Über den gesellschaftlichen Umgang mit der Pädophilie

Während die meisten sexuellen Neigungen in der westlichen Gesellschaft weitgehend akzeptiert und toleriert sind, ist die Pädophilie, die sexuelle und emotionale Zuneigung zu Kindern, nach wie vor gesellschaftlich geächtet. Dabei könnte eine Entstigmatisierung für alle Seiten förderlich sein.

von Renke

Im Juni 2018 wurde ein Mann lebensgefährlich verletzt, weil dieser in einem Fernsehbeitrag als vermeintlich straffällig gewordener Pädophiler erkannt wurde. Gewaltsam wurde in seine Wohnung eingedrungen und auf ihn eingeschlagen. Kurz darauf stellte sich heraus, dass der Mann verwechselt worden war. Diese Form der Lynchjustiz wird befeuert durch reißerische Schlagzeilen in der Bild und anderen Boulevardzeitungen: „Das widerliche Kinderschänder-Netzwerk“, „Jetzt bringt auch alle anderen hinter Gitter“.
Und nicht nur dort: Als im April diesen Jahres bekannt wurde, dass dem großen französischen Philosophen Michel Foucault das sexuelle Vergehen an Minderjährigen nachgesagt wird, ging ein Aufschrei durch das Feuilleton. In Tunesien soll der Intellektuelle in den 60er Jahren junge Knaben missbraucht haben. Die Vorwürfe basieren lediglich auf Gerüchten und konnten bisher nicht bewiesen werden. Doch dieser Vorwurf genügt, um in der Gesellschaft eine Vorverurteilung hervorzurufen. Foucault selbst lebte offen homosexuell zu einer Zeit, die noch eng an das heteronormative Leitbild gekoppelt war. Er zeigte, wie abweichende Sexualitäten mit abweichenden Persönlichkeiten gleichgesetzt und sozial ausgestoßen wurden und schrieb: „Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. […] Der Homosexuelle ist eine Spezies.“

Nicht jede*r ist automatisch straffällig

Ganz ähnlich mag es heute Personen mit pädophiler Neigung ergehen. Sozial geächtet, steht der Pädophile als fragwürdiges Glied in der Gesellschaft. So nachvollziehbar die gesellschaftliche Reaktion zum Schutz der Schwächsten in unserer Gesellschaft auch sein mag, es stellt sich die Frage nach dem Umgang mit pädophilen Menschen, denn nicht jeder wird auch automatisch straffällig. Die MIKADO-Studie (Missbrauch von Kindern: Ätiologie, Dunkelfeld, Opfer) der Universität Regensburg legt nahe, dass nur ein geringer Teil der Menschen mit sexuellen Fantasien zu Kindern eine solche auslebt. Die Studie schätzt, dass 4,4% der männlichen Bevölkerung sexuelle Fantasien mit Kindern haben und dass die Prävalenz derjenigen, die keine Straftat begehen, bei 2,4% liegt, womit wiederum andere Studienergebnisse bestätigt würden, dass nicht jede pädophile Neigung zwingend zu einer solchen Handlung führt. Ein Dunkelfeld der Forschung besteht noch immer in der geschlechtlichen Verteilung der Täter*innen. Insbesondere bei Berichten männlicher Opfer werden auch Frauen als Täterinnen angegeben. Die Studie geht von einem Anteil von ca. 20% unter den Täter*innen aus. Eine klinische Diagnose der Pädophilie wird jedoch fast ausschließlich Männern gestellt. Weiter müsse gesagt werden, dass nicht jeder Missbrauch einem sexuellen Interesse entspringt, sondern zu 44% anderweitig motiviert ist, beispielsweise durch innerfamiliäre Probleme und Konflikte oder durch antisoziale Merkmale, die zu einem sexuellen Missbrauch führen, aber keine zwingende pädophile Bedingtheit aufweisen.

Die Tragik pädophiler Männer“

In einem Punkt unterscheidet sich die sexuelle Präferenz zu Kindern erheblich von anderen Formen der Sexualität. Dieser lässt sich im Begriff des „Intimate Citizenship“ fassen. Der Sozialpsychologe Gunter Schmitt bezeichnet diesen als eine Verhandlungsmoral, in welcher gleichberechtigte Individuen die Regeln und Grenzen gemeinsamer Sexualität ausloten, also ein sexueller Konsens zwischen den Beteiligten erreicht wird. Doch, das fragt auch Schmitt, kann ein solcher Konsens zwischen einem Erwachsenem und einem Kind erreicht werden?
Die Antwort darauf muss ein klares Nein beinhalten. Und darin liege laut Schmitt die „Tragik pädophiler Männer“:
Tragisch ist diese Situation, weil die sexuelle Orientierung des Pädophilen tief und strukturell bis in ihre Identität hinein verwurzelt ist. Die Pädophilie gehört zu ihnen wie die Liebe zum gleichen oder anderen Geschlecht beim Homo- und Heterosexuellen, mit dem Unterschied, dass das eine grundsätzlich erlaubt, das andere, die Pädophilie, grundsätzlich verboten und seine Realisierung kaum möglich ist. Für diese Bürde, die Zumutung, ihre Liebe und Sexualität nicht leben zu können, verdienen sie Respekt, nicht Verachtung, Solidarität, nicht Diskriminierung.“
Kann eine Gesellschaft das? Respekt zollen und sich solidarisch zeigen für Menschen mit pädophiler Neigung?
Kein Mensch sucht sich die sexuelle Präferenz aus. Es sind die individuellen Vorlieben einer Person, die sich je nach Geschlecht, körperlichem Entwicklungsstadium und sexueller Praktik unterscheiden kann. Und genauso wenig, wie eine homosexuelle Neigung geändert werden kann, kann auch eine pädophile Neigung nicht einfach verschwinden. Sogenannte „Homotherapien“ sind grandios gescheitert und sollen nun auch mit gutem Grund verboten werden. Ein ähnliches Scheitern wäre prädestiniert bei der Behandlung Pädophiler. Und dennoch sind Therapieangebote für Menschen mit einer pädophilen Präferenz sinnvoll, und zwar dann, wenn daraus eine Selbstgefährdung, eine Fremdgefährdung oder ein subjektives Leiden resultiert.

 

Kein Täter werden

Das Programm „Kein Täter werden“ der Charité Berlin bietet in genau solchen Fällen eine Anlaufstelle für Pädophile. Ziel ist es, den Patienten einen Umgang mit ihrer sexuellen Vorliebe zu ermöglichen, um ein selbstzufriedenes, von Akzeptanz getragenes Leben führen zu können. Erheblich erschwert wird dieses jedoch durch eine gesellschaftliche Stigmatisierung, die den Pädophilen noch vor der Tat in die Ecke des Kinderschänders stellt. Rund die Hälfte der Befragten in der MIKADO-Studie sprechen sich für eine Präventivhaft von Nicht-Tätern aus und rund 27% wünschen diesen sogar den Tod. Dabei wird die Kausalität zwischen pädophiler Neigung und sexuellem Missbrauch gesellschaftlich überschätzt, denn, wie bereits erläutert, wird ein großer Teil gar nicht erst straffällig und nicht jeder Missbrauch ist auf pädophiles Interesse zurückzuführen. Das öffentliche Anprangern verhindert nicht nur die Inanspruchnahme von therapeutischen Angeboten, sondern kann dadurch auch indirekt zu einem erhöhten Risiko von sexuell normverletzendem Verhalten beitragen. Die Wirksamkeit der Therapien muss wissenschaftlich allerdings noch überprüft werden, da die Angebote noch relativ neu sind und es keine gesicherten Daten über den Therapieerfolg gibt. Jedoch lassen sich die Risikofaktoren für sexuelle Übergriffe durch eine Therapie beeinflussen. Beispielsweise werden emotionale Komponenten und die Fähigkeit zur Selbstregulation verbessert.
Sara Jahnke von der Universität Jena hat die Stigmatisierung pädophiler Menschen untersucht und kommt zu dem Schluss, dass der mit dem gesellschaftlichen Stigma einhergehende Stress ein indirekter Risikofaktor für Sexualstraftaten darstellt. Der Stress führt zu emotionalen, sozialen und kognitiven Problemen, welche die Eigenkontrolle über das sexuelle Verhalten mindern und sexuellen Missbrauch so wahrscheinlicher machen. Zudem werden therapeutische Angebote abgelehnt, die präventiv auf das Verhalten wirken könnten. Jahnke plädiert dafür, mehr Behandlungsoptionen zu schaffen und auch unter Psychotherapeuten ein Bewusstsein für die Gefahr der Stigmatisierung zu schaffen, um adäquat und ohne Vorverurteilung Menschen mit pädophiler Neigung zu behandeln.
Unter diesen Umständen sollte die Gesellschaft darüber nachdenken, ob sie pädophilen Menschen die Bürde ihrer Neigung zumindest ein Stück weit abnehmen kann, indem sie sich solidarisch und respektvoll zeigt, wie es Gunter Schmitt vorschlägt, um so eine gesamtgesellschaftliche Wirkung der Prävention zu erreichen und damit nicht nur jenen zu helfen, die im Zentrum der Begierde pädophiler Menschen stehen, sondern auch denen, die diese Neigung mit sich tragen. Denn: Pädophilie und sexueller Missbrauch ist nicht dasselbe und pädophile Menschen sollten nicht an ihrer sexuellen Neigung, sondern an ihrer sexuellen Handlung bemessen werden. Dann kann eine Entstigmatisierung erfolgen, welche einerseits zum Wohlergehen der Betroffenen beiträgt, indem diese Therapieangebote annehmen und das Risiko einer Selbstgefährdung reduziert wird. Andererseits kann auch die Gefahr einer Fremdgefährdung gemindert und die Sicherheit von Kindern und Heranwachsenden besser gewährleistet werden. Zu guter Letzt wird ein gesellschaftliches Klima erzeugt, welches sich konstruktiver mit dem Problem der Pädophilie auseinandersetzt und hysterische Reaktionen der Gesellschaft in Form von Hexenjagd, Lynchjustiz oder medialer Vorverurteilung vermeidet.

 


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