memorique: Von bilateraler Verständigung zum Dialog über Geschichte in Europa?

Diskussion rund um 'Europa – Unsere Geschichte' auf der didacta 2017 in Stuttgart, u. a. mit Rita Süssmuth und Gesine Schwan (Foto: © GEI / C. Brandau)

Wie gehen wir mit Geschichte um? Das deutsch-polnische Projekt eines gemeinsamen Geschichtsschulbuchs soll nicht nur die binationale Verständigung, sondern auch gesamteuropäische Perspektiven vertiefen.

von Christiane Brandau

Wer seit dem Sommer mitverfolgt hat, wie Politik und Medien in Polen sich mit der Frage deutscher Reparationszahlungen an Polen beschäftigten, der mag ermessen, welches Konfliktpotential noch heute in der deutsch-polnischen Geschichte liegt. Problematisch wird der Dialog über historische Fragen dort, wo Unkenntnis zum Tragen kommt, obwohl Empathie gefordert wäre. Mangelndes oder unvollständiges Wissen über den Nachbarn im Osten ist in Deutschland jedoch keine Seltenheit und führt zu teils ernsthaften Irritationen. Ein prominentes Beispiel ist die aus dem Besatzungskontext herausgerissene, verkürzte und damit ahistorische und verzerrende Darstellung der polnischen Untergrundarmee im TV-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter: Sie reduzierte polnischen Widerstand gegen die NS-Besatzung auf einen Haufen wilder Antisemiten in den Wäldern und wurde in Polen mit entsprechender Entrüstung aufgenommen.
Weniger schlagzeilentauglich – folgt man der Devise, gute Nachrichten seien keine Nachrichten –, dafür umso bemerkenswerter sind Austauschforen und Projekte, in denen deutsche und polnische Historikerinnen und Historiker seit langem bewährt zusammenarbeiten, um das Geschichtsverständnis in beiden Gesellschaften voranzubringen. Eine hervorgehobene Rolle spielt das geschichtsdidaktische Gemeinschaftsprojekt Europa – Unsere Geschichte. Unter diesem Titel erscheint bis 2020 erstmals eine identische, von einem binationalen Team parallel in deutscher und polnischer Sprache entwickelte vierbändige Schulbuchreihe zur europäischen Geschichte von der Ur- und Frühgeschichte bis zur Gegenwart; die ersten beiden Bände liegen bereits vor. Vorgesehen sind sie für den regulären Einsatz in der Sekundarstufe I in Deutschland und der entsprechenden Schulstufe in Polen. Begleitet wird die Publikation der Bände durch Lehrerfortbildungen sowie an eine breitere Öffentlichkeit gerichtete Präsentationen, die das Schulbuchprojekt und seine ideellen Ziele bekannter machen und die Implementierung an Schulen beiderseits der Oder befördern sollen.
Der Gedanke an ein deutsch-polnisches Geschichtsbuchprojekt mag nahegelegen haben, nachdem 2006 der erste Band des deutsch-französischen Oberstufenlehrwerks Histoire/Geschichte erschienen war. Geäußert hat ihn erstmals der damalige Bundesaußenminister Steinmeier, der bald in seinem polnischen Amtskollegen einen Verbündeten fand. Heute sichert der Steuerungsrat dem Projekt als eine Art Kuratorium die Finanzierung und kontinuierliche politische Unterstützung. Er setzt sich zusammen aus Vertretern des Auswärtigen Amts, des federführenden Bundeslandes Brandenburg und der Kultusministerkonferenz, deren polnischen Counterparts sowie Historikern beider Länder.

Aufwendige Expertenarbeit
Inhaltlich wie ideell steht das Projekt jedoch auf einer festen zivilgesellschaftlichen Basis: Den Grundstein bilden die Arbeiten der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, in der sich Historiker und Geographen seit 1972 für eine sachgerechte und angemessene Repräsentation des Nachbarn in den beiderseitigen Geschichtsbüchern einsetzen und so die deutsch-polnische Verständigung vorantreiben. Für das Schulbuchprojekt richtete die Kommission einen Expertenrat ein, der ein umfassendes Konzept erarbeitete und sich auch heute als wichtiges Beratungsgremium am Projekt beteiligt.
Seit 2012 arbeitet der polnische Verlag Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne gemeinsam mit dem deutschen Eduversum an der konkreten Ausarbeitung der Schulbuchreihe. Zur Seite stehen ihnen neben dem Expertenrat die wissenschaftlich koordinierenden Institutionen Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung und das Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Jeder einzelne Beitrag wird von einem Autorenduo aus Deutschland und Polen erstellt, durch Epochenexperten und Fachdidaktiker aus dem Expertenrat kommentiert und von den Verlagen in Kooperation mit den wissenschaftlichen Koordinatoren beider Seiten redigiert. Allein die in jedem Schritt fälligen Übersetzungen und Rückübersetzungen erfordern erheblichen Aufwand: Vom Start bis zur Fertigstellung von Band 1 etwa vergingen vier Jahre, während derer sich die Redaktionen im Schnitt ein Mal im Monat in Warschau oder Wiesbaden trafen und in wöchentlichen Telefonkonferenzen sicherstellten, dass die laufenden Arbeiten immer genau aufeinander abgestimmt sind. Hinzu kommen noch Treffen mit Autoren oder Gremien.

Das Beste aus zwei Welten
Den Rahmen für die Arbeiten markieren die 16 Geschichtslehrpläne der Bundesländer sowie der polnische Lehrplan, die Inhalte und Lernziele abstecken. Daraus ergibt sich die überaus anspruchsvolle Aufgabe, Kompromisse zwischen zwei didaktischen Kulturen zu finden – dem vorrangig auf Kompetenzerwerb zielenden, exemplarisch arbeitenden deutschen Ansatz sowie dem stärker auf die Erarbeitung fester, auch detailreicher Wissensbestände gerichteten polnischen Ansatz. Positiv gewendet wird dabei das Beste aus zwei Welten sinnvoll kombiniert. Richtschnur für die Ausgestaltung des Lernstoffes ist das durch den Expertenrat formulierte didaktische Konzept. Dessen transnationale Ausrichtung ist im deutschen wie im polnischen Vergleich innovativ: Dem deutschen Publikum wird die europäische Geschichte erstmals im Sinne einer „Osterweiterung“ des historischen Gedächtnisses aus einer nicht-westlichen Perspektive nähergebracht – und vice versa. Dabei betreibt Europa – Unsere Geschichte keine spezialisierende Engführung – es entsteht also kein Geschichtsbuch zu den deutsch-polnischen Beziehungen –, sondern erweitert den Blick auf die europäische Weltgeschichte um transnationale Zugänge.
Strukturgebend sind die didaktischen Prinzipien der Multiperspektivität und Kontroversität. Auf altersgerechte Weise wird Schülern vermittelt, dass unser Urteil über die Geschichte und das Bild, das wir von dieser zeichnen, abhängig sind von unserem Standpunkt und den Fragestellungen, die wir an die historische Materie herantragen. Die Jugendlichen setzen sich mit der Diversität historischer Erfahrungen in Europa auseinander und erfahren, dass verschiedene Ereignisse in der Alltagskultur der beiden Länder als sinnstiftend tradiert und dieselben Ereignisse je nach Standpunkt ganz unterschiedlich auf die Gegenwart bezogen werden. Sie sollen dabei befähigt werden, zu eigenen sachgerechten Urteilen zu kommen, ihren Blick auf die Geschichte zu reflektieren und darüber in Dialog zu treten – nicht nur, aber auch ganz konkret dort, wo etwa im Schüleraustausch historische Fragen berührt werden. Auf diese Weise möchte Europa – Unsere Geschichte einen Beitrag leisten zur besseren Verständigung zwischen Deutschen und Polen – in Weiterführung des Austauschgedankens aber ebenso zwischen Deutschen, Polen und weiteren Partnern innerhalb und außerhalb Europas.

Christiane Brandau wirkt am Georg-Eckert-Institut am deutsch-polnischen Projekt eines gemeinsamen Geschichtsbuchs mit. Sie ist seit 2004 beruflich im deutsch-polnischen Austausch tätig, mit Stationen u. a. bei der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, dem Auswärtigen Amt und dem DAAD.

Kontakt: brandau[at]gei.de


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