Was Walt Disney und Anarchist*innen gemeinsam haben

Komplexe gesellschaftliche Probleme erfordern kreative Lösungen. Dafür brauchen wir Ideen, die – im besten Sinne utopisch – über den Rahmen des Konventionellen hinausgehen. Eine Ode an das kollektive Träumen.

von Anna Oberhauser und Amandus Hopfgarten


Disney-Filme, Disney-Comics, Disney-Land, Disney+ – spätestens seit der Erfindung von Micky Maus 1928 steht der Name Walt Disney sinnbildlich für die Unterhaltung und Freizeitgestaltung von Generationen von Kindern. Dem Abschnitt „Gesellschaftspolitische Einstellung“ in Walt Disneys Wikipedia-Artikel nach zu urteilen, ist es wohl besser, dass er kein bedeutender Politiker geworden ist – aber vielleicht können wir trotzdem noch was von ihm lernen. Dem Hörensagen nach griff Disney immer dann, wenn kreative Geistesblitze beim Schreiben und Zeichnen auf sich warten ließen, auf eine später nach ihm benannte Methode zurück. Diese kommt heute noch in verschiedensten Bereichen zum Einsatz, wenn kreative Lösungen für komplexe Probleme gefragt sind und alle anderen Methoden versagen: Sie findet sich im Organisationshandbuch eines Bundesministeriums, wird im Coaching und zur Persönlichkeitsentwicklung verwendet und hat sogar in der Unternehmensberatung ihren Platz (muss also gut sein!). Der erste Schritt besteht darin, die eigenen Denkmuster zu durchbrechen und Ideen über Konventionen und angenommene „Machbarkeit“ hinaus wachsen zu lassen, also ins Träumen zu kommen: Wäre es nicht toll, wenn …? Erst wenn derdie Träu- merin diesen ersten Schritt gemacht hat, kommt der Reality-Check ins Spiel: Wie lässt sich die Idee verwirklichen? Erst ganz zum Schluss darf konstruktive Kritik geübt werden, bevor der Zyklus von Neuem beginnt.

„Das ist doch utopisch!“ ist (leider!) kein Kompliment

Nun drängen Klimakrise, soziale Ungleichheit, erstarkende rechte Meinungen, ein seit Ewigkeiten unterfinanziertes Bildungs- und Gesundheitssystem, zu wenig Geld in der Staatskasse, und von „Digitalisierung“ fängt man besser gar nicht erst an. Wir brauchen sozialen und politischen Wandel auf verschiedenen Ebenen – und dafür sind Utopien hilfreich und notwendig. Es gibt nur ein kleines Problem: Der Duden definiert „Utopie“ als einen „undurchführbar erscheinende[n] Plan“, eine „Idee ohne reale Grundlage“, was bedauernswerterweise prägend für die allermeisten politischen Diskurse unserer Zeit ist. Der Vorwurf „Das ist doch utopisch!“ erscheint als ausgewachsenes Äquivalent eines bockigen, unbelehrbaren Kindes, das uns mehr mit Mimik und Gestik als mit Worten sagt: Darüber will ich nicht nachdenken. Glücklicherweise gibt es auch Politiklexika, die uns Utopien vergleichsweise sympathisch als „auf die Zukunft gerichtete politische und soziale Vorstellungen“ präsentieren, die „Wunschbilder einer idealen Ordnung oder fortschrittlichen menschlichen Gemeinschaft zeichnen“ (Schubert/Klein, Bonn 2020) – und uns schmerzlich daran erinnern, was unsere krisen-, kapitalismus- und kapitalismuskrisengeplagte Gesellschaft spätestens seit dem Neoliberalismus gut gebrauchen könnte: die Traumphase der Disney-Methode. Wie sollen wir Lösungen für Probleme finden, wenn wir es nicht schaffen, zumindest hin und wieder wirklich kreativ und – im besten Sinne – utopisch zu denken? Und was rechtfertigt unsere gesamtgesellschaftliche Aversion gegenüber Idealen, die nicht nur kleinteilige Veränderungen am bestehenden System (das sogenannte „piecemeal engineering“) erfordern, obwohl offensichtlich nicht „alles gut“ ist in unserem bestehenden System? Wir brauchen Utopien im Plural – am besten ganz viele davon, mit denkbar unterschiedlichen Ansätzen. Denn erst, wenn wir zumindest im Nachdenken den Schritt aus dem bestehenden Rahmen hinauswagen, wird es möglich, dass irgendwann die tiefgreifenden Veränderungen passieren, die nötig sind. Niemand kann wissen, was für alle Menschen in ihrer jeweils individuellen Lebenslage das Beste ist, also müssen verschiedene Menschen ran und die Grenzen des Möglichen zumindest eine Traumphase lang hinter sich lassen. Ein positiv belegter Utopiebegriff kann dabei nur für Ideen gelten, die eine bessere Gesellschaft für alle zum Ziel haben. Ideologien, die auf gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit basieren und/oder auf illegitime Machtverhältnisse abzielen, haben es nicht verdient, den Utopiebegriff für sich zu beanspruchen. Wie wir schon gesehen haben, ist die Aussage „Das ist doch utopisch!“ im politischen Diskurs in aller Regel nicht unbedingt als Kompliment gemeint. Ideen, die radikalere Veränderungen vorsehen und somit stärker von der Norm abweichen, werden in der Regel diskreditiert, bevor ihr Potenzial überhaupt zur Sprache kommen kann. Mit der Disney-Methode gesprochen, ersticken Realistinnen und Kritikerinnen in unserer Gesellschaft bei politischen Debatten jedwede Bemühung der Träumer*innen bereits im Keim – uns ist kollektiv das Träumen abhandengekommen.

Im Anarchismus ist Träumen politische Praxis

Fragt man Anarchist*innen, ist das gelinde gesagt unschön: Der Anarchismus ist ein Paradebeispiel für die Funktionsweise dieser vorschnellen Kritik, die das Potenzial bestimmter Ideen oder Ideale von vornherein negiert. Seit dem Aufkommen moderner anarchistischer Theorie im 19. Jahrhundert mit Proudhon, Bakunin und Kropotkin wird diese, ganz gleich in welchen Ausprägungen und mit welchen Ansätzen, vom Utopie-Vorwurf heimgesucht – und das bis in die heutige Zeit. Wer das hier liest und bereits wusste, dass das Konzept von „Anarchie“ mit der weit verbreiteten Verwendung des Wortes (Duden: „Zustand der Gesetzlosigkeit; Chaos“) ungefähr so viel zu tun hat wie „Kapitalismus“ mit „Gemeinwohl“, kann sich kurz freuen, aber bitte trotzdem weiterlesen. Etymologisch betrachtet bedeutet Anarchie schlicht „Herrschaftslosigkeit“. Auch wenn sich nach Thomas Hobbes bedauerlicherweise noch viele Menschen Mühe gegeben haben, um alles zu delegitimieren, was die Existenz von Staaten und anderen Herrschaftsverhältnissen auch nur theoretisch in Frage stellt, hat sich die anarchistische Theorie seit dem späten 20. Jahrhundert immerhin den Utopiebegriff positiv angeeignet: Anarchismustheoretikerinnen wie Peter Marshall argumentieren, dass es keineswegs ein Mangel anarchistischen Denkens ist, das „Unmögliche“ zu fordern, sondern gerade seine Qualität. „Unmöglich“, und damit im konventionellen Sprachgebrauch „utopisch“, erscheint in unserer Welt zunächst alles, was historisch gewachsene gesellschaftliche Gegebenheiten nicht als allgemein- und ewiggültigen Referenzrahmen des Denkens setzt. Anarchistische Theorie ist also von Beginn an in einem der Disney-Methode verwandten Denken verwurzelt und wagt es, erstrebenswerte gesellschaftliche Verhältnisse zu „erträumen“. (Die Tatsache, dass dieser Satz für manche Leserinnen nach unbrauchbarem Wischiwaschi statt nach Politik klingen mag, sagt mehr über unsere – in dieser Hinsicht traurige – Realität aus als über das Potenzial eines solchen Denkens.) Dabei geht es nie darum, eine einzige „Idee für das Klappen aller Dinge“ (Jason Bartsch, 2020) vorzulegen und jede Form menschlicher Gesellschaft entsprechend umstrukturieren zu wollen. Im Gegenteil haben Anarchistinnen bereits wesentlich früher als Verfechterinnen anderer politiktheoretischer Strömungen verstanden, dass ein progressives, inklusives und empowerndes politisches Projekt nur Erfolg und die resultierende Ordnung (ja, auch im Anarchismus gibt es Ordnung) nur Bestand haben kann, wenn dieses Projekt von unten wächst. Das bedeutet „Utopien im Plural“.


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