Die Musik umarmt uns: Eine alte Geschichte aus Orhanje

von Zweta

Die Musik umarmt uns, uns umschlingt die schrille, balkantypische Tonart, und wir sind gefesselt: Solche Gefühle bewegen den Zuhörer, wenn er die musikalische Zauberwelt der Kompositionen von Petko Staynov miterlebt. Dabei denkt man an Balkanwälder und eine märchenhafte Welt – wie in Staynovs „Fairy Tale“. Die Musik erinnert an das geheimnisvolle Rauschen der Baumkronen, wenn der Wind durch sie hindurchzischt und verschwindet ins dunkle, dichte Ungewisse.

Wir gehen Jahre zurück in den osmanisch besetzten Teil des bulgarischen Balkangebirges und hören die traurigen Lieder der bulgarischen Frauen, die ihre kleinen Söhne als Janitscharen [Angehörige d. ehem. osmanischen [Kern]truppe des Sultans – Anm. d. Red.] weggeben mussten. Niemand interessierte sich für deren armes Mutterschicksal und ihr noch ärmeres Dasein auf den Dörfern. Die Lieder spiegelten auch diese Tragödie wieder, so wie in den volkstümlichen Tönen der Stajnovschen Musik: Das sind Klänge aus einer anderen, uns heute unbekannten Balkanwelt …
Nach dem Russisch-Türkischen Krieg war das Land durch Verträge geteilt, und manche Familien wanderten aus dem türkisch besetzten Großbulgarien nach Norden, manche bis ins Balkangebirge nach Orhanje. Nicht nur den Bulgaren, auch einigen Osmanen ging es schlecht. Es gab reiche Türken, Paschas oder Haddschis (Hadjija), die schöne Frauen suchten, klauten und heirateten – und sich deswegen allerlei Ärger einhandelten. Aus Angst zogen manche mit ihrem Hab und Gut weiter durchs Land. So ein Pascha mit seinem Gefolge suchte sich manchmal das schönste Haus im bulgarischen Dorf oder in der Stadt aus. Die dort wohnende Familie musste ihn zum Übernachten aufnehmen, sonst hatte sie den Tod zu fürchten. Der Pascha bekam die besten Zimmer und wünschte, bedient zu werden. Nach einiger Zeit zog er weiter, und jeder Mann war froh, wenn seine Frau und Töchter nicht mitgenommen wurden.So passierte es einmal, dass auch im Haus einer bulgarischen Familie aus Orhanje, die einst aus Südbulgarien gekommen war, ein türkischer Pascha übernachtete. Sein Esel war mit Säcken voller Gold- und Silbermünzen beladen. Er logierte nur eine Nacht und fuhr am nächsten Morgen weiter über den Vitinja-Pass von den Nord- zu den Südhängen des Balkan. Dieser Gebirgspass war schwer zu überwinden, eine sehr enge Stelle machte den Leuten immer Angst vor Räubern, Plünderern und Rachsüchtigen.
Vor Letzteren hatte wohl auch besagter Pascha große Angst. Und er hatte die­se Angst nicht umsonst, denn noch am selben Tag trabten nur seine Esel zum Haus der bulgarischen Gastfamilie aus Orhanje zurück, wo sie tags zuvor gefüttert worden waren. Keiner von seinem Gefolge war dabei und auch der Pascha selbst nicht. Sehr wahrscheinlich wurde er entweder gefangen gehalten oder umgebracht. So wussten die armen Leute nicht, was sie mit den vielen Münzen anstellen sollten und vergruben sie aus Angst vor Rache oder Raub irgendwo auf dem Grundstück. Bis heute noch sucht diese Familie aus Orhanje diese Stelle. So wurde keiner mit des Paschas Münzen reich.Heute ist der Balkan genauso märchenhaft wie die alte, märchenhafte Welt im „Fairy Tale“ des Komponisten Petko Staynov – nur bei Weitem nicht so traurig wie in der gefährlichen osmanischen Zeit. Aber wir dürfen weiterhin die schönsten Gesänge der Frauen hören und in der musikalischen Welt Petko Staynovs versinken, um die barbarischen Zeiten nicht zu vergessen …


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