memorique: Zwischen Völkermord und Umzügen in die fruchtbare Wüste

Denkmalkomplex Zizernakaberd („Schwalbenfestung“) in Jerewan: Jährlich am 24. April versammeln sich dort unter anderem armenische Schüler, um der Opfer des Völkermordes zu gedenken. (Foto: Rita Willaert)

Die Schule ist nicht nur ein Ort des Erlernens von Geschichte, sondern auch der aktiven Erinnerungskultur. Armenien und die Türkei verbindet eine gemeinsame Vergangenheit – doch bei der Thematisierung des Völkermords im Unterricht trennen sie Welten.

von Annegret & Szaffi

Scharen von Menschen strömen zum Gedenkkomplex Zizernakaberd nahe der armenischen Hauptstadt Jerewan. Es ist der 24. April, nationaler Tag des Gedenkens an den Genozid. „Der Völkermord stellt den zentralen Knotenpunkt für die armenische Identität dar, der die unterschiedlichen Gruppen der Armenier und Diaspora-Armenier verbindet“, so Tsypylma Darieva vom Institut für Kaukasiologie an der FSU Jena. Ein Phänomen, das in Armenien selbst erst in den letzten 20 Jahren diese hohe Bedeutung erlangte: Zu sowjetischen Zeiten spielte der Genozid und die Erinnerung an ihn eine eher untergeordnete Rolle und war eher in die allgemeine und insbesondere in die antifaschistische Erinnerungskultur eingebettet, erklärt Darieva. Ähnlich verhielt es sich in der Schulbildung, wie Madlen Vartian, stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deutschland, beschreibt: „Es gab die Behandlung des Genozids in den Schulbüchern zunächst einmal nicht. Das war tabu, wie so Einiges in der Sowjetunion tabu war. Dazu gehörte auch die nationale Geschichtsschreibung.“ In den 1990er Jahren, nach der Unabhängigkeit Armeniens, kam es dann zu einem deutlichen Wandel, der auch in den Schulen seinen Niederschlag fand.

Lernstoff Aghet
Nebst den Besuchen zentraler Gedenkorte haben auch andere Erinnerungsrituale Eingang in den Alltag armenischer Schüler gefunden: „In meiner Schule wurden unter anderem Literaturveranstaltungen organisiert. Dort wurde aus Werken vorgelesen, in denen die Ereignisse thematisiert werden und Autoren vorgestellt, die dem Genozid zum Opfer fielen“, erinnert sich die armenische Studentin Tatevik H. an ihre Schulzeit. Auch Theateraufführungen, musikalische Veranstaltungen und Wettbewerbe, etwa um den besten Schulaufsatz über den Völkermord, gehören zu den kollektiven Gedenkritualen in armenischen Schulen. Der Besuch von entsprechenden Museen wird den Schülern teilweise freigestellt – viele Ausstellungsstücke sind nichts für schwache Nerven. Als Teil der armenischen Geschichte sind die Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts natürlich auch ganz selbstverständlicher Lernstoff an armenischen Schulen, nicht nur im Fach Geschichte, sondern unter anderem auch im Fach Armenische Literatur. Obwohl eigentlich für die 8. Klasse eingeplant, wird in vielen Schulen das Thema schon eher behandelt und auch in den darauffolgenden Klassenstufen wiederholt und vertieft.
Vor dem Hintergrund der verstärkten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Materie seit Ende der Sowjetzeit wurden auch die Schulbücher neu gestaltet. „Ich erinnere mich besonders an die schrecklichen Bilder, die neben dem geschriebenen Text zu sehen waren, aber auch an Einzelgeschichten, zum Beispiel an die Heldentaten der Westarmenier in Musa Dagh“, rekapituliert Tatevik G., als wir sie nach Lehrbüchern aus seiner Schulzeit fragen. Auch viele andere ehemalige Schüler erinnern sich hauptsächlich an Berichte von Überlebenden und an Bilder von Deportationsmärschen.

Pflichtthemen versus Pflichtbewusstsein
Natürlich werden auch die Chronologie der Ereignisse und der historische Kontext vermittelt: Die Vorgeschichte zum Völkermord, der Ablauf der Deportationen, aber auch die nachfolgenden Ereignisse wie die Istanbuler Prozesse oder die Ermordung der jungtürkischen Führer im Exil werden behandelt. Die türkische Sichtweise auf die Ereignisse um 1915 wird nicht in jedem Fall im Unterricht besprochen. Auch die Rolle des Deutschen Reiches und deutscher Unternehmen wird nicht an jeder Schule behandelt – insbesondere „nicht in der Tiefe, wie sie vor allem heutzutage außerhalb des Schulunterrichts besprochen wird“, erläutert Samvel. Tatevik H. ergänzt: „Die Rolle des Deutschen Reiches als Alliierter der Türkei während des Ersten Weltkrieges wurde hauptsächlich in Bezug auf die Ermordung von Talat Pascha in Berlin durch einen Armenier thematisiert: Warum hat das Deutsche Reich den Mörder in Berlin aufgenommen, etc.“ Wie differenziert das Thema im Einzelfall tatsächlich behandelt wird, ist natürlich nicht nur von der Darstellung in den Schulbüchern abhängig, sondern auch von der individuellen Unterrichtsgestaltung eines jeden Lehrers. „Bei guten Lehrern hat man die Chance, viel zu lernen. Sie sagen nicht ‚der Türke ist schlecht‘, sondern sie sagen ‚die Jungtürken haben etwas Schlechtes getan‘“, so Tatevik G. dazu. „Das hilft sehr, eine Sensibilität für solche Probleme in der Gesellschaft und im Leben zu entwickeln.“
Trotz der großen gesellschaftlichen Bedeutung, die der Genozid in Armenien hat, wird er von den Schülern überraschenderweise nicht als Dreh- und Angelpunkt des Curriculums wahrgenommen: „Der Völkermord war sicherlich nicht DER Mittelpunkt, aber er war einer der Schwerpunkte und emotionalen Höhepunkte in der Schulbildung im Allgemeinen und im Geschichtsunterricht im Besonderen“, differenziert Tatevik G. Auch wenn der Völkermord nicht an allen Schulen ein Pflichtthema bei Abschlussprüfungen ist: „Für jeden Schüler ist es ein ‚Pflicht-Bewusstsein‘, die eigene Geschichte zu kennen. Genau das wird vermittelt“, erklärt uns Tatevik H. Entsprechend setzt sich die armenische Jugend auch außerschulisch mit der Thematik auseinander. Das Internet macht dies einfacher als noch für die Generation ihrer Eltern. Aber auch die wachsende Zahl an Buchpublikationen und Filmen wird genutzt; dominant bleibt allerdings das Gespräch in der Familie: „Privat geht man mit dem Thema natürlich emotionaler um“, meint Samvel. Nicht selten wird darüber gesprochen, welches Schicksal etwa die Urgroßeltern damals ereilt hat. Tatevik G. blickt gleichermaßen in die Vergangenheit und in die Zukunft: „Ich würde mir wünschen, dass die Grenzen zur Türkei irgendwann einmal offen wären und wir einen Ausflug in die alten armenischen Gebiete machen könnten. Damit wir auch sehen, wo einige von uns herstammen und wo die Heimat unserer Urgroßeltern war. Das wäre sicherlich eine sehr gute Ergänzung zu unserem Schulunterricht.“

Auf der ersten Seite des türkischen Geschichtslehrbuchs für die zehnte Klasse prangen die Nationalfahne und der Text der Nationalhymne. Auf der zweiten und dritten Seiten folgen Atatürks Portrait und seine Ansprache an die türkische Jugend aus dem Jahre 1927. Der Text soll als Maßstab für das richtige Verhalten der türkischen Jugend dienen: „O Türkische Jugend! Deine erste Pflicht ist es, die Türkische Unabhängigkeit und die Türkische Republik für immer zu schützen und zu verteidigen. Das ist die einzige Grundlage Deiner Existenz und Deiner Zukunft.“ In der Türkei unter Recep Erdoğan bleibt nicht viel Spielraum für freie Meinungsbildung. Diese Politik spiegelt sich im Bildungssystem und besonders im Geschichtsunterricht wider. Über die Vermittlung nationaler Werte im Schulunterricht wacht neben dem Geist von Atatürk das Ministerium für Nationale Bildung, das als einzige Behörde die Erlaubnis hat, Schulbücher herauszugeben. Dabei ist es dem kemalistischen Nationalgedanken gesetzlich verpflichtet. Das zeichnet sich nicht nur in den Schulbüchern ab, auch die Unterrichtsmaterialien für Lehrer pochen auf Staatsprinzipien wie Nationalismus und die Unteilbarkeit der Türkischen Republik. Kulturwissenschaftlerin Inga Schwarz prangert in einer Studie an, eine „den pluralistischen Ansprüchen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen entsprechende, sich einzelnen Ideologien entziehende Ordnung des Bildungswesens“ lasse sich „bisher nicht erkennen“.
Auch die Thematisierung des Völkermordes in den türkischen Schulbüchern beugt sich den stark zentralisierten Vorgaben des nationalen Bildungsministeriums. Bis in die 1990er Jahre wurde der Genozid in den Schulen mit keinem Wort erwähnt. Schließlich mussten am 14. April 2003 alle Schüler der Türkei nach der Weisung des Ministeriums für Nationale Bildung einen Eid leisten, in dem sie den Völkermord an den Armeniern leugneten. In neueren Lehrbüchern findet das Thema mittlerweile einen Platz; die geschichtlichen Ereignisse werden jedoch schlicht verfälscht. „In Bezug auf den Ersten Weltkrieg wurde nur der Umzug der Armenier erwähnt. Weder ihr Tod noch der Völkermord wurde dabei behandelt“, berichtet ein ehemaliger türkischer Schüler aus Izmir. Eben für solche Verfälschungen kritisierte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen die türkische Schulbuchreihe Türkce ve Türk Kültürü (dt. „Türkisch und türkische Kultur“), die für türkischsprachige Schüler im Ausland angefertigt wurde. Hier wird vermittelt, die Armenier hätten sich 1915 auf die Seite der Russen und der Engländer gestellt und versucht, das Osmanische Reich zu schwächen. Die Vertreibung und Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern wird völlig unterschlagen. In dem eingangs erwähnten Schulbuch Tarih, Lise 2 von 2007 wird dieses einseitige Narrativ noch weitergeführt: Es wird lediglich von armenischen Aufständischen berichtet, die sich den russischen Truppen angeschlossen haben, und ein Blutbad an türkischen Dorfbewohnern verübten – während türkische Soldaten an der Ostfront heldenhaft ums Leben kamen. Die Hintergründe werden nicht beleuchtet. Stattdessen werden im Lehrbuch Gewalttaten der Armenier an den Türken weiter fokussiert. Die Schüler erfahren, dass die türkische Regierung in Ostanatolien nicht die Armenier, sondern die türkische Bevölkerung umzusiedeln versuchte – um sie vor weiteren armenischen Gemetzeln zu schützen. So seien nicht die Türken schuld, sondern eben die Armenier, die die Türken auf dem Weg zu sicheren Orten angegriffen und massakriert hätten. Die Versuche des Osmanischen Reiches, sich gegen aufständische Armenier zu wehren – etwa durch die Verhaftung von 2.345 Menschen am 24. April 1915 – würden von armenischer Seite heute als Genozid dargestellt werden. So wird der Unterricht missbraucht, um Armenier zu Feinden und Verrätern zu stilisieren – eine Stigmatisierung, die eine Annäherung zwischen den Jugendlichen erschwert.
Andere Schulbücher berichten zwar von einer Umsiedlung der Armenier durch die Türken, doch hier wird betont, dass dies nur zum Schutze der armenischen Bevölkerung an der Ostfront geschah. Zwei Unterrichtsvideos, die den Verlauf des Ersten Weltkrieges auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches behandeln, bestätigen diese Auslegung. Dort spricht man von Ermeni Tehciri (dt. „Umsiedlung der Armenier“). Alles passiere zum Wohl der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches. Nach dieser Neuschreibung der Geschichte erscheinen die Worte Wolfgang Gusts, der sich seit Jahrzehnten mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigt, noch zurückhaltend: „In der Türkei wurde der Völkermord als Völkermord in keinem Schulbuch erwähnt. Die Schulbücher sind bis heute voller Lügen. Es sind Sachen regelrecht erfunden worden, die ich mir hätte nie vorstellen können.“ Laut Unterricht der türkischen Schulen habe ein Völkermord an den Armeniern überhaupt nicht stattgefunden.

Geeignete Maßnahmen
Obwohl in Geschichtsbüchern den sogenannten „Geschehnissen im Jahre 1915“ mehrere Seiten gewidmet sind, wird den Lehrern in den Materialien nicht erklärt, wie sie das Thema konkret zu behandeln haben. Es wird lediglich der Einbezug von zeitgenössischen Dokumenten und Bildmaterial empfohlen, die Kriegshandlungen und verschiedene Fronten im Ersten Weltkrieg veranschaulichen. Auch eine deutsche Lehrkraft berichtet, dass im Geschichtsunterricht nur davon die Rede war, dass es im Osten Krieg mit Armeniern und Russen gegeben habe. Ihren Namen möchte sie an dieser Stelle nicht genannt wissen, denn sie musste bereits einmal die Schule wechseln – man könne großen Ärger in türkischen Schulen bekommen, wenn man die falschen Fragen stellt. In den letzten Jahren gab es jedoch einige Lichtblicke, die Hoffnung auf Liberalisierung weckten: Im April 2014 etwa, kurz vor den jährlichen Gedenkveranstaltungen der Armenier, hatte Erdoğan in einer offiziellen Erklärung den armenischen Opfern der „Vertreibungen“ im Ersten Weltkrieg sein Mitgefühl bekundet. Das Wort „Völkermord“ vermied er freilich. Auch der mit „Ich bin Türke, ich bin aufrecht und fleißig“ beginnende segregierende Schuleid wurde mittlerweile abgeschafft. Deswegen wurden die neuen Geschichtsbücher, die zu Beginn des Schuljahres 2014/2015 erschienen, mit einer gewissen Spannung erwartet – das Ergebnis sei „niederschmetternd“, so Raffi Kantian, Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, in einer kürzlich erschienen Studie. In den Büchern tritt das Osmanische Reich als Beschützer der armenischen Bevölkerung auf: Die Deportation der Armenier habe das Leben des friedlichen Teils der Bevölkerung gerettet, denn dieser wäre ansonsten für seine Nichtbeteiligung an Terrorakten von den armenischen Aufständischen umgebracht worden. An anderer Stelle heißt es: „Damit auf dem Weg zum Zielort und am Zielort selbst niemand die Umsiedler tätlich angreift, wurden die geeigneten Maßnahmen ergriffen“ – tatsächlich wurden die Deportierten auf ihren Todesmärschen von Gendarmen begleitet, die ihre ‚Schützlinge‘ häufig an marodierende Gruppen verkauften oder selbst umbrachten.
Das lediglich als „Zielort“ bezeichnete Deir ez-Zor sei, laut Schulbuch, ein Ort „mit fruchtbarem Boden“ gewesen, dem es an Wasser nicht mangele. Die Realität sah anders aus: Das Konzentrationslager, das eigentliche Deportationsziel, befand sich in der syrischen Wüste. So schreiben auch die neuen Schulbücher die Geschichte der staatlichen Leugnung fort; die Hoffnungen auf „Tauwetter“ wurden enttäuscht. Doch mittlerweile haben sich auch Teile der türkischen Zivilgesellschaft kritisch zu Wort gemeldet – unter anderem mit der Forderung an die Regierung, die revisionistischen Bücher aus dem Verkehr zu ziehen und sich bei den Armeniern zu entschuldigen.

AGHET 1915–2015: Die Kurden und der Völkermord | memorique: Genozid und Geschichtsunterricht | Das Deutsche Reich und die Bagdadbahn | klassiquer: Die vierzig Tage des Musa Dagh | Kulturelle Verarbeitung des Völkermords

Redaktioneller Nachtrag (10. Oktober 2015):
Nachdem die im Artikel als Vertreterin des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD) zur Wort kommende Frau Madlen Vartian Ende September 2015 auf ihrer privaten Facebook-Seite sunnitische Muslime als „Pack“ verunglimpft hatte, erbaten wir beim ZAD-Vorstand eine Stellungnahme. Uns wurde mitgeteilt, der Verband distanziere sich von dem Posting und man stelle klar, „dass Frau Vartian in dieser Sache nicht für den ZAD und auch nicht für die armenische Gemeinschaft in Deutschland spricht“. Man habe Frau Vartian nahe gelegt, ihr Vorstandsamt niederzulegen. Eine Entscheidung darüber steht noch aus.

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