Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

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In Warum es normal ist, dass die Welt untergeht beschreibt Archäologe und Anthropologe Robert L. Kelly die vier alles verändernden Umbrüche in der Menschheitsgeschichte und seine Zukunftsvision für unseren Planeten.

von Mici

Ob 500 n.Chr., zur letzten Jahrtausendwende oder „kürzlich“ zum 21. Dezember 2012: Prophezeiungen über die Apokalypse hat es im Laufe der Menschheitsgeschichte viele gegeben. Doch wir alle sind der lebende Beweis dafür, dass die Welt bisher nicht untergangen ist – auch wenn es innerhalb der letzten sechs Millionen Jahre genügend Gründe dafür gegeben hätte. Besonders heute sieht unsere Zukunft angesichts von Wirtschaftskrisen, Pandemien, Terrorismus, Kriegen und Klimawandel mehr als düster aus. Doch Robert Kelly beschreibt in seinem Buch, wieso wir dennoch nicht auf das Ende der Welt zusteuern, sondern uns vielmehr nur mit dem Ende der Welt, wie wir sie kennen, abfinden sollten. Der Titel des Sachbuchs ist dabei allerdings etwas irreführend, besonders im Vergleich zu seinem englischen Original. Warum es normal ist, dass die Welt untergeht lässt zunächst eine eher pessimistische Sichtweise auf die Thematik vermuten, wohingegen The Fifth Beginning. What Six Million Years of Human History Can Tell Us About Our Future den Nagel auf den Kopf trifft.

Denn Kelly beschreibt in seinem Buch ein Phänomen, das schon als Inschrift das Grab Tutanchamuns zierte: „Ich habe das Gestern gesehen. Ich kenne das Morgen“. Dabei bezieht sich der Anthropologe und Archäologe auf das Gestern der letzten sechs Millionen Jahre und geht in diesem Zusammenhang auf vier, von ihm identifizierte, Umbrüche in der Geschichte der Menschheit ein: das Aufkommen der Technologie, der Kultur, der Landwirtschaft und staatlicher Organisationen. In jeweils einem Kapitel widmet er sich diesen vier Wendepunkten, die alle eins gemeinsam haben: Sie begründen sich darin, dass die Menschen versuchen, in dem was sie tun, die besten zu sein und dabei zu etwas völlig anderem werden. Die Evolution beispielsweise verwandelte die auf Bäumen lebenden Primaten, beim Versuch sie zu Spitzenleistungen zu führen, in etwas komplett Neuartiges: den Menschen (bzw. einen Vorläufer des heutigen Homo sapiens). Diesem Prinzip folgend geht Kelly davon aus, dass wir uns auch bei unserem momentanen Versuch, die besten kapitalistischen und wettbewerbsorientierten Industrienationen aller Zeiten zu sein, auf ganzer Linie verändern werden. In der Zukunft sieht er für die Menschen eine Gemeinschaft von Weltbürgern voraus – für manche eine Utopie, für ihn ein absolut realistisches Zukunftsszenario. Wie und weshalb es dazu kommen wird, versucht er anhand der Vergangenheit zu erklären. Denn um etwas über die Zukunft zu erfahren und sie vielleicht sogar beeinflussen zu können, muss man sich mit der Vergangenheit beschäftigen und sie verstehen lernen. Und das ist die Aufgabe eines Archäologen.

Genau diese Wissenschaft ist es, die es mit ihren Methoden als Einzige vermag, uns die großen, alles verändernden Umwälzungen der Menschheitsgeschichte aufzuzeigen. Deshalb widmet Kelly ein komplettes Kapitel seines Sachbuches sich und seinen Kollegen, sowie ihren Denk- und Arbeitsweisen. Wer vorher noch dachte, dass Archäologie staubtrocken und langweilig, keine richtige Wissenschaft oder ihre Erkenntnisse nicht weiter nennenswert seien, wird hier eines Besseren belehrt. Spätestens in den folgenden Kapiteln kann man gar nicht mehr anders, als Seite für Seite die von Kelly erzählte Geschichte, die einem mehr wie ein spannender Krimi, als wie eine reale Erzählung unserer Vergangenheit, vorkommt, zu verschlingen. Besonders beeindruckt Kelly mit seinem umfangreichen Wissen, das zunächst aus vielen verschiedenen Wissenschaften, wie der Biologie, Medizin, Psychologie und Geografie entnommen zu sein scheint, sich mit der Zeit aber rein als archäologisches Fachwissen herauskristallisiert. Eine Wissenschaft, die viele andere unter einem Dach vereint. Dennoch muss Kelly ein frustrierendes Geständnis über sich und seine Kollegen machen: „Ohne Zeitmaschine können wir Archäologen niemals sicher sein, dass wir aus unseren Funden die richtigen Schlüsse ziehen“. Diese Erkenntnis verleiht dem Buch einen leicht bitteren Beigeschmack.

Im Laufe des Buches geht der Autor immer wieder auf eine ganz besondere Lebensform ein, die sich über die Jahrtausende zwar stetig – bis zum heutigen Homo sapiens – entwickelt hat, aber dennoch bis heute in manchen Teilen der Welt existiert: Die Jäger und Sammler. Tatsächlich bestehen diese Gemeinschaften schon so lange, dass die Menschheit 99% ihrer Zeit auf Erden als Jäger und Sammler zugebracht hat. Das erklärt auch, warum sie für Kelly eine so große Bedeutung haben und wieso Ausdrücke wie „der beste Fußballer aller Zeiten“ jeden Archäologen zum Schmunzeln bringen. Im Vergleich zu den wirklich wesentlichen Stationen in der Geschichte, sind die Erfindungen der letzten zwei Jahrhunderte, wie beispielsweise Fußball, für Archäologen nicht mehr als ein sprichwörtlicher Wimpernschlag.

Durch anschauliche Vergleiche wie diesen feinsinnigen Humor – der paradoxerweise, allerdings  wie von Kelly erhofft, dazu beiträgt, sein Werk umso ernster zu nehmen – und Kellys Analogie von seinen Lesern als Kinobesucher im Film über die Menschheitsgeschichte, schafft es Warum es normal ist, dass die Welt untergeht seine Leser zu fesseln und gänzlich vergessen zu lassen, dass es sich hierbei eigentlich um ein Sachbuch handelt.
Wenn auch an der ein oder anderen Stelle eine weitere Abbildung zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge wünschenswert gewesen wäre, sind die wenigen, die dennoch einen Platz in Kellys Werk ergattern konnten dafür umso lehrreicher. Der von Paläoanthropologen konstruierte Stammbaum demonstriert beispielsweise, dass neu entdeckte Gattungen wie der Homo rudolfensis oder Homo heidelbergensis meist nach dem Archäologen von dem sie, oder dem Ort an dem sie entdeckt wurden, benannt werden. Auch räumt der Autor im Laufe seines Werkes mit einigen Mythen auf, wie beispielsweise damit, dass die Maya gar nicht wirklich glaubten, dass die Welt am 21. Dezember 2012 untergehe oder dass die Neandertaler nicht gebückt gehende, verlauste, grunzende Idioten waren. Beim Lesen bekommt man immer wieder das Gefühl, als wäre man in all den beschrieben Situationen dabei und Teil aller vier Wendepunkte gewesen, was laut Kelly selbst dazu beiträgt, die Informationen interessanter und für uns leichter nachzuvollziehen macht: „Kaum jemand liest Artikel in soziologischen Fachzeitschriften mit Statistiken über Untreue in der Ehe, doch die diesbezüglichen Fehltritte von Prominenten schaffen es immer wieder auf die Titelseiten der Regenbogenpresse“. Nicht nur diese zugleich treffenden, wie auch humorvollen Äußerungen, sondern auch seine durch Klammern gekennzeichneten gedanklichen Einschübe verleihen dem Buch einen gewissen Charme und dem Autoren einen sehr menschlichen und sympathischen Charakter, der durch Kellys dezente Meinungsäußerungen unter anderem gegen Rassismus, Sexismus und Donald Trump noch verstärkt wird. Fast hat man am Ende des Buches das Gefühl, mit einem guten Freund gesprochen zu haben. Vor allem wird man während der Lektüre von dem Drang übermannt, die Welt zu bereisen und die vielen Orte zu entdecken und Menschen kennenzulernen, die der Archäologe in seinen Geschichten beschrieben hat.

Getreu dem englischen Originaltitel The Fifth Beginning. What Six Million Years of Human History Can Tell Us About Our Future endet das Buch mit einer Erkenntnis, die uns die archäologische Perspektive gebracht hat: Nichts ist für die Ewigkeit. Auch nicht die Probleme der Menschheit wie Armut, Rassismus oder der Klimawandel. Im Gegenteil, uns steht ein fünfter Wendepunkt, ein Umbruch unmittelbar bevor. An diesem werden wir uns mit drei zentralen Faktoren auseinandersetzen müssen, die drei zentrale Fragen aufwerfen: „Was wird aus dem Kapitalismus, wenn es auf der Welt keine billigen Arbeitskräfte mehr gibt?“, „Was wird den Krieg als Problemlöser ersetzen?“ und „Wie können wir die Völker der Welt in wirtschaftlicher, legislativer und struktureller Hinsicht integrieren, ohne sie zu zwingen, ihre Kultur zu verändern?“. Für Kelly gibt es nur eine Antwort auf alle drei Fragen und diese hängt unweigerlich mit einem entscheidenden Unterschied zusammen, den dieser fünfte Meilenstein der Menschheitsgeschichte mit sich bringt: Dieses erste Mal wissen wir, dass er passiert und „können, sollen, ja müssen selbst entscheiden, wie die Entwicklung unserer Spezies weitergeht.“

Verständlich, aber dennoch lehrreich, spannend, aber dennoch humorvoll verpackt Kelly 6 Millionen Jahre Menschheitsgeschichte auf 200 Seiten. Und wer wissen will, wieso Feuer dazu beigetragen hat, dass sich unser Gehirn entwickelt, welches Gericht Ötzis letzte Mahlzeit war und was es mit der Potlatsche der Kwakwaka’wakw auf sich hat, ist mit diesem Buch bestens beraten.

Robert L. Kelly:
Warum es normal ist, dass die Welt untergeht – Eine kurze Geschichte von gestern und morgen.
wbg Theiss 2020
224 Seiten
22,00€

 


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