Der Mann, der niemals lachte

Vor 50 Jahren starb Buster Keaton. Er avancierte neben Charlie Chaplin zum größten Stummfilmkomiker Hollywoods, dann folgte der jähe Abstieg seiner Karriere.

von Richard Siedhoff

Die zwei Kameramänner fangen an zu kurbeln. Einige Mitarbeiter des Filmteams schauen gebannt hin, andere halten sich die Augen zu, als die Seile gekappt werden, die die zwei Tonnen schwere, zweistöckige Hausfassade eben noch festhielten. Nun kippt sie nach vorn, direkt auf den Hauptdarsteller und Regisseur Buster Keaton. Im Giebel der fallenden Hausfassade ist ein Fenster, das Keaton beim Fall jeweils fünf Zentimeter links, rechts, über den Kopf hinweg und hinter den Fersen Spielraum lässt. Flugzeugpropeller simulieren während des Stunts den Sturm im Hintergrund. Ein ungünstiger Windwechsel könnte Keatons sicheren Tod bedeuten. Bevor die Szene gedreht wurde, hatte Produzent Joseph M. Schenck seinem Star Keaton mitgeteilt, dass er die Buster Keaton Productions aus finanziellen Gründen auflösen und das dazugehörige Studio schließen müsse. Keaton stand vor dem künstlerischen Aus und ließ die Hauswand kippen. „Mein Regisseur, Chuck Reisner, blieb im Zelt und las Science and Health. Es war das erste Mal, dass ich einen Kameramann in die andere Richtung schauen sah.“ Die Szene, die man nicht hätte wiederholen können, glückt. In Steamboat Bill Jr. (1928) ist sie, kaum fünf Sekunden lang, nur einer von vielen Bausteinen in einer Fülle grotesker und surrealer Gags in einer fatalistischen, aber höchst realistischen Szenerie: ein Orkan fegt im Finale des im Milieu Mark Twain’scher Geschichten angesiedelten Films ganze Häuser weg und gibt Keaton Gelegenheit für geniale Momente voller schwarzem Humor.
Keaton war Buster, der Mann, der niemals lachte; der Komiker, der die tollkühnsten Stunts selbst machte. Er war der Clown, der nicht wie einer aussah, der Schauspieler, der den Sprung zum Tonfilm nicht schaffte und der Star, der zum Alkoholiker wurde. Nachdem er Mitte der 1930er Jahre zu einem zweitrangigen Darsteller abgestiegen war, wurde er in den 1940er Jahren zum ungenannten Gagschreiber für andere Komiker. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Großteil von Keatons Stummfilmen aus den 1920er Jahren vergessen und teils gar aus Desinteresse an alten Filmen vernichtet, verrottet oder verschollen. Schließlich taucht er wieder auf, als gealterter Komiker, den man im Amerika der 1950er Jahre aus dem Fernsehen kannte – aus Werbespots, einer eigenen Comedy-Show und zahlreichen Gastauftritten.

Chaplins größter Konkurrent
20 Jahre zuvor hatte er Regie mit ganzen Armeen, Zügen, Ozeandampfern, Windmaschinen, Kuhherden und Gerölllawinen geführt, selbst die Hauptrollen gespielt, Nebendarsteller gedoubelt, bahnbrechende Kameratricks erfunden und seine Filme selbst geschnitten. Dabei sah er sich weder als Intellektueller, noch als Künstler. Er wollte sein Publikum nur zum Lachen bringen. So erschuf der Mann, der als Chaplins größter Konkurrent gesehen wird, in den späten 1910er sowie 1920er Jahren über 30 Filme, die zum Kreativsten und Eigenwilligsten gehören, was der Stummfilm zu bieten hat.
Keaton war ein Kind der Bühne, geboren 1895 im gleichen Jahr wie das Kino, jedoch in der Welt des Vaudevilles, des amerikanischen Varietés. Hier lernt er richtig zu stürzen, dabei keinen Schmerz zu zeigen und sich das Lachen zu verkneifen. 1917 kommt er zum Film: Er wird Co-Darsteller und Co-Regisseur für Roscoe „Fatty“ Arbuckles Kurzfilme. Hier entwickelt sich seine Leinwand-Figur (die in den ersten Filmen auch herzhaft lachen konnte): flacher Porkpie-Hut und immer eine stoisch ernste Miene. 1920 übernimmt er Chaplins altes Studio. Sein erster eigener Film, The High Sign (1920), ist voller grotesker Einfälle und die finale Verfolgungsjagd – durch allerlei Geheimtüren in vier Zimmern auf zwei Etagen – zeigt uns Keaton als raffinierten Querschnitt in einer Totalen. Eine kühne wie wirkungsvolle technische Spielerei. Doch er sucht und findet eine überzeugendere Idee: One Week (1920) wird die Comedy-Sensation des Jahres 1920 und ist eine der am sorgfältigsten konstruierten Komödien überhaupt. Hier greift zum ersten Mal seine Technik, Gags nicht nur als Ausschmückung einer Geschichte, sondern als Aufhänger und Antreiber der Handlung zu nutzen. Später wird Keaton ganze abendfüllende Filme nach diesem Prinzip konstruieren. In One Week baut ein frisch verheiratetes Paar ein Fertighaus, das anschließend nach und nach ruiniert wird. Ein Nebenbuhler des Bräutigams hat die Nummern der Bauteile vertauscht – und so wird das Gebäude zu einer architektonischen Parodie auf die verzerrten Perspektiven des deutschen Stummfilmexpressionismus. Jeden Wochentag bricht eine größere Katastrophe über das Paar herein, gipfelnd in einem Sturm, der das Haus zum Riesenkarussell mutieren lässt. Für diesen Film ließ Keaton gar drei Häuser errichten, die er entsprechend der Szenen bewegen und umbauen konnte. Alles war echt, purer Realismus. Wenn Keaton nicht zum Film gekommen wäre, wäre er Ingenieur geworden, soll er später gesagt haben. Am letzten Tag muss das Haus gar mit dem Auto auf ein anderes Grundstück geschleppt werden – auf dem Weg wird es von einem Zug durchbohrt und in einen Bretterhaufen verwandelt. Das Paar stellt ungerührt das Schild „For sale“ daneben und Buster legt noch die Bauanleitung dazu. Ein „Unhappy End“ voller schwarzem Humor.

Geplatzter Traum vom Eigenheim: Szene aus "One Week" (1920)

Gleichermaßen Realist wie Illusionist
Keatons 19 Kurzfilme bilden einen eigenen Kosmos, in dem Keaton mit der Realität, der Moderne und dem Irrealen abrechnet. Sein schwarzer Humor überschreitet dabei oft die Grenze zum Fatalismus. So wird er als Unschuldiger in Cops (1922) durch eine Verkettung von Umständen am Ende von Hunderten wütender Polizisten gejagt: Von seiner Angebeteten zurückgewiesen, stürzt er sich, des Lebens überdrüssig, in die Arme seiner zornigen Verfolger. „The End“ prangt schließlich auf einem Grabstein, geschmückt von Keatons charakteristischem Porkpie-Hut.
Keaton ist gleichermaßen Realist wie Illusionist. Filmtricks nutzt er, damit man sie wahrnimmt. Und sie sind so perfekt, dass man sie nur wahrnimmt, weil das Gezeigte unmöglich ist. In dem Kurzfilm The Playhouse (1921) mimt er alle Rollen: In Doppelbelichtungen spielt er sechs Instrumente, dirigiert, sitzt als Dame, Knabe, alter Herr oder Gent im Publikum, tanzt im Duett auf der Bühne – bis zu neun Busters sind gleichzeitig im Bild! Sein Kameramann hielt es für unmöglich, also tüftelte Keaton die Tricks selbst aus.
Ein Feuerwerk an Film- und Bühnentricks bildet auch sein dritter Spielfilm: In Sherlock Jr. (1924) – einer frühen Selbstreflektion des noch jungen Mediums Kino – träumt sich Buster als Filmvorführer und gescheiterter Detektiv in einen Leinwand-Krimi, in dem Unmögliches möglich und Fiktion zur Realität wird. Buster springt in die Leinwand und wird zunächst Opfer des Filmschnittes: Während sich das Setting ändert, bleibt er an derselben Position, fällt von einer Bank, stürzt auf eine befahrene Straße, findet sich zwischen Löwen wieder, wird fast von einem Zug überfahren, landet im Schnee oder am Meer.

Filmen (beinahe) bis zum Tod
Mit dem Spielfilm Our Hospitality (1923) liefert Keaton ein lyrisches Portrait des Amerikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Buster zwischen den Fronten einer Blutfehde. Zunächst rettet ein Ehrenkodex der feindlichen Familie, nämlich als Gast im Haus unantastbar zu sein, ihm das Leben, um dann doch an den Rand diverser Abgründe und Klippen gejagt zu werden. Beim Dreh der Schlüssel-Szene reißt ein Seil, das Keaton sichern sollte und er treibt in einem wilden Fluss davon. Er hatte seine Kameramänner immer angewiesen, weiterzudrehen, egal, was auch passiere – und Keaton wäre fast ertrunken. Die Szene ist noch heute im Film, doch am Stocken der Kamerabewegung spürt man den Schreck des Kameramanns.
Die großen Publikumserfolge wie The Navigator (1924), Seven Chances (1925) oder Go West (1925) ermöglichten Keaton, sein ambitioniertestes und heute am meisten geschätztes Werk anzugehen: The General (1926) besticht noch heute durch eine ausgefeilte Dramaturgie, die sich im Kinosaal in einem 80-minütiges Crescendo an Lachstürmen niederschlägt. Keaton erzählt die wahre Geschichte eines Lokführers, der während des Amerikanischen Bürgerkriegs seiner gestohlenen Lokomotive nachjagt, dabei seine entführte Geliebte rettet und nebenbei die Schlacht am Rock River gewinnt. Am Bemerkenswertesten sind die verblüffend flüssigen Kamerafahrten während der Zugverfolgungsjagden, die fast die Hälfte des Films ausmachen. Die Parallelfahrten wurden von einem zweiten Zug aus gedreht – oder gar einem Auto, für das Keaton selbst ein wackelfreies Stoßdämpfersystem entwickelte. Die Komplexität der Fahrt-Szenen wird deutlich, wenn man beim Schnitt in andere Perspektiven weder Gleis noch Straße neben der eigentlichen Zugstrecke sieht. Keaton zeigt sich dabei als Meister der filmischen Konstruktion von Raum und Zeit, Ursache und Wirkung.
Keatons Produzent Joseph Schenck wurde 1926 Präsident der Filmgesellschaft United Artists, die unter anderem Filme von D. W. Griffith, Douglas Fairbanks, Mary Pickford und Charlie Chaplin verlieh. Keatons Filme wurden nun ebenfalls über United Artists vertrieben – jetzt galt er nur noch als Star zweiten Ranges, und sobald seine Filme keine vollen Säle garantierten, wurden sie vom Spielplan genommen, da die hohen Verleihgebühren von United Artists den Kinos kaum Gewinne ließen. So konnte The General seine hohen Produktionskosten nicht ansatzweise einspielen.

Meister der filmischen Konstruktion von Raum und Zeit: Szene aus "The General" (1926)

MGM-Fließbandproduktion
Die nachfolgenden Filme College (1927) und Steamboat Bill Jr. (1928) brachten noch weniger Gewinn. Diese finanzielle Misere führte zum Verkauf von Keatons Produktionsgesellschaft an MGM. Seine dort gedrehten Filme waren seine finanziell erfolgreichsten, künstlerisch begann jedoch der Abstieg: In der Fließbandproduktion von MGM büßte Keaton seine künstlerische Unabhängigkeit ein und geriet ins Räderwerk der Film-Industrie. Sein erster MGM-Film, The Cameraman (1928), ist gleichzeitig der letzte, bei dem Keaton sich noch künstlerisch durchsetzen konnte. Der Film trägt das letzte mal Keatons Handschrift und wurde einer seiner größten Erfolge. Die folgenden Tonfilme waren zwar kommerziell sehr erfolgreich, aber Keaton hatte kaum mehr künstlerischen Einfluss auf die Produktionen. Dies sowie die Scheidung von seiner Ehefrau Natalie Talmadge trieben Keaton zum Alkohol.
Lange Zeit nach seinem darauf folgenden tiefen Fall in den 1930er Jahren wurde Keaton rehabilitiert. In Folge von James Agees 1949 erschienen Artikel über die Kunst der stummen Film-Clowns im Life Magazine erfuhr besonders Keaton späte Anerkennung. 1959 erhielt er den Ehren-Oscar und 1962 beginnt die große Wiederentdeckung mit einer Wiederaufführung von The General in München und einer Retrospektive auf den Filmfestspielen in Venedig 1963. Filmverleiher und -sammler wie Raymond Rohauer bemühen sich seit den 1950er Jahren, weltweit Kopien von Keatons Filmen aufzutreiben und machen sie wieder verfügbar. Heute sind fast alle Filme wieder in ihrer Originalfassung zu bewundern.
Und heute, vielleicht mehr als in den 1920er Jahren, offenbaren sich Keatons Qualitäten als Filmkünstler: in seinem surrealistischen Humor, in seiner präzisen Inszenierung von Raum und Geschwindigkeitsrausch, in seiner Fähigkeit, in wenigen Bildern so vieles auszudrücken. Keaton war der Mann, der auf der Leinwand nichts zu lachen hatte – aber Leib und Leben für das Kino riskierte um seinem Publikum das Lachen zu lehren.

Richard Siedhoff (28), gebürtiger Weimarer, ist freiberuflich als Stummfilmpianist, Theatermusiker und Komponist tätig. Er arbeitete als Cutter in Leipzig und studierte anschließend Musikwissenschaft, Kulturmanagement und Filmwissenschaft an der HfM Franz Liszt Weimar und der FSU Jena.

E-Mail: info[at]richard-siedhoff.de

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