ein entscheidendes theoretisches Puzzlestück, das die Bewegung derart großer (Menschen-)Massen möglich machen könnte. Daher verfolgen sie die zweite Möglichkeit: Einige Astronauten begeben sich auf die Reise zu einer Handvoll vielversprechender Planeten außerhalb unseres Sonnensystems. Einer dieser Planeten könnte eine Heimat bieten für eine kleine Kolonie, die eine neue menschliche Zivilisation begründen würde. Ganz der horizontalen Utopie entsprechend erweisen sich die besuchten Planeten zwar als ungeeignet, jedoch kann die Reise genutzt werden, um Daten und Erkenntnisse zu sammeln – sie liefern das fehlende Puzzlestück, das die Evakuierung der Erde und den Bau eines Weltraumhabitats jetzt ermöglicht. Die Menschheit ist nicht nur vorerst gerettet, sondern schaut nun wieder einer vielversprechenden Zukunft entgegen. Der Kinofilm Interstellar beginnt somit als Klima-Dystopie, endet jedoch als Weltraumutopie.

Wahrhaftiger Fortschritt

Technologischer Fortschritt wirft stets große Fragen auf und wird deshalb immer wieder kontrovers diskutiert. Wir dürfen nicht in die Falle des Dogmatismus tappen, indem wir ihn als universelle Lösung für sämtliche Probleme betrachten. Nur der Druck des dynamischen Widerstreits aller gesellschaftlichen Kräfte lässt die erhabenen Gebirgszüge wahrhaftigen Fortschritts entstehen – deren Form und Höhe nie genau vorauszusehen sind. So kann ausgerechnet die neu errungene Fähigkeit, die Erde verlassen zu können, zu einer gesteigerten Heimatverbundenheit führen und dadurch möglicherweise dazu, dass es nicht zu einer tatsächlichen Klima-Dystopie kommen wird, sodass wir die Erde niemals verlassen müssen. Hoffentlich wagen wir es dennoch, auch diesen Horizont zu erschließen.


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