‚Graphic non-fiction‘?

Sachbuch, Biographie, Reportage: Die Graphic Novel hat die Comic-Kunst in Gebiete jenseits von Spaßgeschichten und Superhelden geführt. Dass das auch gut so ist, zeigen zwei jüngere Beispiele – Teil 2 unseres Specials anlässlich des 10. Todestages von Will Eisner.

von Frank

Mit der Graphic Novel eröffneten sich für die Bildergeschichten neue Möglichkeiten: Die bereits von Will Eisner vorangetriebene Ernsthaftigkeit ließ das Medium Comic mehr und mehr attraktiv werden für die Verarbeitung nicht-fiktionaler Stoffe. Abseits der grafischen novel sind es diese gezeichneten Sachbücher, die die Comics dahin geführt haben, gemeinhin als eigenständige, etablierte Kunstform wahrgenommen zu werden.
Wie sich etwa Zeitgeschichte als Graphic Novel adaptieren lässt, zeigt Jean-Pierre Filius und Cyrille Pomes‘ Der arabische Frühling. Die unruhigen gesellschaftlichen Verhältnisse in der arabischen Welt, die Ende 2010 in Tunesien begannen und sich in Protesten wenig später über die Staaten des Maghreb und bis in den Nahen Osten verbreiteten, lassen sich freilich nicht als eine Geschichte erzählen. Entsprechend widmen sich Filius und Pomes in insgesamt 16 Kapiteln einzelnen Ereignissen und Schicksalen aus Tunesien, Ägypten, Algerien, Libyen, Marokko, dem Jemen und weiteren Ländern – gezeichnete Hintergrundgeschichte(n) über Protest, Revolution und Konterrevolution. Am ausführlichsten wird, mit gleich drei Kapiteln, auf Syrien eingegangen, das zwar bis heute von Gewalt geprägt, aber aus der globalen Aufmerksamkeit weitgehend verschwunden ist.

„Wir sind alle Hamza al-Khatib!“
Diese Graphic Novel ist freilich keine datenreiche Chronologie, sie setzt Schlaglichter, Wende- und Tiefpunkte. Wie als in Syrien der grausame Tod des 13-jährigen Hamza Ali al-Khatib noch mehr Wut und Hass auf das Assad-Regime führte. Filius und Pomes erzählen diese Ereignisse in Bildern, die abstrahieren, aber nicht unkenntlich machen wollen; sie zeigen Gewalt und Leid, ohne voyeuristisch oder reißerisch zu sein. Und sie bedrücken – wohl vor allem deshalb, weil fast immer das Individuum im Fokus steht; auch gestalterisch werden diese Einzelpersonen immer wieder von der (‚anonymen’) Masse abgehoben. Sei es der einfache 48-jährige Angestellte Mahdi Ziu, der sich gegen die Tyrannei des Gaddafi-Regimes mit einer Selbstmordattacke wehrte. Oder jener 26-jährige tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich im Dezember 2010 aus Protest gegen die Ungerechtigkeit der Polizei selbst in Brand setzte. „Sein Opfer entflammt die gesamte arabische Welt“, heißt es in einem der Panel. Die Graphic Novel Der arabische Frühling gibt denen ein Gesicht, die bei den Protesten ihre Freiheit oder ihr Leben verloren haben – und dabei nicht selten den Lauf der Geschichte beeinflussten.

„Die Welt ändert sich!“ – „Dann wird es zum Schlechteren sein…“
Ähnliches lässt sich sicher über die beiden Personen sagen, deren Lebenswege der dänische Comicautor Henrik Rehr in seiner Graphic Novel Der Attentäter bebildert: zwei Menschen, deren Geburtsorte gerade einmal 320 Kilometer voneinander entfernt sind, deren Zusammentreffen in Sarajevo an einem Samstag im Juni 1914 aber sehr markant die Geschichte des 20. Jahrhunderts verändert hat. Denn anders als der Titel und der Untertitel Die Welt des Gavrilo Princip suggerieren, steht nicht allein der junge Todesschütze im Mittelpunkt; auch sein Opfer, Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-Este, wird zeichnerisch bis nach Sarajevo begleitet. Und dabei schafft es Rehr, das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren zu wahren, weder zu glorifizieren noch zu dämonisieren. In kunstfertigen Bildern zeigt er uns Princips Lebensumstände, seine jugendliche Empörung und eben auch seine Radikalisierung, die ihn am 28. Juni 1914 zum Mörder werden lässt.
Nun kann man, da das vergangene 100. Jahr nach dem Attentat unzählige Veröffentlichungen und Adaptionen zum Ersten Weltkrieg im Allgemeinen und seiner Vorgeschichte im Besonderen mit sich brachte, von einer gewissen Sättigung des Publikums ausgehen. Doch das eigentliche Verdienst von Der Attentäter liegt darin, wie es den bekannten Stoff umzusetzen versteht: Obwohl man weiß, worauf alles zusteuert, fliegen die Augen über die mehr als 200 Seiten, getragen von irrsinniger Spannung wie bei einem guten Krimi und voll von faszinierenden, sehr grafischen Bildern: großformatige, nicht selten ganzseitige Schwarzweißzeichnungen (ganz klar dominiert Schwarz den Band) wechseln sich mit Panels ab. Und der Moment, der den weiteren Verlauf der Geschichte verändern wird: eingefangen auf einer Doppelseite; in Schraffuren, fokussiert auf Princip und seinen Revolver. Danach ein „PENG! PENG!“, ganz klassisch – zwei Schüsse eben, in Comic-Panels.
Der Krieg, der dann folgt, wird auf wenigen Seiten – natürlich zeichnerisch! – zusammengefasst. Geradezu genial dabei: auf einer Doppelseite wird der Verlauf anhand von Soldaten in den jeweiligen Uniformen illustriert; mit jedem Gefallenen dunkeln sich die Panels ab, bis es schließlich schwarz ist über Europa. Nach der letzten Seite hat man das Gefühl, hier gerade ein Kunstwerk beiseite zu legen – gestalterisch und inhaltlich eine kleine Offenbarung.

Jean-Pierre Filiu/ Cyrille Pomes:
Der arabische Frühling
Carlsen 2013
Hardcover, 112 Seiten
15,90 €

Henrik Rehr:
Der Attentäter. Die Welt des Gavrilo Princip
Jacoby & Stuart 2014
Hardcover, 224 Seiten
28,00 €

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