„Grande nation“ – petite prison

Französische Haftbedingungen: viel Schatten, wenig Licht (Foto: Thomas Hawk)

Prekäre Haftbedingungen sind nicht nur ein Problem entlegener Diktaturen. Ein Blick in französische Gefängnisse offenbart gravierende Verletzungen europäischer Normen.

von Anna Franziska Eckslager

Wenn das Stichwort „schlechte Haftbedingungen“ fällt, denkt man unweigerlich an die üblichen Verdächtigen. Da wären zum einen die USA, deren Militärgefängnis Guantanamo als Paradebeispiel für menschenunwürdige Haftumstände gilt. Auch die Foltervorwürfe aus chinesischen Gefängnissen sind hinlänglich bekannt. Das Stichwort Europa fällt in diesem Kontext eher selten. Sind europäische Gefängnisse wirklich um so vieles besser, oder hören wir einfach weniger aus unseren unmittelbaren Nachbarländern? Tatsächlich bildet auch der europäische Strafvollzug keine Ausnahme, wenn es um Haftbedingungen geht. Frankreich etwa fällt nicht durch Aufsehen erregende Verbrechen auf, sondern schlicht und einfach durch die Überbelegung der Gefängnisse.
Französische Haftanstalten lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Zum einen die maison d‘arrêt, zu deutsch ‚Arresthäuser’, die für Verdächtige in Untersuchungshaft vorgesehen sind sowie für Straftäter, die eine Strafe von weniger als einem Jahr zu verbüßen haben. Die etablissements pourpeines (Strafvollzugsanstalten) dagegen beherbergen Verurteilte ab einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder länger. Zu dieser Kategorie gehören die centre de détention (‚Haftzentren‘) sowie die maison centrale (‚Zentralhäuser‘). Anders als bei normalen Gefängnissen, handelt es sich bei den maison centrale um Hochsicherheitsgefängnisse.
Laut eines Informationsschreibens der britischen Organisation Prisoners Abroad unterscheidet sich die Belegungssituation zwischen den Gefängnisarten wesentlich. Während sich in den Untersuchungsanstalten oft drei bis vier Häftlinge eine Zelle teilen, haben in den Vollzugsanstalten die Insassen in der Regel eigene Zellen – zumindest nach Plan.

Zellen ohne Toilette
Tatsächlich ist die Lage erheblich prekärer. Schon 2009 prangerte Amnesty International die unhaltbaren Zustände an, denen sich nicht nur Häftlinge, sondern auch Vollzugsbeamte gegenüber sahen. So waren laut dem französischen Justizministerium 138 von 234 Gefängnissen überbelegt, darunter 15, die sogar doppelt so viele Insassen beherbergten wie eigentlich vorgesehen. Seither hat sich die Lage nicht gebessert: Insgesamt beherbergten französische Haftanstalten 2013 rund 68.000 Insassen – bei einer Aufnahmekapazität von nur 57.000.
Dies lässt sich nur zum Teil auf die steigende Kriminalitätsrate zurückführen. Auch die Gesetzgebung hat ihren Anteil an der prekären Lage: In Frankreich gibt es kaum gesetzliche Alternativen zum Freiheitsentzug, was einen hohen Anteil an Untersuchungshäftlingen verursacht. Dass die Überfüllung und die damit verbundenen Probleme ausgerechnet in den Untersuchungshaftanstalten so groß sind, wo für ein Viertel der Insassen die Unschuldsvermutung noch gilt, kann daher nur als grotesk bezeichnet werden.
Verschärft wird die Lage zudem durch die unter Nicolas Sarkozy erfolgte Einführung einer Mindeststrafe bei Wiederholungstaten. Seither liegt diese bei einem Jahr; davon abzuweichen erfordert eine gesondert dargelegte Begründung – die den Richter Zeit kostet und darum so gut wie nie erarbeitet wird. Dadurch steigt die Zahl der Insassen zusätzlich. Mittlerweile mehren sich Stimmen, die eine Abschaffung der Mindeststrafe fordern – bislang vergeblich.
2006 brachte der Europarat eine Empfehlung heraus, die sich mit den europäischen Haftregeln befasste. Darin wurden für Haftzentren allgemeine Richtlinien aufgestellt, die die Inhaftierung strukturieren sollten. Es wurden vor allem grundlegende Normen festgelegt, wie die Unterbringung der Strafgefangenen und die Ausstattung der Hygieneeinrichtungen. So müssen Häftlinge etwa nachts in Einzelzellen untergebracht werden, sodass ihnen ein Mindestmaß an Privatsphäre ermöglicht wird. Der Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle soll die Zustimmung der betroffenen Häftlinge vorausgehen. Angesichts des Ausmaßes der Überbelegung in Frankreich scheint es jedoch unwahrscheinlich, dass diese Vorgaben in jedem Fall erfüllt wurden.
Die Folgen der bestehenden Verhältnisse dagegen sind dramatisch und ziehen weitere Verletzungen der Europarat-Empfehlungen nach sich. Von Unterrichtssälen über Arbeitsplätze in den Werkstätten bis zu sanitären Einrichtungen – oft fehlt es am Notwendigsten. Viele Gefängnisse sind für ihre Hygienemängel bekannt. Anders als gefordert verfügen nicht einmal alle Zellen über eine Toilette. Und wenn, sind diese manchmal nur durch kniehohe Mauern vom Rest der Zelle getrennt. Bei der Mehrfachbelegung stellt dies einen Eingriff in die Privatsphäre dar, der vom Europarat verurteilt wird.
Das Untersuchungsgefängnis Gradignan weist die Probleme französischer Gefängnisse besonders geballt auf: Mit 855 Häftlingen bei offiziell nur 411 Plätzen war dieses Untersuchungsgefängnis 2009 um mehr als das Doppelte überbelegt. In den neun Quadratmeter großen Zellen schliefen häufig zwei Insassen in Etagenbetten, teilweise sogar ein dritter auf einer Matratze auf dem Boden. Doch an der Spitze standen sieben Zellen, deren 16 Quadratmeter sich jeweils sechs Häftlinge teilen mussten – abzüglich Platz für Waschecke, Toilette und Betten. Für 80 Insassen gab es gerade einmal sechs Duschköpfe. Zudem fehlten allein in Gradignan etwa 30 Vollzugsbeamte, um der Lage Herr zu werden.

Langeweile und Selbstmord
Auch in anderen Gefängnissen herrscht chronischer Personalmangel. Die Bildungs- und Arbeitsangebote der Einrichtungen können von den Insassen zum Teil nicht wahrgenommen werden, weil es niemanden gibt, der sie dorthin geleiten könnte. Das Fehlen der Beschäftigungsmöglichkeiten, die eigentlich in den europäischen Haftregeln gefordert werden, führt bei den Häftlingen zu Langeweile und Spannungen, die durch die Überfüllung verstärkt werden. Dadurch wächst auch die Gefahr von Sicherheitslücken in den Anstalten.
Unter dem hohen psychologischen Druck, der durch die Überfüllung der Anstalten noch gefördert wird, brechen viele Häftlinge zusammen. Vor allem die Insassen in Untersuchungshaft sind dabei verletzlich. Laut der New Yorker NGO Humanity in Action begeht etwa ein Viertel aller französischen Häftlinge einen Suizidversuch – innerhalb von nur 48 Stunden nach der Inhaftierung. Mit einer Selbstmordrate von 15,5 pro 10.000 Insassen – die erfolglosen Versuche nicht mitgerechnet – nehmen französische Gefängnisse einen traurigen Spitzenplatz in Europa ein.
Angesichts der finanziellen Lage Frankreichs ist mit einer schnellen Lösung kaum zu rechnen. Weder für die Einstellung weiterer Beamter noch für die notwendigen Renovierungsarbeiten ist Geld da. Es werden zwar neue Gefängnisse gebaut, doch ob ihre Zahl ausreichen wird, ist fraglich, besonders angesichts der Tatsache, dass diese Politik schon in der Vergangenheit gescheitert ist. Schließlich versuchte Frankreich bereits in den 1980er Jahren mit dem Neubau von 13.000 Plätzen der Überfüllung Herr zu werden. Heute wirkt dieses Vorhaben nicht nur unterdimensioniert, die Überbelegung entwickelte sich auch noch parallel zu den Neubauten. Letztendlich wird das Problem der Überbelegung auch eine Reform der bestehenden Gesetzgebung erfordern. Doch ob es dazu kommt und wie sie aussehen könnte, muss sich erst noch zeigen.

Anna Franziska Eckslager studiert Anglistik/Amerikanistik an der FSU Jena und ist Mitglied der Amnesty International Hochschulgruppe Jena.
Mail: anna.eckslager[ät]uni-jena.de

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