Nahostserie: „Die Enttäuschung zu durchbrechen ist nicht einfach.“

In unserer Nahostserie wollen wir auch Menschen zu Wort kommen lassen, die sich vor Ort für eine Lösung der Probleme einsetzen. Mit Henrik Meyer, dem Projektmanager des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Palästinensischen Gebiete, sprachen wir über die aktuelle Lage.

Herr Meyer, Ihr Büro für die palästinensischen Autonomiegebiete befindet sich in Jerusalem. Ist es Ihnen als „außenstehendem“ Beobachter dabei überhaupt möglich, unmittelbar den Alltag der Palästinenser zu erleben?
Nun, unser Büro befindet sich in Ost-Jerusalem und damit im palästinensischen Gebiet. Die Mitarbeiter in unserem Büro und unsere Nachbarn sind Palästinenser. Aber ich gebe Ihnen Recht: das Leben außerhalb Ost-Jerusalems ist ein anderes als in der Stadt. Dies ist einer der Gründe, warum ich in Ramallah lebe und täglich nach Jerusalem pendle. Abgesehen davon arbeiten wir nicht nur in Ost-Jerusalem, sondern eben auch in Ramallah, Bethlehem, Nablus, sogar in Gaza. Ich denke, dass ich relativ gut das Alltagsleben der Palästinenser miterlebe.

Und wie gestaltet sich dieses Alltagsleben Ihrer Wahrnehmung nach? Welche Einschränkungen gibt es?
Man kann sich, sofern man nicht einmal selbst vor Ort gewesen ist, kaum vorstellen, was es bedeutet, als Palästinenser im eigenen Land zu leben. Siedlerstraßen durchziehen das Land, deren Nutzung für Palästinenser eingeschränkt ist. Siedlungen mitten im Palästinensischen Gebiet mit fast einer halben Million Einwohnern sind für Palästinenser vollständig gesperrte Gebiete. Um zwischen den so verbliebenen Gebieten zu wechseln, müssen Palästinenser mitunter Tunnel benutzen oder wochenlang auf eine Genehmigung warten. Nun ja, und nach Israel oder Ost-Jerusalem dürfen ohnehin nur die wenigsten. Das Leben der Palästinenser spielt sich auf sehr kleinem Raum ab.

Hat die deutsche Herkunft der Mitarbeiter Ihres Büros – oder vielleicht noch mehr Ihrer Kollegen in Israel – einen Einfluss darauf, wie die Akteure vor Ort Sie wahrnehmen oder mit Ihnen umgehen?
Durchaus. Mehr noch als die deutsche Herkunft ist allerdings die sozialdemokratische Verankerung der Friedrich-Ebert-Stiftung von Bedeutung. Die deutsche Sozialdemokratie wird in den Palästinensischen Gebieten – und im Übrigen auch in Israel – hoch geschätzt. Gerade unsere politischen Partner, insbesondere von der Fatah, wissen unser Engagement sehr zu würdigen. Generell arbeiten in den Palästinensischen Gebieten sehr viele Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, so dass sich Arbeitskontakte und auch Freundschaften problemlos gestalten.

Das Feedback scheint also positiv zu sein. Sind Ihnen denn auch gewaltsame Akte gegen Ihre Mitarbeiter bekannt?
Nein, so etwas ist bislang noch nicht vorgekommen. In der Regel sind Palästinenser daran interessiert, ihre Anliegen der Welt bekannt zu machen. Internationale Gäste sind fast immer willkommen, gerade in Ramallah, und werden äußerst gut behandelt.

Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren, etwa der palästinensischen Selbstverwaltung?

In den Palästinensischen Gebieten sind sehr viele internationale Akteure, v.a. NGOs und Entwicklungshilfeorganisationen, aktiv. Palästinenser haben deswegen eine gewisse „Routine“ im Umgang mit ausländischen Akteuren. Unsere Partner sind politische Parteien, Think-Tanks, Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft. Von Seiten der Palästinensischen Autonomiebehörde haben wir keine Schwierigkeiten, im Gegenteil: unsere Arbeit wird als wichtig empfunden, da wir direkt den politischen Prozess in den Palästinensischen Gebieten befördern.

Gibt es auch eine (wie auch immer geartete) Zusammenarbeit mit gewählten Vertretern der Hamas?
Nein, eine Zusammenarbeit gibt es nicht. Natürlich muss man sich irgendwie mit den politischen Realitäten vor Ort auseinander setzen. Unsere Partner sind jedoch unseren Idealen verbunden und stehen der Hamas kritisch gegenüber.

Wie ist eine Arbeit im Gazastreifen möglich, ohne die Hamas als „politische Realität“ zu involvieren?
Im Gazastreifen arbeiten wir schwerpunktmäßig in den Bereichen Menschen- und Frauenrechte sowie Zivilgesellschaft. Dies sind Bereiche, die dem unmittelbaren politischen Zugriff entzogen sind und eher auf einer „menschlichen“ Ebene ansetzen. Wir müssen der Anwesenheit der Hamas natürlich insofern Tribut zollen, als wir etwa Projekte, die sich mit der Fatah beschäftigen, nicht im selben Maße durchführen können wie in der West Bank. Trotzdem ist politische Arbeit im Gazastreifen möglich, sinnvoll und ausgesprochen wichtig. Es ist erstaunlich und bedauerlich, dass nicht auch andere politisch arbeitende Organisationen im Gazastreifen aktiv sind.

Es ist häufig vom „Bruderkrieg“ zwischen den Palästinensergruppen auf Seiten der Fatah und der Hamas die Rede. Wie ist unter solchen Bedingungen eine Vertretung und Selbstverwaltung der Palästinenser überhaupt denkbar?
Sie haben Recht, das ist eines der größten Probleme, denen sich der Friedensprozess gegenübersieht. De facto kann die Palästinensische Autonomiebehörde ihre Aufgaben nur noch für die Bewohner der West Bank erfüllen. Gleichzeitig führen die Streitigkeiten zwischen Fatah und Hamas dazu, dass auch die PLO nur noch bedingt für alle Palästinenser sprechen kann. Es muss deswegen allen Akteuren, die an einem konstruktiven und erfolgreichen Friedensprozess interessiert sind, daran gelegen sein, die nationale Einheit der Palästinenser zu befördern. Hierzu gehört auch, den Palästinensern eine echte Perspektive für die Errichtung eines eigenen lebensfähigen Staates zu eröffnen. Umfragen zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Palästinenser nach wie vor an Friedensverhandlungen und einer Zweistaatenlösung interessiert ist. Wenn dieses Ziel von den anderen beteiligten Akteuren ernsthaft angestrebt wird, werden auch die Palästinenser wieder mit einer Stimme sprechen wollen und können.

Ihre Abteilung hat auch Untersuchungen zum Gazakrieg publiziert. Inwieweit erleben Sie und Ihre Mitarbeiter die Gewalt des Nahostkonflikts selbst mit?

Wir sind die einzige politische Stiftung, die ein Büro im Gazastreifen hat. Während des jüngsten Krieges waren wir alle in großer Sorge um unseren dortigen Kollegen. Bei unseren regelmäßigen Besuchen sehen wir, wie verheerend die Gewalt den Gazastreifen getroffen hat. Zudem lebt man in dem ständigen Bewusstsein, dass es mit der relativen Ruhe jederzeit vorbei sein kann. Auch innerpalästinensische Gewalt, die im letzten Monat etwa in Qalqilya und Hebron aufgeflammt ist, erfüllt alle Menschen, die in den Palästinensischen Gebieten leben, mit ständiger Sorge. Trotzdem bietet das Leben in den Palästinensischen Gebieten, bei allen negativen Aspekten, auch viele schöne Dinge und ist bei Weitem nicht in dem Maße von Gewalt geprägt, wie es im Ausland wahrgenommen wird.

Das heißt die ausländische Berichterstattung liefert ein einseitiges bzw. verzerrtes Bild?
Die Lage in den Palästinensischen Gebieten und Israel ist komplex. Kaum jemand versteht die Situation, ohne vor Ort gewesen zu sein. Medienberichterstattung aus dieser Region ist eine äußerst schwierige Aufgabe und schafft es in der Tat nicht immer, ein ausgewogenes Bild zu transportieren. Weder sollten die bestehenden Probleme dazu verleiten zu denken, das Leben in Palästina sei von ständiger massiver Gewalt geprägt. Noch sollte man über die bestehenden Konflikte hinwegsehen und denken, das relativ einfache Alltagsleben in Ramallah zeuge davon, dass Probleme nicht vorhanden oder gelöst seien. Der wichtigste Schritt für den außen stehenden Beobachter ist die Einsicht, dass der Konflikt von beiden Seiten betrachtet werden muss.

Wie beurteilen Sie, insbesondere nach dem Gazakrieg, die humanitäre Situation in den palästinensischen Gebieten? Konnten Sie sich selbst ein Bild machen?

Die humanitäre Situation ist von Region zu Region sehr unterschiedlich. In Ost-Jerusalem und Ramallah ist die Lage zwar nicht optimal, dort haben die Menschen aber im Wesentlichen Zugang zu allen notwendigen Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. In den ländlichen Gebieten der West Bank, v.a. in den Gegenden um Jenin und Hebron, sieht es schon ganz anders aus. Die Infrastruktur der israelischen Siedlungen macht dort wirtschaftliche Entwicklung fast unmöglich und führt zu einem erheblich höheren Maß an Armut. Der Gazastreifen schließlich ist humanitär nach wie vor in einer äußerst prekären Lage. Die Menge an Gütern, die über die israelischen Grenzübergänge kommt, reicht bei Weitem nicht aus, um die 1,5 Millionen Bewohner zu versorgen. Und auch die Tunnel nach Ägypten können diese Lücke nicht schließen. Zum Beispiel sind viele der im jüngsten Krieg zerstörten Krankenhäuser immer noch nicht funktionsfähig, weil Ersatzteile fehlen. Der Gazastreifen wurde während des Krieges stark zerstört. Seither ist kaum etwas geschehen, so dass die Lage dort immer noch fast genauso wie unmittelbar nach Kriegsende ist. Ein Wiederaufbau des Gazastreifens ist nach wie vor das humanitäre Gebot der Stunde.

In Europa wurde viel über die Bedeutung der Kairoer Rede von US-Präsident Obama geredet, von einem „Neuanfang“. Wie haben Sie die Reaktionen der Menschen vor Ort erlebt?
Die Palästinenser sind von jahrzehntelangen erfolglosen Verhandlungen enttäuscht. Diese Enttäuschung zu durchbrechen ist nicht einfach. Alles, was Obama gesagt hat, wurde mit Wohlwollen aufgenommen. Gleichzeitig glaubt aber kaum ein Palästinenser, dass der Rede politische Fortschritte folgen werden. Es ist nun von fundamentaler Bedeutung, den politischen Prozess voranzubringen. Die Sympathien der Palästinenser für Obama sind groß – dies ist eine Chance für den Friedensprozess, die man nicht verpassen sollte.

Benjamin Netanjahu sprach vor kurzem – mit erheblichen Vorbehalten – erstmals von einem eigenen Palästinenserstaat. Wie wurde diese Äußerung von den Palästinensern aufgenommen?
Man sollte die Äußerung in ihrem Kontext lesen. Netanjahu hat gleichzeitig einem Siedlungsstopp eine klare Absage erteilt, Jerusalem als ewige und ungeteilte Hauptstadt Israels bezeichnet und die palästinensischen Flüchtlinge als Verhandlungsgegenstand vollständig ausgeschlossen. Die Erwähnung des „Palästinenserstaats“ wird hierdurch wertlos, die Idee der Zweistaatenlösung ad absurdum geführt. Für die Palästinenser bietet die Rede keinen Anhaltspunkt für neue Hoffnungen im Friedensprozess, im Gegenteil.


In unseren bisherigen Interviews hieß es mal, nur Kleinigkeiten stünden einem Frieden im Weg, ein anderer sagte, er glaube nicht mehr an eine Lösung des Konflikts. Können Sie uns in etwa sagen, wie die Stimmungslage vor Ort aussieht – gibt es noch Optimisten?

Ja, es gibt noch Optimisten. Allerdings werden diese immer weniger. Je länger der Friedensprozess stagniert, desto größer wird die Zahl derjenigen, die sich desillusioniert vom politischen Prozess abwenden. Wenn wir vermeiden wollen, dass zukünftig die Parteien, die sich gegen den Friedensprozess aussprechen, an Zulauf gewinnen, muss diese Abwärtsspirale durchbrochen werden. Es müssen endlich die konkreten Probleme auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung angegangen werden, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass es sich lohnt, an die Erreichung eines Friedensabkommens zu glauben und dafür zu arbeiten.

Und was sind Ihrer Meinung nach diese konkreten Probleme?
Will man an der Idee der Zweistaatenlösung festhalten, muss vor allem die Frage der Siedlungen angegangen werden. Um es ganz deutlich zu sagen: Ein lebensfähiger palästinensischer Staat unter Beibehaltung der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen ist nicht denkbar. Der israelische Politikwissenschaftler Asher Susser sagte kürzlich auf einer Konferenz in Tel Aviv: „Wir können nicht über die Verteilung des Kuchens verhandeln und ihn gleichzeitig aufessen.“ Außerdem muss endlich eine gangbare Lösung für Jerusalem gefunden werden, die dem palästinensischen Anrecht auf den Ostteil der Stadt Rechnung trägt. Schließlich muss die Frage, was mit den palästinensischen Flüchtlingen geschehen soll, grundsätzlich beantwortet werden. Alle weiteren Fragen – etwa Sicherheitsgarantien für Israel, Wasserversorgung etc. – sind lösbar, wenn die grundsätzliche Verpflichtung auf die Erreichung der Zweistaatenlösung ernst genommen wird. Hierfür ist es, wie erwähnt, von großer Bedeutung, dass die Palästinenser politisch wieder mit einer Stimme sprechen können und die interne Spaltung überwinden.

Glauben Sie persönlich noch an eine friedliche Lösung?
Selbstverständlich, sonst würde ich nicht in diesem Land arbeiten. Ich denke, dass mit der neuen US-Administration die realistische Chance besteht, dem Friedensprozess neues Leben einzuhauchen. Der Weg zum Frieden ist vielfach vorgezeichnet worden: UN-Resolutionen, die Roadmap, die Annapolis-Konferenz und insbesondere die Arabische Friedensinitiative zeigen den Weg zum Frieden auf. Es ist von grundlegender Bedeutung, diese vielleicht letzte Chance zu einer Zweistaatenlösung nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

Herr Meyer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Frank

[Henrik Meyer arbeitet seit September 2008 als Projektmanager in der Niederlassung der Friedrich-Ebert­-Stiftung (FES) in Jerusalem. Er studierte Politikwissenschaft, Islamwissenschaft sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Hamburg und Damaskus. Seit dem Jahr 2003 ist Meyer Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Universität Hamburg. Vor seiner Arbeit bei der FES Jerusalem war er u.a. als Journalist und als Mitarbeiter des Asien-Afrika-Instituts der Universität Hamburg tätig. Seine Arbeitsgebiete bei der FES Jerusalem sind Wirtschafts- und Sozialpolitik, Frauen und Jugend sowie die politische Kooperation mit der palästinenischen Partei Al-Mubadara.]


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