Rezension: Ein Schneider aus Homel auf Abwegen

Ein redseliger jüdischer Schneider aus der UdSSR reist durch das Europa der 1920er Jahre. Die Andere Bibliothek veröffentlicht Ilja Ehrenburgs frühen Roman Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz in der deutschen Erstübersetzung von 1928.

von David

„Wie ein Fuchs, der sich ins Pelzgeschäft verirrt hat“ – so fühlte sich der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg über weite Strecken seines Lebens. Die Titelfigur seines tragikomischen Schelmenromans Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz dürfte sich auch oft so gefühlt haben, gleichwohl er nicht mit Füchsen, sondern eher mit Kaninchen etwas zu tun hatte…
Aber der Reihe nach: Lasik Roitschwantz, der jüdische Herrenschneider aus der Stadt Homel (heute in Weißrussland) hätte lebenslang Flicken an Hosen genäht, wenn die Russische Revolution nicht dazwischen gekommen wäre. So stolpert Lasik unfreiwillig in den marxistischen Lauf der Geschichte – und kommt durch eine Denunziation ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung will er sich als würdiger Sowjetbürger beweisen, tritt aber mit seinem tölpelhaften Übereifer dem lokalen Parteichef einmal zu oft auf die Füße. So beginnt seine lange Flucht, die Lasik an die unmöglichsten Orte und in die wahnwitzigsten Positionen bringt: In Zentralrussland etwa wird er Parteibeauftragter für Kaninchenvermehrung, doch ohne jegliches Kaninchen weit und breit muss er auf besonders fantasievolle Weise Wirtschaftsberichte fälschen. Der magere, untersetzte Schneider wird in Königsberg als lebende Schaufenster-Reklame für Wunderlebertran eingestellt (als „Vorher“-Modell) – und muss nach einem Schäferstündchen mit der nymphomanen Gattin des Apothekers weiter gen Westen fliehen. In hippen Pariser Cafés wird er zum Liebling der Künstler-Bohème, später aber zu deren Schrecken aufgrund seiner Neigung, Enten zu verputzen, die als Modell für Stillleben gedacht waren. Aus London als vermeintlicher bolschewistischer Spion verjagt, gelangt Lasik in seiner letzten Station nach Palästina, wo aber weder Araber noch jüdische Nationalisten dem russischsprachigen Schneider wohlgesonnen sind.
Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz ist stark elliptisch geschrieben, die Figur wird unvermittelt von einer Situation in die nächste geworfen. Unterbrochen wird die Erzählung immer wieder von Lasiks langen Monologen, in denen er Possen aus dem Leben in der Stadt Homel, belehrende jüdische Folklore-Geschichten und merkwürdige Anekdoten über den sowjetischen Alltag wild vermischt zum Besten gibt. Diese Monologe retten Lasik manchmal aus brenzligen Situationen – manchmal redet er sich in sein eigenes Verderben.
Mit der „Dialektik von der Überlegenheit der Unterlegenheit“ beschreibt der Lyriker Peter Hamm im Nachwort treffend den Schneider aus Homel und vergleicht ihn mit Jaroslav Hašeks Soldaten Schwejk – auch ein bauernschlauer Dummkopf in ungewöhnlichen Zeiten. Doch Roitschwantz ist melancholischer: mit dem Fortgang seiner Reise wird Lasik zunehmend fatalistisch, kann sich immer seltener aus unangenehmen Situationen retten, bezieht immer mehr Prügel.
Der Roman erschien 1928 erstmals in russischer Sprache in Berlin, im gleichen Jahr dann in der deutschen Übersetzung (die auch in dieser Edition erhalten ist). Ehrenburg verarbeitete einige seiner eigenen Erfahrungen im Ausland: Geboren in Kiew, schloss er sich 1905 den Bolschewiki an. Die 1910er und 1920er Jahre verbrachte er größtenteils im französischen Exil als Journalist und Kriegsberichtserstatter. Engagiert für den internationalen Sozialismus, distanzierte sich Ehrenburg immer wieder von der Sowjetführung, ihrer Kulturpolitik und ihren Repressionen gegen Künstler – bis er in den eisernen Griff des Terrors geriet und als „Geisel Stalins“ zur Kulturdiplomatie gezwungen wurde. Später bat Ehrenburg in Gedichten um Verzeihung darum, überlebt zu haben; nicht nur den stalinistischen Terror, sondern auch den Holocaust, den er bereits ab 1941 mit anderen sowjetischen Intellektuellen im „Jüdischen Antifaschistischen Komitee“ systematisch dokumentierte. Die Bemühungen wurden im Zuge der zunehmend offen antisemitischen Repressionen der sowjetischen Regierung in den späten 1940er Jahren brutal unterbunden. Mit dem Roman Tauwetter gab Ehrenburg später dem Ende der Stalin-Ära einen eigenen Namen. Seinen Lasik Roitschwantz hingegen wollte der Autor selbst nie wieder publiziert sehen – „weil mir nach den Untaten des Nazismus die Veröffentlichung einer solchen Satire als vorzeitig erschien“.

Ilja Ehrenburg:
Das bewegte Leben des
Lasik Roitschwantz
Die Andere Bibliothek 2016
405 Seiten
42,00 €


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