Der Balken im eigenen Auge (Langfassung)

(Foto: Bank Phrom / Unsplash)

Medien wie der SPIEGEL hinterfragen kritisch die Nazi-Vergangenheit von Institutionen und Amtsträgern – und das zu Recht. Bei der eigenen Historie nehmen sie es allerdings nicht so genau. Lest hier die ausführlichere Version unseres Artikels aus Ausgabe 73.

von Frank

„Wenn es Unwissenheit gab, dann nur, weil man nichts wissen wollte“, hieß es 2011 im Hamburger Nachrichtenmagazin SPIEGEL in einem Beitrag über ehemalige NS-Verbrecher in den Reihen des Bundesnachrichtendienstes. Tatsächlich gab es bekanntermaßen nach dem Ende der Nazi-Diktatur in vielen Bereichen personelle Kontinuitäten – auch im Journalismus (siehe Infokasten unten). Doch die eigene braune Personalhistorie wird von den Redakteuren deutscher Medienhäuser bis heute weniger gern beleuchtet.
Zwar erkannten die Alliierten frühzeitig die entscheidende Rolle der Medien für die NS-Propaganda – und die Bedeutung der Massenmedien für die angedachte Re-Education der Deutschen. Nach der deutschen Kapitulation folgte zunächst ein generelles Publikationsverbot, danach wurden alliierte Informationsdienste in den Sektoren etabliert. Später folgte die Vergabe von Presselizenzen an Deutsche, wobei jedoch die Härte bzw. Genauigkeit – ähnlich wie bei der Entnazifizierung allgemein – sehr unterschiedlich ausfallen konnte.

„Belastet“ sind immer nur die anderen
So schafften es die ganz Großen der NS-Publizistik zwar nicht wieder in der Presselandschaft Nachkriegsdeutschlands Fuß zu fassen (Hans Fritzsche, Rundfunkchef in Goebbels Propagandaministerium und nach Krieg ins Arbeitslager abgeurteilt, machte etwa später Karriere in der westdeutschen Industrie, aber nie wieder in der Presse). Dennoch wurde aufgrund fehlender Fachkräfte ab 1948 von den neu geschaffenen Medienhäusern vermehrt wieder auf „Belastete“ zurückgegriffen.
Auch das Hamburger Nachrichtenmagazin, 1947 in der britischen Besatzungszone ins Leben gerufen, bildet da keine Ausnahme. Der SPIEGEL legte sich unter der Leitung Rudolf Augsteins schon früh mit den Mächtigen an – unter anderem gespeist durch die leidenschaftliche Abneigung Augsteins gegen die konservative Adenauer-Regierung; wie heute gehörte die investigative Aufdeckung politischer Skandale zum Kerngeschäft. Spätestens mit der SPIEGEL-Affäre 1962 hatte das Magazin eine Art pressefreiheitlichen Märtyrerstatus erlangt. Zwei Jahre später berichtete das „Sturmgeschütz der Demokratie“, wie Augstein den SPIEGEL halb scherzhaft und halb martialisch bezeichnete, über die frühere Tätigkeit namhafter Journalisten wie Ernst Samhaber – erster Chefredakteur der Welt – und FAZ-Mitbegründer Karl Korn beim nationalsozialistischen, Joseph Goebbels unterstellten Propagandablatt Das Reich.
Beim SPIEGEL fanden sich indes ebenfalls lange Jahre Redakteure und Mitarbeiter mit eindeutiger brauner Vergangenheit, auch aus dem Umfeld von Goebbels’ Propagandaministerium oder der SS – und das sogar in leitenden Funktionen: Friedrich Karl Grosse, früher Chef des so genannten „Auslandspresseclubs“ unter NS-Außenminister Rippentrop, fungierte später als journalistischer Leiter des Berliner SPIEGEL-Büros. Erich Fischer, ehemaliger SS-Sturmbannführer und Leiter der Abteilung „Deutsche Presse“ im Propagandaministerium (und dort Nachfolger des bereits eingangs erwähnten, in Nürnberg verurteilten Hans Fritzsche), wurde 1952 Verlagsmanager im Düsseldorfer Büro des Nachrichtenmagazins.
Im gleichen Jahr setzte Augstein als Ressortleiter für „Ausland“ und „Internationales“ Horst Mahnke und Georg Wolff ein. Diese beiden Herren kannten sich aus ihrer Studienzeit in Königsberg beim Zeitungswissenschaftler Franz Alfred Six, der vor Kriegsende zuletzt Leiter der kulturpolitischen Abteilung in Rippentrops Außenministerium war. Nach dem Krieg verlegte Six unter anderem Bücher ehemaliger NS-Sozialwissenschaftler.
Mahnke, ab 1939 Referent im berüchtigten Reichssicherheitshauptamt, war als SS-Hauptsturmführer mit hochrangigen Planungen beim „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ (kurz: SD) befasst. Ein Entnazifizierungsausschuss hatte Mahnke noch 1949 eine Anstellung etwa als Lehrer oder Journalist untersagt, da er „den Nationalsozialismus wesentlich gefördert“ habe – ein Berufungsausschuss hob diesen Beschluss später jedoch auf. Mahnke wechselte 1959 vom SPIEGEL zum Springer-Konzern, bevor er Ende der 60er Jahre Hauptgeschäftsführer beim Verband deutscher Zeitungsverleger wurde.
Auch Wolff hatte es in der SS bis zum Hauptsturmführer gebracht und war im besetzten Norwegen Teil des SS-Einsatzkommandos sowie später Referatsleiter des SD gewesen. Für das Hamburger Nachrichtenmagazin verfasste er im ersten Jahrzehnt seiner Mitarbeit über 80 Titelgeschichten; später wurde er stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Ressorts „Geisteswissenschaften“, bis er Ende der 70er Jahre in Pension ging.

SPIEGEL-Chef Augstein mit Bundeskanzler Willy Brandt, 1970 (Bundesarchiv, B 145 Bild-F032086-0037 / Gathmann, Jens / CC-BY-SA 3.0)

Allerlei Alt-Nazis mit guten Kontakten
Der Medienforscher Lutz Hachmeister, der bereits seit Jahren die SPIEGEL-Vergangenheit untersucht, zeigt, dass Autoren wie Mahnke und Wolff „spezielle geheimdienstliche Erfahrung und ein detailliertes Wissen über Personalien“ des untergegangenen NS-Apparats mitbrachten. Dabei wurde ehemaligen Nazis eine bedeutende inhaltliche Deutungsmacht zugestanden: So knüpfte das Magazin Kontakt zum ersten Chef der Gestapo und SS-Standartenführer Rudolf Diels, der 1949 eine Serie über seine Erlebnisse mit Nazi-Größen wie Hitler und Himmler schreiben durfte – die britische Presseaufsicht untersagte die Weiterführung jedoch nach acht Folgen. 1949 und 1950 erschien zudem eine 30-teilige SPIEGEL-Serie zur Kriminalpolizei im NS-Staat und zum Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, Arthur Nebe. Der Autor der Texte wurde – so war es zu dieser Zeit durchaus üblich – nicht genannt; es handelte sich um den früheren SS-Sturmbannführer und Kriminalrat im Reichssicherheitshauptamt, Bernhard Wehner, der es in der Bundesrepublik noch bis zum Leiter der Kripo Düsseldorf und der Fachzeitschrift „Kriminalistik“ bringen sollte. In der Artikelserie wurden Täter zu Opfern eines übermächtigen Systems; Nebe verkörpere, so Wehner in SPIEGEL 49/1949, „die Kollektiv-Seele Deutschlands unter Hitler: anständig, aber ängstlich und ehrgeizig“. SPIEGEL-Gründer Augstein beklagte indes in einem Editorial zu der Serie, die Kriminalistik der Bundesrepublik halte die „überwiegende Mehrzahl erstklassiger Kriminalisten“ unter dem Vorwand fern, „sie hätten dem Regime gedient“.
Das Beispiel der Nebe-Serie illustriert zweierlei: zum einen die bis weit in die Nachkriegszeit reichende Darstellung der deutschen Mehrheitsgesellschaft (und selbst der Amtsträger) als unbedarfte Opfer eines perfiden Hitler-Systems. Zum anderen wird deutlich, dass Augstein wenig Berührungsängste mit früheren Tätern hatte und ihnen sogar maßgebliche journalistische Deutungshoheit zugestand. Er sicherte seinem Blatt Insider-Informationen, ohne sich an der Zusammenarbeit mit früheren Nazis zu stören. So gewann er Walter Zirpins, SS-Sturmbannführer und 1940/41 Kripo-Chef im Lodzer Ghetto, Anfang der 50er Jahre als Informanten und Autor für das Magazin. Wilfred von Oven, ab 1943 Pressereferent für Joseph Goebbels im Propagandaministerium, konnte später dank eines von Rudolf Augstein unterschriebenen Presseausweises als Korrespondent aus Südamerika berichten.
Lutz Hachmeister beschreibt in seinem Buch Heideggers Testament – Der Philosoph, der SPIEGEL und die SS, wie Augsteins Nachrichtenmagazin durch dieses Geflecht aus NS-Kumpanei auch psychischen Druck ausüben konnte: Es habe durchaus „von taktischen Erwägungen und personellen Konstellationen“ abgehangen, ob das Magazin jemanden wegen dessen brauner Verstrickungen verfolgte: „Während der SPIEGEL nach außen kräftig austeilte“, so Hachmeister, „fand er über Jahrzehnte kein vernünftiges Verhältnis zur eigenen Geschichte“ – eine Art moralischer Doppelstandart. Als 1992 der ehemalige SPIEGEL-Kolumnist Otto Köhler die Fälle Mahnke und Wolff thematisierte, schwieg man beim Hamburger Magazin eisern – außer der taz griff keine größere Zeitung die Sache auf. Vielleicht aus Ahnung oder Wissen um Leichen im eigenen Keller? Rudolf Augstein als der wesentliche Zeitzeuge hatte indes beschlossen, sich an nichts mehr zu erinnern, so Hachmeister. Zum Tod Georg Wolffs 1996 gab es keinen Nachruf im SPIEGEL – längst hatte man Angst um das eigene Image: „Wegen seines früheren Rangs als SS-Hauptsturmführer erinnerte man sich nur schwach und ungern an ihn“, schreibt Hachmeister.

„An Verbrechen nicht beteiligt“
In einer Sonderausgabe zum 50. Jubiläum setzte sich das Magazin 1997 unter der Überschrift „Der Anfang“ erstmals selbst journalistisch mit seiner personellen Vergangenheit auseinander: Erwähnt wurden auch der „Kriminalist Bernd Wehner“ als Informant sowie die Vergangenheit von Mahnke und Wolff (letzterer „an Verbrechen nicht beteiligt“, versichert der Artikel). In den Anfangsjahren sei das politische Bewusstsein der SPIEGEL-Leitung noch „nicht genug geschärft“ gewesen, um „jeden neuen Kollegen auf seine Herkunft hin zu durchleuchten“, heißt es rückblickend – auch „neugewonnener, ungeübter Liberalität“ sei das geschuldet gewesen.
Als 2001 Augstein den Ludwig-Börne-Preis erhielt, gab es stärkeres Aufsehen zur Anfangszeit des Magazins; der gealterte Gründer sagte der Welt am Sonntag im Mai 2001, es habe beim SPIEGEL „in den Anfangsjahren auch ehemalige Nazis gegeben“. Mit seinem Tod Ende des darauffolgenden Jahres hätte eine neue Phase der Vergangenheitsbewältigung beginnen können – auch wenn nun freilich der wichtigste Auskunftgeber fehlte.

Deutsches Magazin mit deutscher Vergangenheit
Zehn Jahre später erklärte der damalige Chefredakteur Georg Mascolo auf einer Konferenz anlässlich des 50. Jahrestages der SPIEGEL-Affäre, es sei aus heutiger Sicht „gewiss ein Fehler, sich dieser Leute mit brauner Vergangenheit zu bedienen“, zeigte sich aber sicher, dass „eine Handvoll Nazis“ zu keiner Zeit das von Augstein „ins Leben gerufene Projekt Aufklärung hätten gefährden können“. Im Rahmen der Konferenz äußerte Franziska Augstein, ihr Vater habe zu ihr gesagt: „Du brauchst natürlich alte Nazis, und zwar eben solche, die Funktionen ausgefüllt haben, so dass sie die Apparate, um die es ging, so gut kannten, dass sie in der Lage waren, darüber zu schreiben“; das leuchte ihr „vollkommen ein“.
Dieselbe Argumentation des SPIEGEL-Gründers zitiert auch der bislang wohl umfangreichste Beitrag des Magazins zur eigenen Vergangenheit: eine fast zehnseitige Geschichte aus dem Jahr 2014 über Paul Fidrmuc, von 1952 bis 1953 Spanien-Korrespondenten des Blattes, im Krieg Spion der Nazis in Lissabon. Mit offenkundigem Stolz lassen die Autoren wissen, bisher existiere „kein SPIEGEL-Artikel, kein Zeitungsartikel, der sein Leben und Wirken reflektiert hätte“. Auch Mahnke und Wolff werden hier wieder kurz als Mitarbeiter des Magazins erwähnt: „Eine hässliche Vorstellung heute“, doch der SPIEGEL, sei „eben auch nur ein Nachrichtenmagazin aus Deutschland mit einer deutschen Vergangenheit“ – und die Aufarbeitung dieser Vergangenheit, so heißt es dort, begann „erst spät“.
Bis heute wird häufig so getan, als hätte das belastete Personal kaum eine Rolle gespielt. Mal ist etwa von einer „Handvoll ehemaliger NS-Kader in der Redaktion“ die Rede, etwa in einer Rezension zur Originalausgabe von Hachmeisters Buch, relativiert durch den Nachsatz: „Die meisten hielt es nicht lange.“ Der ehemalige SS-Sturmbannführer Mahnke blieb jedenfalls sieben Jahre, der ehemalige SS-Sturmbannführer und SD-Referatsleiter Wolff mehr als 25 Jahre beim Magazin – davon acht Jahre als stellvertretender Chefredakteur.

„Verdrängung in allen Schattierungen“
Anders als der SPIEGEL war die bereits 1945 gegründete Süddeutsche Zeitung in den Anfangsjahren als die erste und sehr bald größte deutsche Zeitung des amerikanischen Sektors mit politischer Positionierung weitgehend zurück. Das Blatt schaffte erst in den 1970er Jahren den Sprung von einer großen Regionalzeitung zu einer deutschlandweit bedeutenden überregionalen Tageszeitung, als die wir die Süddeutsche heute kennen.
Auch eine Aufarbeitung der NS-Herrschaft fand in der Zeitung lange nicht statt: „Signifikant war Verdrängung in allen Schattierungen“, schreibt der Historiker Knud von Harbou in seinem Buch Als Deutschland seine Seele retten wollte über die Gründungszeit der SZ. Von Harbou, selbst langjähriger SZ-Redakteur und früher stellvertretender Feuilleton-Chef, veröffentlichte 2013 eine kritische Biografie über einen der Gründungsherausgeber des Blattes, Franz Josef Schöningh. Dieser war nicht nur fünf Jahre lang Lebensgefährte der Mutter von Harbous, sondern auch Freund des verstorbenen Vaters, Mogens von Harbou – und während des Krieges dessen Stellvertreter als Kreishauptmann im nazibesetzten Tarnopol. Als leitender Zivilbeamter sei Schöningh (späterer Mit-Erfinder des SZ-„Streiflichts“) in alle „relevanten Organisationsabläufe, die die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung betrafen, involviert“ gewesen, schreibt von Harbou. Seinen Recherchen zufolge leitete Schönigh in Tarnopol das Amt für Innere Verwaltung, das unter anderem Deportationen oder die Abriegelung von Straßenzügen koordinierte: „Das Grauen der Vernichtung der Juden spielte sich tagtäglich direkt vor Schöninghs Augen ab.“
Da die Rolle der Kreishauptmannschaften erst ab den 90er Jahren erforscht wurde, war vermutlich unzureichende Kenntnis der für die Entnazifizierung zuständigen Stellen die Erklärung dafür, dass sich Schöningh wie viele andere nach dem Krieg aus der Affäre ziehen konnte. Der zuständige US-Presseoffizier erinnerte sich, man habe bei Erkundigungen über Schöningh „nicht das geringste Nachteilige erfahren“ – und ihm darum eine der Lizenzen für die Gründung der SZ erteilt.

SZ-Gründer Franz-Josef Schöningh, um 1955 (Foto: Wikimedia Commons / Bette Davis)

Ein NS-Unterstützer berichtet über den Nürnberger Prozess
Angesichts seiner ganz persönlichen Schuld, die Schöningh nach dem Krieg wenn möglich zu verschleiern oder zu verharmlosen versuchte (etwa als „Verwaltungsangestellter der Zivilverwaltung“), ist es umso interessanter, wie er sich vehement gegen den Gedanken einer deutschen Kollektivschuld positionierte. Im Herbst 1945 stellte er in der SZ das deutsche Volk als verführtes Opfer dar, das einem „wahnsinnigen Kapitän und dessen willenlosen Gehilfen“ ausgeliefert gewesen sei.
Fast zeitgleich berief Schöningh einen leitenden Politikredakteur, Wilhelm Emanuel Süskind, zum Berichterstatter beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. 1933 zunächst Herausgeber der Zeitschrift Die Literatur, hatte Süskind sich publizistisch an den NS-Zeitgeist angepasst – es falle, so schreibt von Harbou in seinem Buch, angesichts „der Dichte an eindeutigen Textstellen“ in den von Süskind verantworteten Magazinen schwer, zu glauben, „dass Süskind nur aus Opportunismus handelte“. Ab Ende 1943 war Süskind im besetzten Polen für die Krakauer Zeitung tätig gewesen und wurde später zudem Mitherausgeber des nationalsozialistischen Propagandablatts Krakauer Monatshefte; nebenher schrieb er als Theaterkritiker für Goebbels‘ Wochenzeitung Das Reich. „Nach meiner Überzeugung war er NS-Unterstützer, wenn auch mit eigener Meinung, und erklärter Antisemit“, urteilt von Harbou, als wir ihn um eine Einschätzung zu Süskind bitten, der sich 1947 für den bereits eingangs erwähnten früheren Rundfunk-Chef im Propagandaministerium Hans Fritzsche eingesetzt hatte, dessen „Talente“ man doch wieder nutzen solle.
Ähnlich wie Schöningh und andere wich Süskind einer Auseinandersetzung mit seinen Tätigkeiten während der NS-Zeit später beharrlich aus. Er wollte sogar gerichtlich gegen ein Buch vorgehen, in dem 1957 der frühere NS-Journalist und überzeugte Nationalsozialist Karl Ziesel ihn und andere SZ-Redakteure wegen ihrer verschwiegenen Vergangenheit aufs Korn nahm.

Vom Propagandisten zum Chefredakteur
Auch ein späterer Chefredakteur der Süddeutschen weist eine brisante Vergangenheit auf: Hermann Proebst, ab 1938 als Balkan-Korrespondent für verschiedene deutsche Zeitungen tätig, pflegte Kontakte zur Führung der faschistischen Ustascha-Bewegung in Kroatien und wurde später Agent für den SS-Sicherheitsdienst. Als Vermittler zwischen deutschen Nazis und kroatischen Faschisten beförderte er durch seine Geheimdiensttätigkeit die deutsche Besatzung, schreibt der Historiker Alexander Korb. Dazu stand ihm mit der Wochenzeitung Neue Ordnung sogar ein eigenes Medium zur Verfügung. Daneben war Proebst auch Hauptschriftleiter der täglichen Deutschen Zeitung in Kroatien. Im Sommer 1949 wurde er Ressortleiter „Innenpolitik“ bei der SZ, zuvor hatte er unter anderem das Presseamt der Bayrischen Staatskanzlei geleitet. Von 1960 bis zu seinem Tod 1970 war er sogar Chefredakteur der Zeitung.
Nachrufe seiner SZ-Kollegen verbuchten danach die „publizistische Tätigkeit“ vor Kriegsende als „bewegte Episode auf dem Balkan zwischen Kroaten und Jugoslawen“. Der Historiker Alexander Korb, der sich für seine Habilitationsschrift eingehend mit Proebsts Tätigkeiten während der Kriegsjahre befasst, erklärt uns dazu, „dass Proebsts Vergangenheit in dem Sinne kein Geheimnis war, sondern dass seine Tätigkeit auf dem Balkan auch einigen Zeitgenossen bekannt war“. Bei seinen Interviews mit einer Reihe von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen habe sich die Mehrheit völlig überrascht gezeigt „und schloss für sich aus, in den 1960er Jahren von der NS-Vergangenheit berühmter SZ-Redakteure gehört zu haben“. Interessanterweise gelte dies auch für einige Personen, „die nach Aktenlage um 1960 Bescheid gewusst haben müssen“, so Korb weiter. „Das heißt, dass wir es hier mit Verdrängungsvorgängen von dem, was nicht sein soll, zu tun haben. Eine kleine Minderheit konnte sich an konkrete Gerüchte erinnern, und brachte sie auch mit Proebsts flüchtigem oder gar ängstlichen Verhalten in Verbindung.
An einer Aufarbeitung all dessen durch die Süddeutsche Zeitung, so erklärt uns Knud von Harbou ernüchtert, fehle es bis heute. „Hinweise auf die Funktion Franz Josef Schöninghs im Dritten Reich finden sich in den Erinnerungen des früheren leitenden Redakteurs Ernst Müller-Meiningen“ – das 1989 erschienene Buch durfte in der SZ nicht besprochen werden. Für seine eigene Studie zu den frühen Jahren der Zeitung bekam von Harbou Zugang zum Print-Archiv der SZ; eine materielle oder immaterielle Unterstützung seiner Arbeit gab es aber nicht, erklärt er uns. „Bestrebungen, die an den NS gebundenen Viten zahlreicher Redakteure und freien Mitarbeiter im Rahmen der Zeitung weiter aufzuarbeiten, sind mir unbekannt.“

Die Zeitung als „Kind ihrer Zeit“
Ausnahmen bilden mehrere Artikel des Historikers und SZ-Autors Joachim Käppner, etwa im Vorfeld der Schöningh-Biografie von Harbous, in der Käppner schreibt, die Süddeutsche habe sich „Jahrzehnte wenig um die Vorgeschichte ihrer Gründergeneration gekümmert“. Im September 2014 folgte unter der Überschrift „Die innere Spaltung“ ein Beitrag über die Forschung Alexander Korbs und von Harbous zu belastetem SZ-Personal. „Spätestens da wäre meiner Meinung nach der Zeitpunkt für eine Sonderbeilage und ein Symposium gewesen“, meint Korb dazu. „Stattdessen entschied sich die Redaktion offenbar dafür, gar nichts zu machen. Aus meiner Sicht spricht dies nicht gerade für intellektuelle Neugier und für geschichtspolitisches Engagement.“
Im Sommer 2015 schließlich rezensierte Käppner die umfassende Studie von Harbous über das erste Jahrzehnt der Zeitung. Diese sei „mit aufklärerischer Wucht und verhaltener Wut“ geschrieben, ein notwendiges Buch, im Urteil „so hart wie gerecht“. Der „aufklärerische, freiheitliche Kurs, den sie heute für sich beansprucht“, sei der SZ „nicht in die Wiege gelegt gewesen“, heißt es weiter – „die Vergangenheit wurde von vielen zwar selten geleugnet, aber verdrängt und abgespalten“; insofern sei die SZ ein „Kind ihrer Zeit“ gewesen.
Doch mit dieser Befassung steht Käppner bislang allein auf weiter Flur. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass die SZ meine Aufarbeitung einfach aussitzen will“, erklärt uns von Harbou. Eine inhaltliche Äußerung der Chefredaktion zum Buch sei ihm nicht bekannt. „Eine Diskussion über von mir beschriebene Themenkomplexe – wie Schuldfrage, Antisemitismus – fand nicht statt. Gemeinsame Veranstaltungen mit dem Verlag des Buches auf der Buchmesse oder der Münchner Bücherschau unterblieben.“

Paul Sethe (Jg. 1901): Angehöriger einer Propagandakompanie der Waffen-SS, seit Frühjahr 1944 auch für den Völkischen Beobachter tätig. Einer der fünf Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; schrieb nach seinem Ausscheiden bei der FAZ u.a. politische Kommentare und historische Serien für den Stern und Die Zeit.

Claus Peter Volkmann (Jg. 1913) alias Peter Grubbe, stellvertretender Kreishauptmann in NS-besetzten Polen, u.a. an Deporationen beteiligt – er und Franz Josef Schöningh kannten sich aus dieser Zeit. Verschwieg seine Tätigkeit im Entnazifizierungsverfahren. Ab 1945 schrieb er unter neuem Namen (Grubbe), erstmals im März 1946 für die SZ, später war er London-Korrespondent der FAZ und der Welt. Erst im Herbst 1995 von der taz enttarnt, was ein breites Medienecho hervorrief, u.a. von SPIEGEL, Welt und der SZ – allerdings ohne Erwähnung der von ihm verfassten SZ-Artikel von 1946.

Paul Karl Schmidt (Jg. 1911) alias Paul Carell, SS-Obersturmbannführer und Pressechef des NS-Außenministeriums. Schrieb u.a. für den SPIEGEL, Die Zeit und diverse Springer-Medien. Später erfolgreicher Autor von Landser-Literatur.

„Keine Chance“ für Ex-Nazis?
Die Personalpolitik von SPIEGEL oder SZ war keineswegs unüblich: Nicht selten wurden selbst Führungspositionen überregionaler Medien mit Personal besetzt, das bereits im Dritten Reich eine Rolle gespielt hatte – offenbar auch mit Duldung der Alliierten, die, anders als angekündigt, oft nicht so genau hinschauten. 1949 sprach ausgerechnet Franz Josef Schöningh in den USA von einem Versagen der Entnazifizierung – er musste es ja wissen. Doch auch das Schweigen über konkrete Verbrechen in der Berichterstattung und die Prominenz der Verführungsthese war lange Jahre der dominante redaktionelle Duktus in der frühen Bundesrepublik.
Journalisten bestimmten in den Nachkriegsjahrzehnten, vielleicht noch stärker als heute, die ohnehin schleppende Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Die Beschäftigung mit den NS-Biografien der eigenen Redakteure blieb lange aus; auch die Berufsverbände trugen bis in die Gegenwart wenig zur Aufarbeitung bei. Vom Deutschen Journalistenverband (DJV) heißt es auf Anfrage, dazu seien „aus den letzten zwei Jahrzehnten keine Stellungnahmen von uns bekannt“.
Noch im Mai 1995 war im vom DJV herausgegebenen Branchenblatt journalist anlässlich des 50. Geburtstages einer demokratischen deutschen Presselandschaft zu lesen: „Ex-Nazis hatten keine Chance” – dabei waren auch zu diesem Zeitpunkt schon unzählige Gegenbeispiele bekannt. Aber womöglich handelt es sich dabei einfach um ein weiteres Beispiel dafür, dass auch und gerade die Presse nicht davor gefeit ist, den Balken im eigenen Auge nicht sehen zu wollen.

Zum Weiterlesen:

Lutz Hachmeister / Friedemann Siering (Hrsg.), Die Herren Journalisten – Die Elite der deutschen Presse nach 1945, C.H.Beck, 2002.

Lutz Hachmeister: Heideggers Testament – Der Philosoph, der SPIEGEL und die SS, Ullstein Taschenbuch, 2015.

Knud von Harbou: Als Deutschland seine Seele retten wollte. Die Süddeutsche Zeitung in den Gründerjahren nach 1945, dtv, 2015.


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