Nicht-Orte des Alltags

Utopia, das ist der Name der Insel aus Thomas Morus‘ 1516 erschienenem Werk De optimo rei publicae statu desque nova insula utopia. Er setzt sich zusammen aus dem griechischen ou (nicht) und topos (Ort), bedeutet also Nicht-Örtlichkeit. Obwohl unserer täglichen Welt nichts ferner scheint als das perfekte Utopia, ist die Bedeutung des Wortes – der Nicht-Ort – ein Phänomen, dem wir täglich viele Male begegnen.

von Sebastian Baum


Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé definierte als einer der Ersten die Nicht-Orte. In seinem Werk Orte und Nicht-Orte – Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit von 1994 beschreibt er sie folgendermaßen: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als rational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“ Darin fasst er alle Transiträume zusammen wie Flughäfen und Bahnhöfe, außerdem alle Orte, die im Zuge des Ausbaus der Infrastruktur entstehen wie Autobahnen, oder eine davon abgeleitete Notwendigkeit besitzen wie Tankstellen und Raststätten. Es sind Orte, die man im täglichen Leben zwangsläufig aufsuchen, durchqueren oder mit denen man interagieren muss, die man in der Regel aber nicht freiwillig besuchen würde. Große Einkaufszentren, Hotels, Hochhaussiedlungen an Stadträndern und Freizeitparks werden von Augé ebenfalls als Beispiele für Nicht-Orte genannt. Er geht so weit, selbst Flüchtlingslager und sogar virtuelle Orte wie das Internet als Nicht-Orte zu bezeichnen und begründet es damit, dass es Orte sind, die „künstlich“ geschaffen wurden und in denen Menschen „verwaltet“ werden. Es sind Orte der Anonymität, Einsamkeit und Entwurzelung. Auch wenn Marc Augé einräumt, dass sich diese Anonymität unter Umständen befreiend anfühlen kann, so besteht diese Freiheit einzig darin, Niemand zu sein, nicht als Individuum wahrgenommen zu werden. Die Nicht-Orte dienen dem Konsum, neigen zu Standardisierung, bzw. Vereinheitlichung (z.B. Franchise Schnellrestaurants wie McDonalds). Sie abstrahieren die Kommunikation: Etwa muss man im Supermarkt nicht mehr direkt mit den Verkäufern sprechen wie in den alten „Tante Emma-Läden“ – man nimmt selbst die Waren aus dem Regal, legt sie aufs Kassenband und zahlt. Mit Selbstbedienungskassen kann jeglicher Kontakt zu einem Menschen umgangen werden, auch wenn dieser nur aus „Guten Tag und Auf Wiedersehen“ an der Kasse bestehen würde. Die eigentliche Kommunikation findet über übertragene Daten bei der Kartenzahlung und den abschließenden Rechnungsbeleg statt. Ähnliches findet sich dutzendfach im alltäglichen Leben: Geld abheben am Bankautomat statt am Schalter in der Bank, Selbst-Einchecken in Hotels statt beim Concierge, Bestellungen über das Internet mit anschließender Lieferung in eine Postbox.

Dem Nicht-Ort liegt auf dem ersten Blick etwas Entmenschlichendes zu Grunde, menschlicher Kontakt wird umgangen oder vermieden und er profitiert davon, dass „echte Orte“ oft nicht mit der zunehmenden Standardisierung mithalten können. Gerade die Covid-19 Pandemie stellte eine Herausforderung für echte Orte dar, während Nicht-Orte ein geringeres Problem damit hatten, wie Kulturkritiker Grafton Tanner in seinem 2021 erschienenem Werk The Hours have lost their Clock: The Politics of Nostalgia beschreibt: Während es den großen Supermarkt- und Restaurantketten nicht sehr schwer fiel, sich durch den Lockdown und die Wiedereröffnung unter Hygienemaßnahmen zu retten, weil die Anpassung daran nur einen weiteren Schritt der Homogenisierung darstellte und der menschliche Kontakt sowieso bereits vor der Pandemie auf ein Minimum reduziert wurde, litten kleine Läden und Restaurants darunter, sich aus Geld- oder Zeitmangel nicht schnell genug anpassen zu können und verschwanden. Tanner beschreibt im Kapitel „In search of lost time and space“ auch die Georgia State Route 316, eine Autobahn welche Atlanta, die Hauptstadt Georgias und Athens, eine Universitätsstadt des Bundesstaates, verbindet, als Beispiel eines Nicht-Ortes: „Although you can find it on a map and many drive it every day, it is nowhere, or at least it feels like it. Driving down it is a bleak experience, with very few anchors, beyond the construction sites, strip malls and road signs to indicate where you are.“ Diese Autobahn, über die täglich viele Arbeiter zwischen den beiden Städten pendeln, lässt jegliche Charakteristik eines historisch gewachsenen Ortes vermissen, sie führt durch das Nichts, ist ein Transitort, den die Pendler so schnell wie möglich durchqueren wollen (womit Tanner auch die vielen Unfälle auf dieser Straße erklärt).

Interessanterweise beschreibt er in seinem Buch einen Prozess, durch den auch ein Nicht-Ort zu einem echten Ort wird, eine eigene Charakteristik und Verortung bekommt und zu dem Menschen sogar nostalgische Gefühle entwickeln. Scheinbar muss er nur lange genug existieren, um sich zu einem Teil persönlicher Identitäten zu entwickeln. Ein Beispiel wären die „Dead Malls“, leerstehende Einkaufszentren, welche vor allem in Amerika seit dem Durchbruch des Internethandels immer häufiger wurden. Eigentlich waren die großen Malls uniforme Nicht-Orte, mit immer denselben Franchise-Unternehmen, doch nun rufen ihre leeren Hallen gerade in der Generation X und den älteren Millennials Wehmut hervor, wie man in etlichen YouTube- bzw. Instagram-Videos mit Touren durch die, wie Geisterstädte anmutenden, toten Einkaufspassagen sehen kann. Wer die Zentren noch aus der Zeit ihrer Nutzung kannte, für den kann so eine Videotour gleichzeitig beklemmend schaurige, aber auch nostalgische Gefühle auslösen. Auch bieten die ungenutzten Hallen Obdachlosen Unterschlupf, oder Graffiti-Künstler leere Wände zum Experimentieren. Der Literaturwissenschaftler Dr. Lars Wilhelmer schrieb dazu in einem Artikel mit dem Titel Besser als nichts. Transit-Orte und Nicht-Orte: „Vielleicht sind diese Nicht-Orte also gar nicht so nichtig. Vielleicht passiert gerade hier etwas, das nirgendwo sonst passiert. Vielleicht wäre es sinnvoll, diese Orte nicht durch den Mangel an etwas zu definieren, sondern durch ihre Differenz zu anderen Orten, durch ihre Andersartigkeit.“

Auch Jena hatte bis vor zwei Jahren eine „Dead Mall“, das heutige Wiesencenter (früher Schiller-Passage), welches zwischen 2013 und 2021 leer stand, Obdachlosen eine Herberge bot, wenn auch nicht legal. Seit der Renovierung ist es wieder ein kommerziell genutzter Nicht-Ort mit Franchise-Fitnesscenter, Drogerie und Supermarkt, statt leeren Hallen und stillstehenden Rolltreppen – es bietet weder eine Unterkunft, noch eine Leinwand. Vielleicht werden andere Nicht-Orte Jenas einen erfolgreicheren Wandel hin zu lebenswerten Orten durchlaufen, wie etwa durch die EichplatzAreal-Initiative, oder durch die bereits seit Jahren existierende Initiative zur Umgestaltung des Ernst-Abbe-Platzes, für die es seit etwa 2012 eine Arbeitsgruppe der FSU gibt und die mittlerweile auch Klimaanpassungsmaßnahmen wie Wasserspender, Grünflächen und Schattenelemente anstrebt. Dabei darf aber nicht die Ansiedelung von Gewerben und Immobilienspekulanten im Vordergrund der Maßnahmen stehen, sondern die Überlegung, wie die Stadt all ihren Bewohnern einen „echten“ und lebenswerten Ort anbieten kann.


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