Das Gesetz der Meere

flickr/Debora Sokolov, bearbeitet

Das Gesetz der Meere scheint nur innerhalb europäischer Grenzen zu gelten. Außerhalb gelten die ungeschriebenen Gesetze des Meeres, das mit seiner ganzen, unbändigen Härte das Leben tausender Menschen auf der Flucht unter sich begräbt. Doch EU und Länder unternehmen nichts, sondern outsourcen die moralische Verantwortung.

von Renke

Als Flüchtende während des Zweiten Weltkriegs erlebte die deutsch-jüdische Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt, was es bedeutet, staatenlos zu sein. Ihre eigenen und die Erlebnisse Millionen weiterer Staatenloser zur nationalsozialistischen Zeit, veranlassten Arendt zu der vielzitierten Aussage, dass jeder Mensch das Recht hat, Rechte zu haben. Nirgendwo sonst erhält dieser Satz mehr Bedeutung als an dem Ort der Staatenlosigkeit schlechthin, dem offenen Meer, dort wo sich die Staatenlosen der Welt auf den Weg begeben, um Zugehörigkeit zu erlangen. Zu Staaten einerseits und zu Rechten andererseits. Beides wird ihnen durch Europas Staaten erschwert und verwehrt.

Unter dem Artikel 98, Absatz. 1 des Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen heißt es:

Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, a) jede Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann […].“

Während das um sich greifende Corona-Virus in den letzten Wochen und Monaten das Flüchtlingsdrama rund um das Mittelmeer aus den Schlagzeilen verdrängt hat, hat sich das Leid der Menschen, die nach wie vor tagtäglich versuchen Europa zu erreichen, kaum verringert – dem Flüchtlingskomissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind seit 2014 fast 20.000 Menschen auf dem Weg über das Mittelmeer verschollen oder ertrunken.

Dass diese Tragödie, trotz des oben genannten Paragrafen, bisher kein Ende gefunden hat, liegt an Folgeproblemen, die sich aus der Gesetzeslage ergeben. Während die Verpflichtung zur Rettung von in Seenot befindlichen Personen noch sehr eindeutig formuliert ist, ist es das Anlaufen eines sicheren Hafens sehr viel weniger. Menschen, die auf der Flucht vor Verfolgung das Mittelmeer überqueren, tun dies auf der Suche nach Schutz und Asyl, welches sie sich von dem Gesetz der europäischen Staaten versprechen. Und sobald dieser europäische Staat erreicht ist, gilt das „Non-Refoulement-Prinzip“, welches in der Genfer Flüchtlingskonvention formuliert ist. Dieses Prinzip verbietet den Staaten das Aufenthaltsrecht der flüchtenden Menschen in ihrem Hoheitsgebiet zu beenden, wenn damit eine erneute Verfolgung einhergeht. Aus diesem Grund versuchen Staaten bereits die Einreise in ihre Gebiete zu verhindern und deshalb kommt es immer wieder zu den Vorfällen, wie es sich beispielsweise im Juni 2019 ereignete: Mit ihrem Schiff, der „Sea-Watch 3“, rettete die Kapitänin Carola Rackete 53 Menschen vor dem Ertrinken auf dem Mittelmeer. Ihr Vorhaben, die Schiffbrüchigen an den sicheren Hafen der Insel Lampedusa zu bringen, wurde von den italienischen Behörden verhindert und das Anlaufen des Hafens verboten.

Eigentlich gewährt das Seerechtsübereinkommen jedem Schiff die friedliche Durchfahrt durch das Küstengewässer, welches die Einfahrt in einen Hafen einschließt. Unfriedlich wird sie erst dann, wenn der Frieden des Küstenstaates gefährdet wird, wie zum Beispiel durch das Entladen von Personen, die gegen die Einreisebestimmungen des betreffenden Landes verstoßen. Genau darauf berief sich Italien bei dem Verbot. Allerdings bleibt eine Durchfahrt friedlich, wenn der Hafen des Küstenstaates auf direktem Wege angepeilt wird, mit der Absicht, die Passagiere den Asylbehörden zu übergeben.

Als die Situation an Bord der Sea-Watch 3 schlimmer wurde, widersetzte sich Rackete dem Verbot Italiens und steuerte den Hafen mit den noch 40 verbliebenen Flüchtlingen an (13 wurden bereits aus medizinischen Gründen von Italien aufgenommen). Rackete wurde daraufhin zunächst verhaftet, später allerdings von der italienischen Richterin freigesprochen, weil sie „in Erfüllung einer Pflicht“ handelte. Aus dem „Migrant Smuggling Protocol“ der Vertragsstaaten geht hervor, dass humanitär motivierte Handlungen erst strafrechtlich verfolgt werden sollen, wenn damit ein finanzielles Interesse verbunden ist, wie es eben bei Schmugglern der Fall gewesen wäre.

Von deutscher Seite war vor allem Zustimmung für die Aktion Racketes zu vernehmen, während das Handeln der deutschen Kapitänin bei der italienischen Politik auf Unverständnis stoß. Dieser Sachverhalt zeigt das ganze Dilemma der europäischen Flüchtlingspolitik. Auf der einen Seite die humanitären und rechtlichen Verpflichtungen, die allen voran Deutschland verkörpert. Auf der anderen Seite die überforderten Staaten, wie Italien oder Griechenland, die sich mit dem „Flüchtlingsproblem“ allein gelassen fühlen und dieses am liebsten zurück nach Afrika schieben würden. Dass das wortwörtlich auch so vollzogen wird, zeigen die sogenannten „Pushbacks“ und die kürzlich veröffentlichten „Frontex-Files“, in denen Lobbytreffen mit der Rüstungsindustrie dokumentiert werden, welche in der Agentur einen wachsenden Absatzmarkt erkennen und die Flüchtlinge als eine Bedrohung verklären.

Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, ist ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen Europas um den Schutz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ So bezeichnet sich die Agentur auf ihrer Internetseite selbst. Dass die Rückführungsaktionen, die unter anderem Aufgabe von Frontex sind, häufig auch mit illegalen Pushbacks einhergehen, bleibt unerwähnt, obwohl dutzende Medienberichte ihre Beteiligung an den Pushbacks der griechischen Küstenwache belegen. Die Menschen werden zurück in die Boote gesetzt und von der Küstenwache auf das Meer hinausgezogen. Diese fahren dann so nah an den Booten vorbei, dass ein Wellengang erzeugt wird, der sie in die Länder zurückdrängen soll, aus denen sie gerade erst unter großen Torturen geflohen sind. Dass durch den hohen Wellengang Lebensgefahr für die flüchtenden Menschen entsteht, wird billigend in Kauf genommen. Fast immer ist Frontex bei diesen Aktionen dabei. Sie bemüht sich um alles andere als „um den Schutz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ Die Lobbytreffen verstärken vielmehr den Eindruck, dass die illegalen Pushbacks ausgeweitet werden sollen. Da lediglich Kapitän*innen zur Rettung Schiffbrüchiger verpflichtet werden können sollen in Zukunft vermehrt unbemannte Drohnen und Flugzeuge eingesetzt werden, u.a. um sich dieser Pflicht zu entziehen.

Die illegalen Pushbacks machen deutlich, für wen das Gesetz der Meere gilt, für wen nicht und wie systematisch gegen die „Bedrohung der Flüchtlinge“ vorgegangen wird. Für die EU und ihre Bürger wird der Schutz gewährleistet, aber an ihren Außengrenzen scheint das Gesetz kaum noch zu existieren. Die vor Folter und Verfolgung flüchtenden Menschen müssen so nicht nur mit den rauen und harten Bedingungen des Meeres kämpfen, sondern sind auch noch einer Exekutive unterlegen, welche das eigentlich für sie sprechende Gesetz mit Füßen tritt.
Anstatt das Problem an der Wurzel zu packen, bekämpft die EU es nur symptomatisch und schottet sich ab. Mit Frontex hat die EU eine Agentur geschaffen, mit der sich das Problem des Zustroms von Menschen und die moralische Verantwortung „outsourcen“ lässt. Und dieses „Outsourcing“ schafft den Nährboden für das, was Hannah Arendt einmal die „Banalität des Bösen“ bezeichnet hat. Das „Böse“, in diesem Fall die illegalen Pushbacks, wird eingebettet in ein institutionelles Handeln und das macht es so banal, weil das Ausführen selbst vom Ausführenden nicht mehr moralisch reflektiert wird, sondern die Verantwortung dafür an bürokratische Strukturen abgegeben wird. Frontex agiert als Rädchen im Räderwerk der europäischen Union, welches die Flüchtlinge als problematisch deklariert und somit ihr Leben abwertet. Verantwortlichkeiten werden abgeschoben an eine Behörde, die mit ihren zunehmenden Kompetenzen das macht, was sie machen soll, nämlich die Grenzen Europas gegen die „Bedrohung der Flüchtlinge“ schützen.


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