Rezension: Komplexe Dynamiken der Massengewalt

„Im Schatten“ des Zweiten Weltkriegs entfachten kroatische Faschisten nach der Zerschlagung Jugoslawiens einen ethnischen Bürgerkrieg, dem zehntausende Serben, Juden und Roma zum Opfer fielen. Der Historiker Alexander Korb hat die Ursachen, Motive und Ausprägungen dieser Gewalttaten untersucht.

von David

Der sogenannte „Unabhängige Staat Kroatien“, der auf dem Gebiet des heutigen Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas von 1941 bis 1945 bestand, dürfte vielen Menschen in Westeuropa weitestgehend unbekannt sein – ebenso wie die gewalttätigen Ereignisse, die dort stattfanden. Der Historiker Alexander Korb, Lecturer für Neuere und Neueste Europäische Geschichte an Universität Leicester und gegenwärtig Fellow am Imre Kertész Kolleg in Jena, bezeichnet daher die untersuchten Gewalttaten kroatischer Faschisten als Ereignisse „im Schatten des Weltkriegs“. Das bezieht sich keineswegs auf die Dimensionen der Verbrechen, sondern darauf, wie eine zahlenmäßig eher periphere Gruppierung der europäischen Geschichte weitestgehend eigenständig und abseits der großen Schlachtfronten eine ganze Region mit Massengewalt und Terror überzog.
Die faschistische Ustaša-Bewegung wurde 1929 im italienischen Exil von kroatischen Rechtsradikalen gegründet, die sich dem Kampf gegen Jugoslawien und für die Errichtung eines kroatischen Staates verschrieben. Bis 1941 blieb sie eine zahlenmäßig eher randständige Gruppierung, die freilich mit spektakulären Mordanschlägen Aufsehen erregte. Nach dem improvisierten und überstürzten Angriff der Wehrmacht auf Jugoslawien im Frühjahr 1941 machten die Nationalsozialisten die Ustaše zu ihren Partnern, um die kroatischen, bosnischen und herzegowinischen Gebiete des zerschlagenen Staates unter der Bezeichnung „Unabhängiger Staat Kroatien“ zu verwalten. Die Nationalsozialisten erhofften sich davon, diesen Teil Südosteuropas mit möglichst wenig personellen und militärischen Ressourcen kontrollieren zu können.

Ordnende, entgrenzte und konzentrierte Gewalt
Die Ustaše ihrerseits setzten sich nunmehr als Machthaber das Ziel, ihre Vorstellungen eines ethnisch homogenen kroatischen Staates in die Tat umzusetzen. In Wirklichkeit war jedoch der „Unabhängige Staat Kroatien“ ein ethnischer Flickenteppich: Von den sechseinhalb Millionen Einwohnern waren bei dessen Gründung etwa 3,3 Millionen Kroaten, 1,9 Millionen Serben, 800.000 Bosniaken, 175.000 Deutsche sowie jeweils mehrere Zehntausende Ungarn, Tschechen, Juden, Ukrainer, Roma und Slowaken. Die zwei ethnischen Gruppen, gegen die sich die Gewalt der Ustaša vornehmlich richtete, waren Serben und Juden. In ihnen sahen die kroatischen Faschisten die Verkörperung von allem, was sie bekämpften: vornehmlich also das multiethnische Jugoslawien und den internationalen Kommunismus.
Drei verschiedene Ausprägungen der Gewalt benennt Korb, und gliedert nach ihnen auch seine Studie: Vertreibungen (ordnende Gewalt), Massaker (entgrenzte Gewalt) und Internierungen in Lager (konzentrierte Gewalt). Entgegen der intentionalistischen Deutung genozidaler Gewalt denkt Korb eher in den Kategorien von Radikalisierung und Eskalation. Der Terror der Ustaša entwickelte sich demnach nicht geradlinig, sondern in Konjunkturen, die von besonderen lokalen Bedingungen und von den oft komplizierten Interaktion zwischen den Gewaltakteuren abhängig waren – nebst der Ustaša selbst waren das auch die Wehrmacht, die italienische Armee, die kroatische Armee, die kroatische Gendarmerie, serbische Aufständische und kommunistische Partisanen.
Die Vertreibungen von mehreren Hundertausend Serben war, so Korb, nicht nur der unmittelbarste Ausdruck des Wunsches, einen ethnisch homogenen kroatischen Staat zu schaffen, sondern verknüpfte sich ebenso mit „sozial-politischen“ und „sozial-utopischen“ Motiven. Mit den Nationalsozialisten schlossen die Führer der Ustaša ein Abkommen über einen „Bevölkerungstausch“: aus den österreichisch-slowenischen Grenzgebieten sollten knapp 200.000 Slowenen nach Kroatien und zugleich etwa 260.000 Serben aus Kroatien nach Serbien „übersiedelt“ werden. Parallel sollten „Exil-Kroaten“ aus Serbien, Makedonien und dem Kosovo nach Kroatien „zurückgesiedelt“ sowie arme und landlose kroatische Bauern auf das Land „umgesiedelter“ Serben „angesiedelt“ werden. Die Vorstellungen „geordneter Umsiedelungen“, die in diesen Plänen zum Ausdruck kommen, sollten durchaus als solche ernst genommen werden: führende Ustaše wollten so nicht nur einen erheblichen Anteil der unerwünschten serbischen Bevölkerung loswerden, sondern auch die sozio-ökonomische Stellung der Kroaten verbessern. Ihre Vorstellungswelten kollidierten jedoch mit der Realität. Vielerorts weigerten sich lokale kroatische Machthaber, die ihnen zugeteilten Slowenen aufzunehmen, so dass das Umsiedlungsabkommen zu den Slowenen und Serben rasch hinfällig wurde. In manch einer Ortschaft weigerten sich die Kroaten, die Serben der Stadt zu vertreiben, meist aus der (berechtigten) Angst heraus, dass die Wirtschaft zusammenbrechen würde. Wo Serben vertrieben wurden, passierte eben letzteres, besonders auch, wenn das Eigentum der Vertriebenen von der lokalen kroatischen Bevölkerung in Plünderungen privat angeeignet wurde. In den herzegowinisch-serbischen Grenzgebieten vertrieben Ustaša-Milizen in Dimensionen jenseits vereinbarter Quotierungen serbische Dorfbewohner nach Serbien. Kurz: die „Umsiedlungen“ stürzten Kroatien in wirtschaftlicher Zerrüttung, Chaos und Verfall, und führten rasch zu einem extrem hohen Gewaltniveau. Das Scheitern der Vertreibungspläne ließ für die Ustaša die Option des Massenmordes in Nähe rücken.

Widerstand und eskalierende Gewalt
Besonders die Aktionen der Ustaša-Milizen in den östlichen Gebieten des kroatischen Staates lassen die Grenzen zwischen Vertreibungen und Massakern verwischen. Im Sommer 1941 fand die Gewalt einen ersten Höhepunkt, als Gruppen junger Ustaša-Aktivisten durch ländliche Gebiete zogen und Massenhinrichtungen gegen serbische Dorfbewohner organisierten. Gerade in Gegenden, wo Serben eine relative Mehrheit der Bevölkerung stellten, kam es zum Widerstand gegen die Ustaše. Dieser Widerstand ließ wiederum die Gewalt der Milizen weiter eskalieren. Schon Ende 1941 befanden sich weite Landstriche des Unabhängigen Staates Kroatien unter der Kontrolle serbischer Aufständischer oder kommunistischer Partisanen – die sich wiederum untereinander bekriegten. In nur wenigen Monaten ihrer Herrschaft entfesselte die Ustaša einen ethnischen Bürgerkrieg, worauf sie sehr zielgerichtet zugesteuert hatte.
Dies brachte das Ustaša-Regime nicht nur an den Rand des Zusammenbruchs, sondern führte auch zu Konflikten mit den Deutschen, die die nördliche Hälfte des Staates besetzten, und den Italienern, die den Süden okkupierten. Korb macht sehr deutlich, dass Kroatien keineswegs nur ein „Vasallenstaat“ war, sondern – zumindest bis 1943 – sehr wohl vorhandene Handlungsspielräume nutzte und oft auch zu erweitern wusste: deutsch-italienische Konkurrenzsituationen spielten den Ustaše genau so in die Hände wie Kompetenzstreitigkeiten zwischen verschiedenen deutschen Behörden, etwa zwischen Auswärtigem Amt, Wehrmacht und SS. Gerade die antisemitische Rassegesetzgebung wurde von den kroatischen Behörden weitestgehend in Eigenregie eingeführt. Die Deportationen der Juden, die nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Ustaša begannen, waren ebenso eine kroatische Eigeninitiative.
Ebenso zeigt Korb, dass die Ustaša im engeren Sinne eine relativ kleine Gruppierung blieb, sich jedoch im großen und ganzen auf die Mitarbeit bestehender kroatischer Behörden und lokaler Honoratioren verlassen konnte. Die Deportation der Roma in kroatische Konzentrationslager, die im Mai 1942 begann, wurde nicht von Ustaša-Aktivisten durchgeführt, sondern von der Armee und der Gendarmerie.
Die Errichtung von Konzentrationslager in Kroatien erfolgte im Sommer 1941. Sie stellten, so Korb, eine Möglichkeit dar, die entfesselte und für den Staat destabilisierende Gewalt geografisch einzuhegen. Im Herbst 1941 nahm die Zahl der Massaker an serbischen Dorfbewohnern ab, dafür intensivierten sich die Deportationen in die Lager. Die Ethnisierung der Gesellschaft, die die Ustaša im Staat durchgesetzt hatten, wurde in den Lagern fortgeführt: Serben, Juden und Roma wurden strikt getrennt interniert. Lager wie Gospić und Jasenovac dienten rasch als Transitstationen mit einer hohen Fluktuationsrate. Serben wurden für weitere Deportationen nach Serbien oder aber ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit festgehalten. Ab Frühjahr 1942 erfolgte die Deportation der Juden in das Vernichtungslager Auschwitz: Kroatien stellte die Eisenbahnen und zahlte ein Kopfgeld pro Deportiertem an das Deutsche Reich, und konnte im Gegenzug das Eigentum der Deportierten komplett einziehen.
Korb argumentiert, dass die Gewalt der Ustaša auch in den Lagern nicht wie oft kolportiert pathologisch begründet war, sondern durchaus rationalen, wenn auch menschenverachtenden Motiven folgte. Die Kroaten waren bei der Verwaltung der überstürzt errichteten Lager logistisch gesehen stets überfordert, und Massenhinrichtungen an Gefangenen bot in deren Logik die Möglichkeit, der Kapazitätsmängel Herr zu werden: ein Kreislauf aus hoher Gefangenenfluktuation, Überfüllung und Massenhinrichtungen etablierte sich. Hinzu kam aber auch eine hohe Sterberate aufgrund von Krankheit und Hunger, die von den Lagerverwaltungen billigend in Kauf genommen wurden.

Fazit: Vielschichtige und quellennahe Abhandlung, nicht nur zur Geschichte Südosteuropas im Zweiten Weltkrieg
Der Unabhängige Staat Kroatien blieb Zeit seines Bestehens ein krisenhaftes Gebilde. 1943, nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes in Italien und der Aufstockung der deutschen Okkupationstruppen, wurden die militärischen Kämpfe in Kroatien immer deutlicher von der Wehrmacht und den kommunistischen Partisanen dominiert. Das Deutsche Reich schränkte den Handlungsspielraum der Ustaša nunmehr massiv ein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings das kroatische Regime bedeutende Teile seiner gewaltsamen Agenda bereits durchgesetzt.
Im Schatten des Weltkriegs ist eine überaus anspruchsvolle und detailreiche Studie, ein Beitrag nicht nur zur Geschichte Südosteuropas im Zweiten Weltkrieg, sondern auch zur Erforschung von Holocaust, Faschismus, ethnischer Gewalt und Genozid. Die komplexen Ereignisse und zeitgeschichtlichen Fragen, die aufgeworfen werden, behandelt Korb adäquat auf vielschichtige und quellennahe Art und erteilt monokausalen Erklärungen eine Absage. Wo manch ein Laie all zu schnell die jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre als logische Folge „jahrhundertelangen traditionellen Hasses zwischen Volksgruppen auf dem Balkan“ abtut, zeigt Korb eindrücklich, wie tief eine im europäischen Faschismus verankerte Gruppierung das Gebiet des späteren zweiten Jugoslawiens mittels Gewalt prägte; wie diese sehr bewusst ihren Terror in einen ethnischen Bürgerkrieg eskalieren ließ.
Das Erkenntlichmachen von Komplexität, Ambivalenzen, Handlungsspielräumen und Chaos dürfte vielleicht Korbs größter Verdienst sein. Sein Fazit im Bezug auf die Frage, wie sich dies zur Erinnerungskultur verhält, ist entsprechend konsequent: „Die historische Forschung kann der Erinnerungskultur allein empirische Untersuchungen zur Verfügung stellen, die mit möglichst breiten und inklusiven Ansätzen verdeutlichen, dass Gewalt lokal, regional wie national unterschiedliche Formen annahm. Darin, und nicht in einem europäischen Meisternarrativ, liegt die Zukunft der Erinnerung.“

Alexander Korb:
Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941-1945
Hamburger Edition 2012
510 Seiten
28,00 Euro


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