Wachstumskrise als Zukunftsperspektive

Der Sammelband „Wachstum – Krise und Kritik“, herausgegeben vom Arbeitskreis Postwachstum des Jenaer Kollegs Postwachstumsgesellschaften, vereint vielfältige Positionen zur aktuellen Krise des Kapitalismus und eine kritische Reflexion möglicher Zukunftsentwürfe.

von Martin

Das kapitalistische Wachstum scheint an Grenzen zu stoßen: Niedrig- und Nullzinsenpolitik, ein Erlahmen der chinesischen Wirtschaft, konstant hohe Arbeitslosigkeitsraten und ein künftiger amerikanischer Protektionismus machen auch fast zehn Jahre nach der globalen Finanzkrise deutlich, dass das zentrale Credo des unendlichen Wachstums selbst in die Krise geraten ist. Die Frage, ob die kapitalistische Weltwirtschaft in eine „säkulare“ Stagnation geraten ist, beschäftigt nicht nur Politiker und Ökonomen, sondern zunehmend auch Soziologen und Aktivisten. Denn eins ist klar: Kapitalismus ohne Wachstum ist nicht möglich. Mit einer Stagnation gerät also nicht nur die Wirtschaft in die Krise, sondern ein ganzes Gesellschaftsmodell, woraus vielfältige Bedrohungsszenarien resultieren können. Eine autoritäre Form von Kapitalismus, Nationalismus und antidemokratische Strömungen treten in den Horizont des Möglichen.
Neben diesen düsteren Zukunftsvisionen wird durch die Krise aber auch die Suche nach einer anderen Form von Gesellschaft – einer Postwachstumsgesellschaft – dringlich und zunehmend auch wissenschaftlich diskutabel. Und so ist es wenig verwunderlich, dass spätestens seit der 4. Internationalen Degrowth Konferenz 2014 in Leipzig die Begriffe „Degrowth“, „Décroissance“ und „Postwachstum“ nicht mehr nur von Aktivisten diskutiert werden, sondern vermehrt Resonanz in der Wissenschaft finden. Das Institut für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena hat sich hierbei zu einem der wichtigen Zentren im deutschsprachigen Raum entwickelt, denn hier ist seit 2011 das DFG-Forschungskolleg „Postwachstumsgesellschaften“ angesiedelt. Das Kolleg, bestehend aus einer Kollegforschergruppe und wechselnden internationalen Kollegiaten, widmet sich dabei so wichtigen Fragen wie der nach der dynamischen Stabilisierung von Wachstumsgesellschaften und ihrer Pathologien sowie nach den Möglichkeiten und Elementen einer künftigen Postwachstumsgesellschaft. Durch die Praxis eines kritischen Dialogs sollen Ideen entwickelt werden, die dabei auch anschlussfähig an den gesellschaftlichen Diskurs sind.

Zwischen Krise, Kritik und Aufbruch

Der Sammelband Wachstums – Krise und Kritik. Die Grenzen der kapitalistischen-industriellen Lebensweise, herausgegeben vom Arbeitskreis Postwachstum, vereint nun die wichtigsten Positionen der jüngeren Diskussion am Kolleg und gibt einen Überblick über die vielfältigen Problemfelder und Perspektiven des Postwachstumsdiskurses. Die insgesamt 14 Beiträge des Bandes gliedern sich entlang von fünf Themenfeldern, die zugleich die großen Fluchtpunkte des Postwachstumsdiskurses darstellen: 1. Kapitalismus oder Industriegesellschaft, 2. Stagnationstendenzen oder ungleiches Wachstum, 3. Entwürfe einer Postwachstumsgesellschaft, 4. Akteure der Transformation sowie 5. Degrowth und Demokratie. Es werden also ausgehend von der Frage, was der grundsätzliche Treiber destruktiver Wirtschaftsdynamik ist, zunächst Positionen zum Wesen der aktuellen Krise und einer möglichen Transformation der Kapitalismus diskutiert, um anschließend ausgewählte Aspekte eines theoretischen Entwurfs einer Postwachstumsgesellschaft vorzustellen. Hieran knüpft die Frage nach den Möglichkeiten potentieller Transformationsakteure an. Diese werden anschließend im Hinblick auf die unterschiedlichen Demokratieverständnisse im Postwachstumsdiskurs kritisch diskutiert.
Hervorzuheben sind u.a. die Beiträge von Karl-Georg Zinn, Silke van Dyk sowie Ulf Bohmann und Barbara Muraca. So erläutert Zinn die Frage, welche Formen ein Kapitalismus ohne Wachstum annehmen kann. Je nach politischer Gestaltung kann die Entwicklung entweder zu einer autoritären – also neofeudalen – Version mit starker sozialer Ungleichheit oder zu einer positiveren Version mit hoher Staatsquote und mehr Umverteilung tendieren. Silke van Dyk beschäftigt sich in ihrem Beitrag hingegen mit einer Kritik an der in der Postwachstumsbewegung weit verbreiteten Forderung nach einer Stärkung von Gemeinsinn, Care-Arbeit und Commons. Ohne diese Forderung zu diskreditieren zeigt sie differenziert auf, wie eine unreflektierte Artikulation dieser Positionen einem pauschalen Anti-Etatismus Vorschub leisten, der die demokratische Errungenschaft des Wohlfahrtsstaates negiert und teils in bloße Moralisierungen abgleitet. Daran anknüpfend erläutern Ulf Bohmann und Babara Muraca die unterschiedlichen demokratietheoretischen Positionen im Postwachstumsdiskurs. Deutlich wird hier, dass zwischen Grundformen der Selbstregierung, des Neo-Athen und eines radikal demokratischen Postmarxismus noch keine wirklich tragfähige Idee eines demokratisch verfassten und regierbaren politischen Systems für eine Postwachstumsgesellschaft vorhanden ist – die Transformation der Gesellschaft wird somit also auch eine der Demokratie sein.
Der Sammelband führt wesentliche Positionen und Diskurse der Postwachstumsidee zusammen und zeichnet sich vor allem durch eine kritische Reflexion dieser Ansätze aus. Deutlich wird dabei, dass nicht nur in Fragen der Krisenanalyse, sondern auch im Bereich künftiger Gesellschaftsentwürfe Uneinigkeit besteht. Gerade hier liegt jedoch die Stärke der Postwachstumsidee, denn nur so kann sie diskursoffen und gesellschaftlich anschlussfähig sein, um ein demokratische und gesamtgesellschaftlich getragene Transformation zu ermöglichen. Von wissenschaftlicher Seite zeigen die Autoren des Sammelbandes damit wichtig Baustellen und Forschungsfragen auf, deren Beantwortung letztlich zentral für eine bessere Zukunft ohne Wachstumsimperative sind.

AK Postwachstum (Hg.):
Wachstum – Krise und Kritik
Die Grenzen der kapitalistisch-industriellen Lebensweise
Campus Verlag 2016
315 Seiten
29,95 €


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