Me and my ADHD

Ein Erfahrungsbericht von Luca Grün


„Potenzial“ ist nichts Gutes, es ist immer ein Vorwurf. Manchmal fühlt es sich an wie die Beschreibung meiner Existenz. Das ist unfassbar melodramatisch, ADHS, ist meine Selbstdiagnose! Ein bisschen nüchterner formuliert ist es eine Art Entscheidungsunfähigkeit. Ich sehe alle Optionen vor mir, kann mich aber schwer festlegen. Eine Selbstdiagnose bedeutet immer auch ein Risiko, ich schreibe mir diese „Entwicklungsstörung“ zu, wie eine wissenschaftliche Hypothese, mit mir als Versuchsobjekt! Dieser Text ist ein sehr persönlicher Blick auf das Thema Selbstdiagnose und ist sicherlich nicht in der Lage alle Für- oder Gegenargumente zu schildern. Auch mit dem erschütternden Wissen, hier nicht der Akkuratesse einer Doktorarbeit gleichkommen zu können, will ich euch meine Geschichte erzählen.

So nun genug Theorie, kommen wir zum spaßigen Teil, unserer heutigen Quiz Show: „Mein Leben und was ist falsch damit?“ Richtig interessant wurde es erst nach dem Abitur. Ich hatte keine konkreten Pläne, nur hin und wieder fixe Ideen und habe am Ende ziemlich viel Zeit zu Hause und mit Kopfzerbrechen verbracht. Ich hatte wenig Motivation und brauchte immer wieder Anstöße um Dinge auch wirklich in Angriff zu nehmen. Dadurch habe ich mich als extrem unreif und unselbständig wahrgenommen, vor allem im Vergleich zu meinen Freundinnen.

Im Herbst 2020 kam dann der zweite Lockdown, ich wohnte damals in einem Studentenwohnheim in Bozen, Südtirol. Generell war das eine komische Zeit, ich war komplett auf mich allein gestellt in einem fremden Land während einer Pandemie und habe herausgefunden, dass eine 60.000 Einwohner Stadt inmitten der Alpen in Südtirol tatsächlich nicht so queer und offen ist wie Berlin, und das obwohl man an der Uni auch Kunst studie-
ren kann. Allein in meinem katholischen Wohnheim und überfordert mit den Aufgaben der Uni, habe ich mir dann TikTok heruntergeladen. Die Gerüchte sind war: Tiktok turned me gay and neurodivergent!! Links, misandrisch und bi-curious war ich vorher schon, Ätsch!!! Es ist eine Hassliebe: katastrophaler Datenschutz und höchste Suchtgefahr neben einer Art virtuellen Community und dem Gefühl gesehen zu werden. Gesehen gefühlt habe ich mich bspw. bei dem Phänomen mentaler Hyperaktivität. Ein innerer Monolog wie eine U-Bahnstation in der Rushhour. Ich erinnere mich noch, dass ich mit meinem Vater einmal über mein Leben reflektierte und er immer wieder meinte: „Mensch, du machst dir ja wirklich über alles Gedanken.“ Ich dachte nur: Ja stimmt, wann mach ich das eigentlich? Die Antwort ist: die ganze Zeit, mein Kopf rast mir ständig davon, meine Sätze haben oft Thomas Mann Charakter. Mein mentaler Dauerzustand ist die innere Unruhe.

Gestern war ich mit meiner Mitbewohnerin wandern, da meinte die plötzlich. „Ach, wie schön mal wieder das eigene Herz zu spüren.“ Ich dachte nur, was meint sie, ich fühl meins die ganze Zeit. Ich Wache morgens meistens schon mit ‘nem 100er Puls auf. Ich kann ein extrem aufgeweckter Mensch sein, der sich für Menschen und Themen extrem begeistern kann, das sind dann meine Fixierungen. Die Kehrseite von meiner aufgedrehten Art ist die Paralyse, Tage an denen ich es kaum aus dem Bett schaffe und die Welt und ihre unendlichen Möglichkeiten einfach vergessen will. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen hat mir sehr geholfen, mich und mein Umfeld besser verstehen zu können. Ich bin großer Verfechter der Selbstdiagnose, trotzdem habe ich vor, mich bei einem Therapeuten diagnostizieren zu lassen. Wie es der Zufall will, bin ich nämlich in jenes Kaff gezogen, in dem es den einzigen ADHS-Spezialisten ganz Thüringens gibt. Wenn das nicht Schicksal ist. In ein paar Wochen ist es soweit, naja zumindest mit der Terminvereinbarung, das macht mich natürlich ziemlich nervös. Was ist, wenn ich mir alles nur eingebildet habe? Neurodiversität ist wissenschaftlich, wie auch soziologisch, ein nicht ganz unumstrittenes Thema, immer wieder müssen sich Autist:innen anhören, jeder sei doch ein bisschen autistisch. Und wenn ich bestimmte Erfahrungen mit meinen Freundinnen teile die ich auf mein ADHS zurückführe, passiert es nicht selten, dass diese ähnliche Situationen erlebt haben. So gesehen ist die ganze Welt neurodivers, kein Gehirn gleicht dem anderen. Den Unterschied macht die Häufigkeit und Intensität in welcher all diese Symptome auftreten. Deswegen spricht man bei der Mehrheit der Menschen von einem neurotypischen Gehirn, auch wenn das nicht immer das gleiche ist. Eine ADHS-Diagnose verläuft typischerweise über Fragebögen und Anamnese, also Gespräche mit einer therapierenden Person. Auch ich habe, neben Memes und 15-sekündigen TikToks, viele solcher Fragebögen und entsprechende Tests gemacht.

Selbst innerhalb der Community gibt es jedoch Menschen die sich stark von dem Phänomen Selbstdiagnose distanzieren. Man will es professionell halten und nicht dafür sorgen, dass jeder Hinz und Kunz sich morgen als ADHSler:in bezeichnet. Dann heißt es, die Ressourcen würden knapp, wie in einer Zombie-Apokalypse. Welche Ressourcen, frage ich mich, Fidget toys, Ohrstöpsel oder Kopfhörer? Niemand bekommt undiagnostiziert Ritalin hinterhergeworfen. Die größte Ressource ist und bleibt Wissen und Aufklärung und dieses kann Niemanden wieder weggenommen, sondern nur vorenthalten werden.

Nach ca. zweieinhalb Jahren Selbstbeobachtung, kann ich sagen, hätte ich meine Symptome in akuten Krisensituationen nicht im Kontext ADHS betrachtet, wäre ich eher zum Schluss einer Angststörung, Depressionen oder sogar Bipolarität gekommen. Letzteres vor allem wegen meiner, teils überwältigen Emotionsausbrüchen, die von einem Tief schlagartig ins Hoch wechseln können. Das geht nicht nur mir, sondern auch vielen Personen so, die im Erwachsenenalter diagnostiziert werden. Häufig erhalten die erstmal die „Fehldiagnose“ Angststörung, da sich die Symptome besonders bei weiblich sozialisierten Personen stark überschneiden. Frauen werden generell eher unterdiagnostiziert und auch ganz prinzipiell garantiert uns unser Gesundheitssystem immer eine gewisse Anzahl an undiagnostizierten Personen, die in der Repräsentation halt finden, und die Strategien und Tipps für sich nutzen
können. Das kann immer ein Mittel der Mündigung und Emanzipation sein und wer seid ihr, ihnen dieses zu verwehren, die Bourgeoise? Ein Leben als neurodivergente Person ist in unserer heutigen Gesellschaft von Einschränkung geprägt. Also eine Form von Behinderung. Das mag jetzt abschreckend klingen und auch, als würde ich mir zu viel herausnehmen, ich glaube jedoch es ist wichtig, dass wir Behindertenrechtsaktivismus mehr in unseren alltäglichen linken Diskurs einbringen. Dieser Text war nur ein winziges und sehr auf mich bezogenes Beispiel dafür. Mein größtes Talent!

Behinderung ist ein simples Konzept das Exklusion jeder Art beschreibt, und von der fast jeder Mensch in irgendeiner Form betroffen ist. Es ist, genau wie Sexismus und Rassismus, die Benennung von Machtverhältnissen und das Aufzeigen von Ungerechtigkeit, die wir als weiße Mehrheitsgesellschaft gerne so schnell wie möglich der Vergangenheit zuschreiben würden. In einer perfekten Welt müsste sich niemand um Individualdebatten beschweren, in einer perfekten Welt, die nicht nur Produktivität und Leistung des Menschen fordert, wären Neurodiversität nichts als charakterliche Unterschiede und all die Kategorien und Schubladen irrelevant. Nur ist und war das noch nie unsere Lebensrealität. Warum gewinnen die Gewinner immer noch? Wir die 99% müssen zusammenfinden. Alles ist immer mit allem verbunden, ihr werdet immer auch für euch selbst kämpfen, wenn ihr für andere auf die Straße geht.
Gute Nacht!


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