Länderbericht Israel

Überformte südländische Machos stellen dir nach, dein Sitzplatz im Bus ist von einem MG besetzt, schwarz gekleidete Männer zischen dir „Schickse“ hinterher und über der Strandbar kreisen die Militärhubschrauber, während mal wieder alle telefonieren. Na dann ist doch alles normal!

von Juliane Sandner

Israel ist ein Einwanderungsland, das allen Juden offen steht. Man muss nur nachweisen können, dass man Kind einer jüdischen Mutter oder zum Judentum übergetreten ist. In unterschiedlichen Einwanderungswellen kamen seit mehr als hundert Jahren Juden hierher. Alle diese Menschen brachten ihre Traditionen und Kulturen mit. Genauso heterogen sieht die israelische Gesellschaft heute aus.

Land der Individualisten
Von jedem Menschenschlag findet man etwas: überpünktliche deutschstämmige Juden („Jeckes“), zurückhaltend freundliche äthiopische Juden, osteuropäische orthodoxe Juden und laute, lebensfrohe, orientalische Juden („Mizrahi“). Doch der Unterteilung nicht genug, kann man doch noch weiter nach dem Grad der Religiosität, der politischen Überzeugung, der sozialen Schicht etc. unterscheiden. Es wird klar, dass es den Israeli nicht gibt. Obwohl der jüdische Charakter überwiegt, leben in Israel auch Christen, Moslems, Drusen und Bahá’í. Die jüdische Symbolik (z.B. Thorarollen, Menora) bestimmt trotzdem das Land, in dem religiösen Fragen im Alltag weitaus größere Bedeutung beigemessen wird, als ich das vom säkularisierten Deutschland gewöhnt war. Vor allem in Jerusalem trägt die Mehrheit der Männer Kippas, und man sieht viel mehr Frauen mit Rock, Kopftuch oder Perücke. Hier bestimmen die Religiösen das Straßenbild: fromme Juden in schwarzen Mänteln, griechisch-orthodoxe Priester, strenggläubige Muslime, dazwischen immer wieder Polizisten und Soldaten.

Zwei Israelis – drei Meinungen

In Tel Aviv hingegen fühlt man sich wie in jeder anderen europäischen Großstadt. Israelische Fashionista trinken zu Dub-Musik mit ihren Freunden gekühlten Latte macchiato im Strandcafé. „The Bubble“ nennen die Israelis ihre Hauptstadt in Anspielung auf deren Eskapismus. Viele Israelis behaupten, das anstrengende Leben in Israel nur hier ertragen zu können. Vor meinem Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tel Aviv im Februar 2007 wollte ich das Land von seiner unpolitischen Seite kennenlernen. Ich ging drei Monate in den Kibbuz Geva, der im Norden des Landes, in Galiläa, am Fuße des Gilboa-Höhenzuges liegt. Das Erste, was ich lernte, war, dass in Israel alles politisch ist. Ein Sprichwort sagt: „Zwei Israelis – drei Meinungen!“

Kibbuzniks machen keine Gefangenen
Die massive Lautstärke, Direktheit und Vehemenz, mit der diese Meinung kundgetan wird, war sehr gewöhnungsbedürftig. Es gab mehrere Situationen, in denen ich angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzung dachte, es würde gleich zu Handgreiflichkeiten kommen. Vor allem Kibbuzniks, die selbst unter den eigenen Landsleuten als ein bisschen ungehobelt gelten, machen keine Gefangenen. Tendenziell schreien sich Israelis auch dann an, wenn sie die Ansichten ihres Gesprächpartners eigentlich teilen. Diese Emotionalität ist Ausdruck der Wichtigkeit einer Sache. Mit der ruhigen und sachlichen deutschen Diskussionskultur wird man nirgendwo ernst genommen. Andererseits darf man auch selbst mal ausrasten, ohne dass einem das nachgetragen wird. Sehr angenehm waren die Offenheit und das Interesse der Israelis. Überall wurde ich gefragt, was ich in Israel mache, wo ich herkomme usw. Es ist sehr leicht, Anschluss zu finden. Es gab keinen Freitagabend an Sabbat, an dem ich nicht irgendwo zum Essen eingeladen war. Überall redet man sich mit Vornamen an und duzt sich. Nur bei offiziellen Anlässen wird der Nachname gebraucht und sich formell angeredet. Auch der Kleidungsstil der Israelis ist casual – Anzugträger mit Krawatte sind die Ausnahme.Wie Schüler einen neuen Lehrer testen, loten Israelis ständig die Grenzen ihres Gegenübers aus. Dabei gilt Chuzpe im ganzen Land gleichzeitig als Tugend und als Übel. Frechheit, Unverschämtheit und Dreistigkeit – so die Übersetzungsmöglichkeiten – beweist man, wenn man seine egoistischen Interessen durchsetzen kann. Persönliche Chuzpe gilt als Vorteil, die der anderen dagegen nervt. Rücksichtsvolles Verhalten habe ich nur in Ausnahmefällen erlebt.

Geh mir aus der Sonne, Zohan!
Wer mit dem sehr subtilen Flirtstil deutscher Männer nichts anfangen kann, wird in Israel fündig werden. Mit sehr heller Haut- oder Haarfarbe ist man als Ausländerin sofort identifiziert; da kann es am Strand von Tel Aviv nach dem sechsten oder siebten klar geäußerten „Neiiiiinnnn!!!“ auch schon mal lästig werden. Auch auf Parties, an Bus­haltestellen oder im Supermarkt – eigentlich sollte man fast überall mit einer Flirtoffensive rechnen. Israelische Frauen wehren sich durch eiskalte Arroganz. Meisterinnen dieses Faches senken die Zimmertemperatur bei Bedarf durch einen einzigen Blick um 20-25 °C, jedes entflammte männliche Herz kühlt da ab. Als letzte Mittel helfen Wutanfälle, auf Durchzug geschaltete Ohren und stures, o-f-f-e-n-s-i-c-h-t-l-i-c-h-e-s Ignorieren. Jegliches Fingerspitzengefühl und jede Rücksichtnahme auf die Gefühle des anderen gießen nur weiteres Öl ins ewig lodernde Balzfeuer. Lediglich mit Vehemenz und Konsequenz lässt sich verhindern, dass sich mehr als nur die erwünschten Gäste aufs eigene Badehandtuch setzen. Und auch die Schönheiten sind reichlich gesät. Bis ich mich nach den ersten zwei Monaten an so viel männlichen und weiblichen Eye-Candy gewöhnt hatte, war ich längst ein taumelnder und reizüberfluteter weiblicher Macho.

Alles bewegt, brabbelt und besucht
Es gibt in Israel keine allgemeingültigen Regeln, die von jedem eingehalten werden. Sie alle gelten nur als grobe Richtlinien. So wird im Straßenverkehr plötzlich gewendet, abgebogen und die Spur gewechselt – üblicherweise ohne zu blinken. Es wird gehupt und sich angeschrieen. Radfahrer sieht man nur sehr selten auf israelischen Straßen.Was für den Straßenverkehr gilt, lässt sich auch auf Verabredungen übertragen. Mit spontanen Änderungen von Veranstaltungsort und -zeit, der Gruppenkonstellation und selbst der Veranstaltung ist jederzeit zu rechnen. Und wenn es an der Tür klingelt, ist das nicht der Postbote, sondern sind es ein paar Freunde oder Verwandte, die gerade in der Gegend waren. Israelis sind ständig in Bewegung. Zeit ist nicht chronologisch eingeteilt, es werden zehn Sachen nebeneinander bearbeitet. Das bedeutet, dass man die anderen ständig nerven und an etwas erinnern muss, will man sichergehen, dass es auch erledigt wird. Außerdem redet jeder über jeden, und ein Gerücht überholt das nächste.

Von 100 auf 1.000
Israel war für mich ein Land, in das ich mit 100 Fragen gekommen bin und mit 1.000 Fragen wieder verlassen habe. Ein Israelaufenthalt, der über den Besuch der touristischen Sehenswürdigkeiten hinausgeht, ist alles andere als ein Zuckerschlecken, da der Nahostkonflikt allerorts und ständig spürbar ist: die Angst vor Anschlägen, die Anspannung, die Kontrollen, die allgegenwärtige Präsenz von Polizei und Militär – für mich als Deutsche kam noch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust hinzu.Nicht zu vergessen, dass man sich ständig gegen die Chuzpe der anderen wehren muss, gegen die Lautstärke, die Hektik, die Rücksichtslosigkeit. Und trotz allem fällt es dann doch so schwer, wieder zu gehen.


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