memorique: Die Oktoberrevolution in der Peripherie

Lenin-Statue im Komsomol-Park in Odessa (Foto: Yuriy Kvach)

Auch 100 Jahre nach der Russischen Revolution prägen die Petrograder und Moskauer Perspektiven die Sicht auf die Ereignisse – und verkennen die Komplexität der Revolution am Rande des zerfallenen Russischen Reichs. Ein Blick ins ukrainische Odessa.

von Tanja Penter

Wie kam die Sowjetmacht nach dem Oktoberumsturz vom Zentrum in die Peripherie? Während die lokale Ereignisgeschichte der Oktoberrevolution in der damaligen Hauptstadt Petrograd inzwischen als gut erforscht und im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit fest verankert gelten kann, gilt dies nicht gleichermaßen für die revolutionären Geschehnisse in der Peripherie des ehemaligen Russischen Imperiums. Die Ereignisse, die auf den Oktoberumsturz in Petrograd folgten, zeigten zudem die Kontingenz und Fragilität der bolschewistischen Herrschaft und das Fehlen von Kohärenz, sogar in den Reihen der bolschewistischen Partei.
Die westliche Historiographie zum Revolutionsjahr 1917 war lange Zeit von einer zentralistischen Tradition geprägt und hat ihren Blick nahezu ausschließlich auf die Hauptstädte St. Petersburg und Moskau gerichtet. Dahinter stand häufig die stillschweigende Annahme, dass sich 1917 überall im zentralistisch organisierten Russischen Reich die gleiche Revolution ereignete. In gewissem Sinne folgten die westlichen Historiker damit den Vorgaben der Sowjethistoriographie, die versucht hat, die lokalen und regionalen Revolutionsgeschichten in einen engen ideologischen Deutungsrahmen zu pressen, der keinerlei Platz für die Untersuchung von nationalen, regionalen oder lokalen Sonderentwicklungen ließ.
Und so sind seit den 1970er Jahren erst einige wenige Regional- und Lokalstudien zur Revolution erschienen. In diesen erscheint die Revolution als vielschichtiger Prozess. Der Blick der Forscher richtete sich auf die komplexen Zentrum-Peripherie-Beziehungen, eine Vielzahl lokaler Akteure, verschiedene soziale, ethnische und politische Gruppen, auf Aspekte von Gender, Generation und Religion sowie auf die Bedeutung von vielfältigen Gewalterfahrungen.

Revolution mit Arbeitslosen
Am Beispiel der multiethnischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer lässt sich eine ganz andere Geschichte der Revolution präsentieren. Das Beispiel verdeutlicht das komplexe Ineinandergreifen sozialer, nationaler und lokaler Faktoren im Revolutionsjahr 1917. Odessa war zu dieser Zeit die viertgrößte Stadt des Russischen Reichs nach Petrograd, Moskau und Warschau und die größte Stadt der Ukrainischen Volksrepublik, die im November 1917 von der ukrainischen Regierung in Kiew proklamiert worden war.
Nach der Oktoberrevolution in Petrograd geriet Odessa ins Spannungsfeld des ukrainisch-russischen Konfliktes zwischen der Petrograder Sowjetregierung und der sogenannten Zentralrada, der nationalen ukrainischen Regierung in Kiew, die einen territorialen Anspruch auf Odessa und das am Schwarzen Meer gelegene Gouvernement Cherson erhob. Es entwickelte sich eine komplexe Wechselbeziehung zwischen den Vorgängen in Petrograd, Kiew und Odessa, wobei für den Verlauf der Ereignisse in Odessa zudem die Nähe zur rumänischen Front und der Einfluss verschiedener militärischer Organisationen von Bedeutung waren. Die Stadtbevölkerung Odessas, die kulturell und sprachlich sehr stark in die russische Mehrheitsgesellschaft integriert war, identifizierte sich nicht mit einer selbständigen Ukrainischen Republik innerhalb einer Russischen Föderation und schon gar nicht mit einem unabhängigen ukrainischen Staat. Andererseits genoss aber auch die Partei Lenins, die nach der Petrograder Oktoberrevolution in Rußland die Staatsmacht verkörperte, in Odessa nicht die gleiche Popularität wie in den Hauptstädten und einigen anderen größeren Städten. Weder die Führung in Petrograd noch in Kiew verhießen einen Weg, der in der Stadtbevölkerung eine mehrheitliche Zustimmung fand.
Neben den genannten äußeren gab es noch weitere „innere“ Faktoren, die den Ereignissen des Revolutionsjahres in Odessa ein anderes Gesicht verliehen als in den Hauptstädten: Dazu zählte die besondere soziale und ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung, die mit ihrem sehr großen jüdischen Bevölkerungsanteil sicher als spezifisch gelten kann. Zugleich kann Odessa aber auch als exemplarisch für die überwiegend von Nicht-Ukrainern bewohnten größeren Städte der Ukraine und ihre Haltung gegenüber der ukrainischen Autonomie und Staatlichkeit gelten: In den Städten der Ukraine bestand die Bevölkerung zum größten Teil aus Russen und Juden. Sie waren „verschwindend kleine Inseln in einem ukrainischen Bauernmeer“, wie es ein Vertreter der ukrainischen Nationalbewegung formulierte. Die wichtigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Positionen in den Städten wurden zumeist von Nicht-Ukrainern besetzt: In Adel und Bürokratie sowie bei Unternehmern und Industriearbeitern dominierten Russen; in Handel und Gewerbe besaßen Juden eine starke Stellung.
Die fehlende Basis der ukrainischen Regierung in den großen Städten, wo sich industrielle Ressourcen sowie strategisch wichtige Kommunikations- und Transportmöglichkeiten konzentrierten, hat in bedeutendem Maße zum Scheitern der ukrainischen Staatsgründung beigetragen.
Zu den weiteren Besonderheiten der Revolution in Odessa gehörte, dass sich hier eine sehr starke Bewegung der Arbeitslosen bildete, angeführt von dem arbeitslosen jüdischen Lehrer Chaim Ryt’, die (in Konkurrenz zum Arbeiterrat) ihren eigenen „Rat der Arbeitslosen“ gründete. Dieser Sowjet der Arbeitslosen gehörte zu den Kräften, die gemeinsam mit den Bolschewiki im Januar 1918 die Macht in der Stadt eroberten und eine Sowjetmacht in der Stadt einrichteten. Ebenso wie Lenin oder Trotzki zählte auch Chaim Ryt’ zu jenen Abenteurern, Charismatikern, begeisterungsfähigen Rednern, Strategen und Organisatoren, für die sich im Oktober 1917 neue Möglichkeiten eröffneten und die die Gunst der Stunde zu nutzen wussten.
Bei aller Besonderheit verweist die Geschichte der Odessaer Arbeitslosen aber auch auf einen allgemeineren Zusammenhang: Es waren nicht nur in Petrograd und Odessa, sondern auch andernorts im Russischen Reich oftmals Vertreter von im Zarenreich marginalisierten oder sogar diskriminierten Bevölkerungsgruppen, die den historischen Moment der Revolution zu nutzen wussten. Wohlgemerkt: keinesfalls nur jüdische Akteure – um hier nicht das antisemitische Stereotyp vom „jüdischen Revolutionär“ zu befördern! Die Geschichte dieser peripheren Akteure der Revolution stellt ein vielversprechendes Forschungsfeld dar, das bisher noch nicht systematisch bearbeitet wurde.
Das Revolutionsjahr 1917 war in Odessa auch durch besondere lokale Autonomieforderungen geprägt, die auf älteren Traditionen aufbauten aber auch die besonders starke lokale und urbane Identität der Stadtbevölkerung in Abgrenzung zum Land zum Ausdruck brachten. Sie fanden ihren Ausdruck in den beiden konkurrierenden Konzepten: zunächst der Freistadt und dann der Sowjetrepublik Odessa.
Die Oktoberrevolution hatte in Odessa eigentlich erst im Januar 1918 stattgefunden: Nach Straßenkämpfen lokaler Rotgardisteneinheiten gegen die ukrainischen Truppen der Zentralrada, bei denen letztere unterlagen, war es zur Einrichtung einer „Sowjetrepublik Odessa“ gekommen. Die Regierungsgeschäfte übernahm in Odessa ebenso wie in der Hauptstadt Petrograd ein „Sowjet der Volkskommissare“, der fast ausschließlich aus gestandenen Bolschewiki, darunter einige Abgesandte der Petrograder Parteizentrale, bestand. Formal sollte die neue Sowjetregierung Odessas sowohl den Petrograder Volkskommissaren, als auch der ukrainischen Sowjetregierung in Charkow, die bereits im Dezember 1917 (als Gegenentwurf zur ukrainischen Zentralrada in Kiew) gebildet worden war, untergeordnet sein. Tatsächlich blieb das Verhältnis aber von starker Konkurrenz geprägt. Ihre formale Unterordnung unter die ukrainische Sowjetregierung hielt die Odessaer Sowjetrepublik auch nicht davon ab, autonome Machtansprüche zu verfolgen und ein eigenes Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten zu unterhalten. Bis zum März 1918 bildeten sich in der Ukraine dann noch weitere unabhängige Sowjetrepubliken auf der Krim und im Donezbecken (Donec-Krivoi Rog), die um Nahrungsmittel und andere Ressourcen konkurrierten. Die einzelnen Sowjetregierungen fühlten sich bestenfalls gegenüber Petrograd, aber nicht gegenüber der ukrainischen Sowjetregierung, die die oberste politische Autorität über die gesamte Ukraine beanspruchte, verantwortlich.
Auch andernorts im ehemaligen Russischen Reich entstanden in dieser Zeit eigenständige Sowjetrepubliken, wie etwa im April 1918 im Fernen Osten in der am Amur gelegenen Stadt Chabarowsk. Nicht zuletzt war die Gründung dieser Sowjetrepubliken auch ein Versuch der Abgrenzung von größeren nationalen oder regionalen anti-bolschewistischen Projekten, wie der Ukrainischen Volksrepublik oder der Provisorischen Regierung in Sibirien. Oft fielen diese autonomen Sowjetrepubliken an den Peripherien des Imperiums schon bald dem Eingreifen äußerer Mächte zum Opfer: So wurde etwa das Ende der Sowjetrepublik Odessa schon nach wenigen Wochen durch die Besatzungsherrschaft der Mittelmächte eingeleitet.
Diese frühen Formen eines Sowjetföderalismus in der Peripherie, die von den sowjetischen Parteihistorikern später (kaum überraschend) als unzulässige Abweichungen verurteilt wurden, sind von der Forschung in ihrer Bedeutung bisher noch nicht erkannt, geschweige denn systematisch untersucht worden.

Revolution im Imperium
Heute existieren zwei konkurrierende historische Narrative zur Revolution in der Ukraine quasi nebeneinander: Ukrainische Historiker verstehen die Ereignisse des Revolutionsjahres 1917 oft als spezifisch Ukrainische Revolution, die hauptsächlich auf die Erzielung der nationalen Unabhängigkeit ausgerichtet war. Im Zentrum ihrer Arbeiten stand die Beschäftigung mit der politischen Geschichte der nationalen Institutionen und der Staatsgründung.
Im Gegensatz dazu verstand die Sowjet-Historiographie die Revolution in der Ukraine ausschließlich als Kampf sozialer Klassen und damit als Teil der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ Gesamtrusslands. Und die postsowjetische russische Historiographie knüpft zumindest teilweise daran an und misst den „bourgeoisen ukrainischen Nationalisten“ und den von ihnen gegründeten kurzlebigen ukrainischen Nationalstaaten der Jahre 1917 bis 1921 bis heute nur marginale Bedeutung zu.
Es mangelt bisher immer noch an Studien, die eine integrierende Sichtweise einnehmen und die nationalen und sozialen Entwicklungen des Revolutionsjahres in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Verflechtung betrachten. Nahezu unerforscht ist die spannende transregionale Verflechtungsgeschichte verschiedener autonomer Gebilde des zerfallenden Imperiums in Revolution und Bürgerkrieg jenseits des Zentrums. Diese beinhaltete oftmals auch einen Transfer von Konzepten und Ideen. So wurden beispielsweise Konzepte der ukrainischen Volksrepublik zum Umgang mit Minderheiten in der russischen Fernostrepublik, wo die ukrainische Diaspora eine wichtige Rolle spielte, später erneut aufgegriffen.
Die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Revolutionsjubiläum werden in Kiew ganz im Zeichen der nationalen ukrainischen Revolution und der (gescheiterten) ukrainischen Staatsgründungsversuche (1917-1921) stehen, die in der offiziellen ukrainischen Geschichtspolitik als „wichtigste und schwierigste Periode der Geschichte des ukrainischen Volkes im 20. Jahrhundert“ gilt.
In Russland gedenkt man hingegen der „Großen Russländischen (Rossijskaja) Revolution“, die, die gesamte Zeitspanne von 1917 bis 1922 (also Februar- und Oktoberrevolution sowie den Bürgerkrieg) als Gesamtepoche zusammenfasst. Zugleich wird diese Zeitspanne (im historischen Rückgriff auf ihren Vorläufer im 17. Jahrhundert) als „Zeit der Wirren“ bezeichnet und als eine Zeit des Übergangs verstanden. Die Revolution erscheint nun auch nicht mehr als Gründungsmythos einer gerechteren Gesellschaft, sondern als „Störfaktor in einem übergeordneten imperialen Projekt“ – so hat es der Schweizer Slawist Ulrich Schmid jüngst bezeichnet.

Tanja Penter ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg. Sie forscht unter anderem zur Geschichte Russlands, der Ukraine und der Sowjetunion im 19. und 20. Jahrhundert und zur Vergangenheitspolitik in Osteuropa.


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