Ein Spaziergang durch Röttelmisch

von fabian

„Kommt mit mir nach Schleicherstadt und schleicht mit mir. Lalalala – la“ dröhnt es blechern über die Dächer des Ortes. Ein kleines Mädchen mit rosa Faltenrock heult sich langsam eine Kletterstange empor und auch wenn sie den Maikranz am Ende doch nicht erreicht, bekommt sie die bunte Einschweiß- Tröte natürlich trotzdem. Ein paar Dutzend Rentner wippen mit den Beinen rhythmisch zum Takt des Männerballetts, während ein Vertreter der Freiwilligen Feuerwehr mit Supersoaker 3000 über deren Köpfe spritzt.

Es ist das Highlight der letzten zwei Jahre: Ein kleiner Feldweg wurde extra zum Parkplatz umfunktioniert, Bierzelte aus dem Nachbardorf ausgeliehen und Unisex-TShirts mit Dorfwappen verteilt. Es ist Kinderfest in Röttelmisch – diesem idyllischen Ort in einem der schönsten Ecken des Rheinstädter Grundes. Die Toscana des Saaletals, gleich hinter Gumperda rechts den Feldweg rein, nur wenige Minuten westlich der Porzellanstadt Kahla. Oder einfach gesagt: Ein 140-Einwohner- Kaff irgendwo im Wald unter Jena.
Unser Rundgang beginnt an einem kleinen, gepflegten Denkmal für die röttelmischer Opfer der beiden Weltkriege entlang einer Straße, die ein trist-graues Verkehrsschild kosteneffizient sowohl als „Ortsausgang“ als auch Ortseingang“ ausweist. Sauber aufgestapelte Holzscheite erheben sich links und rechts, während ein Dutzend kleine Hühner unweit des trüben Feuerlöschteiches bewegungslos in der Sonne verharren. Nur ab und zu durchbricht ein glänzender VW Passat den Fehleindruck einer archaisch-bäuerlichen Gesellschaft und zeugt vom Jenaer Gastarbeiter-Schicksal der Röttelmischer.
„Langweilig“ stöhnt genervt ein kurzhaariger Vertreter der Dorfjugend, als ich ihn nach dem wesentlichen
Charakteristikum Röttelmischs befrage, während er seiner strohblonden Freundin heimlich über den Oberschenkel streicht. „Zu Hause rumhängen“ sei das, was man abends hier so macht oder das „Bauer und Kind“-Spiel spielen, aber dafür sei er nun auch zu alt. „Nein“, eine Schule gäbe es hier nicht. Früher gab es noch einen Tante-Emma-Laden in Gumperda, aber nun müsse man immer nach Kahla. Eine Kirche, wenigstens einen Quelle-Laden oder Jugendliche, die sich nach Sonnenuntergang zum gemeinsamen Balz-Besäufnis an der
Bushaltestelle zusammenfinden?
Alles Fehlanzeige. Einige hundert Meter bergauf sorgen eine tief im Gras versunkene Autobatterie und ein dünner Draht dafür, dass ein gutes Dutzend Kühe nicht ihre zugewiesene Weidefläche verlassen. Aber selbst dieser Aufwand scheint übertrieben, da die lethargischen Blicke der Rinder den Elektrodraht jeglicher xistenzberechtigung berauben. „Hey, komm mal mit, ich weiß, wer dir was erzählen kann“, zupft es aufgeregt
an meiner Tasche und ein kleines Mädchen bringt mich zu einer 88-jährigen Frau und damit der ältesten Röttelmischerin. „Ruhig geht es bei uns zu“, viel mehr wüsste sie jetzt gar nicht zu erzählen. „Ach doch damals… Nee, das war doch in Gumperda.“ „Das Hochwasser von 1956 – das könnte den jungen Mann doch interessieren.“
Als der kleine Bach, an dessen Stelle nun der Dorfplatz ist, über die Ufer stieg. „Nein, große Schäden gab es nicht“ und einen Namen habe der Bach auch nicht. Oder damals, als die Franzosen auf dem Hügel standen und sich bei einer Familie des Dorfes zur Kartoffelsuppe einluden. Wie die Köchin Todesängste ausstand, als sie die Kakerlaken in der Suppe schwimmen sah und die Franzosen sie trotzdem ganz köstlich fanden, da die Kakerlaken in der roten Suppe wie kleine Krebse aussahen. Aber das wisse man auch nur noch aus Erzählungen. „Den Dreißigjährigen Krieg kennen Sie doch!?“
Die Uhren würden sich auf jeden Fall langsamer drehen, da sind sich auch die vier anderen Omas und Opas sicher, die sich mittlerweile neugierig um mich versammelt haben. Mit Diskussionen über lokale Rettichbepflanzungen vs. dem slawischen Wort für die berühmte Röttelmischer rote Mulche und damit den Ursprung des Ortsnamens endet vor der finalen Boxveranstaltung der freiwilligen Feuerwehr das Röttelmischer Kinderfest und unser Ortsrundgang. Die Gumperdaer Gäste steigen wieder in ihre glänzenden VWs und auch ich verabschiede mich aus dem Dorf, dessen Natur vielleicht nicht ganz an die Toscana erinnert, sich aber auch nicht hinter der Schönheit von kahlaischer Porzellankunst verstecken braucht. So zieht nach dem ereignisreichsten Nachmittag seit zwei Jahren wieder die geliebte oder verhasste Röttelmischer Ruhe ein. Nur ein kleiner Junge in übergroßem Kapuzenpullover heult, trotz des Angebotes einer eingeschweißten Plastiktröte, einsam vor sich hin.


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