Meister Lem und die Utopie

„Du sollst aus Bösem Gutes machen, denn es gibt nichts, woraus man es sonst erschaffen könnte.“ Mit diesem Zitat beginnen die Brüder Strugatzki ihre rätselhaft utopische Erzählung Picknick am Wegesrand. Das Nachwort Stanisław Lems hat es in sich. Ein Großteil der heute unter dem Genre Science-Fiction gehandelten Literatur sei nicht mehr als Fantasy oder schlimmer: inhaltsloser Horror. Warum?

von Max Pellny


Utopische Zukunftsvisionen finden sich im Science-Fiction Genre selten. Extra-terrestrische Lebewesen sind in den wenigsten Fällen glückbringende und friedliche Zeitgenossen, sondern invasiv, parasitär, blutrünstig, emotionslos und selbstverständlich: technisch überlegen. Ihr menschliches Pendant ist hingegen häufig vollkommen unfähig. Es scheint eine Konstante in der Science-Fiction Literatur zu sein, dass die Autoren ihre tiefsten paranoiden Ängste und Wahnvorstellungen in den Weltraum übertragen und durch diese tiefenpsychologische Projektion einen todbringenden Kosmos beschreiben, der im Grunde ein historisches Spiegelbild irdischer Missstände ist. Aber es geht auch anders! Gene Roddenbury entwarf mit Star Trek eine utopische Version der Menschheit, die durch gottgleiche Technik von Krieg und Kapital befreit den unendlichen Kosmos erkundet und gelegentlich einigen bösartigen Wesen (Borg) begegnet. Auch Aldous Huxley, der mit seinem Dystopie-Roman Schöne neue Welt assoziiert wird, legte mit seinem letzten Roman Eiland das utopische Gegenstück vor. Insgesamt überwiegen jedoch die alptraumhaften Heimsuchungen im anglo-amerikanischen Raum.

Differenzierter verhält es sich mit Werken aus dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks. So sind die Sterntagebücher des polnischen Utopisten Stanisław Lem an feinsinnigem Witz und menschlicher Zuversicht kaum zu überbieten, während viele seiner Werke gleichzeitig die technikgläubige Hybris menschlicher Wesen entlarven — ganz ohne diabolische Aliens und alles niedermetzelnde Waffensysteme. Im Nachwort von Picknick am Wegesrand der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki verdeutlicht Lem seine Sicht einer Entwicklungslinie im Science-Fiction Genre, die seiner Auffassung nach bei den Strugatzkis erfrischend gebrochen wird. H. G. Wells‘ Krieg der Welten dient ihm als Ausgangspunkt seiner Thesen. Wells‘ Marsbewohner überfallen die Erde. Sie bestehen fast nur aus Köpfen, interessieren sich ausschließlich für das nahrhafte Blut der Menschen und verfügen über keinerlei Kultur. Die unabsichtliche Karikatur eines extremen Rationalismus? Zweifellos haben die Marsianer als Bewohner eines untergehenden Wüstenplaneten gute Gründe, die fruchtbare Erde zu erobern. „Doch dieser innerhalb des Sonnensystems begründbare Sonderfall wurde, gedankenlos übernommen, zum Muster der gesamten Science-Fiction. Die Nachfolger übernahmen mechanisch die Schwäche des Meisters. […] Weil aber die Autoren um jeden Preis den Begründer der Gattung überbieten wollten, überschritten sie in der Darstellung der Grauenhaftigkeit der ‚Anderen‘ rasch die Grenzen der Wahrscheinlichkeit. […] Je größer die Macht, die den ‚Anderen‘ zugeschrieben wird, um so irrationaler ist ihr Überfall auf die Erde. […] So tauschte die Science-Fiction den Wellsschen interplanetaren Darwinismus gegen einen Sadismus aus, der zur kosmischen Konstante zivilisatorischer Beziehungen wurde.“ Lem fragt, warum fast alle Darstellungen kosmischer Kulturen sich in monotoner Uniformierung ergießen, während die Kulturen auf der Erde von mannigfaltigem Erscheinungsbild sind. Die Science-Fiction vermag hierauf keine Antwort zu finden, „weil sie die Reflexion über das Schicksal der Vernunft im Kosmos gegen sensationelle Stereotypen von interplanetaren Abenteuern austauschte. Sie betrieb Raubbau, indem sie auf der Suche nach Inspiration die Lehrbücher der allgemeinen Geschichte ebenso durchstöberte wie das Linnésche System, um Saurier, mit Fangarmen bewehrte Tintenfische, Krebstiere, Insekten usw. mit Vernunft auszustatten. Als auch das abgegriffen war und langweilig wurde, war es mit dem Thema im Grunde vorbei, und seinen ‚monströsen‘ Extremismus übernahm von der Science-Fiction der drittrangige Gruselfilm, der jeglichen gedanklichen Inhalts vollkommen bar ist.“ Wow, dachte ich, das hat gesessen! Meister Lem spricht kurzerhand einem Großteil der sensationsgeilen und inhaltslosen amerikanischen Science-Fiction Literatur ihre Genrezugehörigkeit ab und verbannt deren Werke ins Reich der Fantasy. Frage: Was will Meister Lem stattdessen? Antwort: Keine kanonisch festgelegten Erzählstrategien, die sich in Superlativen ergießen und reale Kausalzusammenhänge verletzen. Wissenschaftliche Phantastik soll unparteiisch, glaubhaft und frei von invasiven Phantasmagorien sein. Das Geheimnis der „Anderen“, so Lems Utopie, soll auf ewig gewahrt bleiben.


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