Und dann kam Don Quixote

Ein Porträt, das vermutlich Cervantes zeigt – es existiert allerdings kein Porträtbild, dessen Authentizität gesichert ist.

Am 23. April 1616 starb der spanische Nationaldichter Miguel de Cervantes Saavedra. Cervantes gilt bis heute als einer der größten Autoren der Weltliteratur und Begründer des modernen Romans, bekannt vor allem als Verfasser des Don Quixote. Eine Würdigung zum 400. Todestag.

von Martin

Was für ein Leben! Zu Lebzeiten war Cervantes ein glückloser Kleinadeliger, kriegsversehrter Zeitsoldat und relativ erfolgreicher Autor kleiner Novellen, der jedoch nach seinem Tod zum spanischen Nationaldichter wurde. Wie gelang es diesem Autor einen zentralen Platz unter den wichtigsten Autoren der Weltliteratur zu erlangen – gleich neben Dante, Shakespeare und Goethe. Hierauf gibt es nur eine Antwort: El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (deutsch: „Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von La Mancha“), das Werk von Cervantes. Dieses Buch begründet nicht nur Cervantes Ruhm als Schriftsteller, es gilt auch als eine der größten Geschichten überhaupt, mit dessen Erscheinen 1605 er den modernen Roman begründete.
Um dieses Werk, das gemeinhin als bitterböse Rittersatire bekannt wurde, in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Bedeutsamkeit erkennen zu können, lohnt sich nun doch, einen Blick auf das so verworrene wie glücklose Leben des Cervantes zu werfen. Geboren wurde er vermutlich am 29. September 1547 als Kind einer verarmten Adelsfamilie. Nach einem Studium in Madrid beginnt für den jungen Cervantes ab 1569 ein im Wortsinne abenteuerliches Leben: Zunächst gerät er als Kammerdiener nach Rom, tritt jedoch noch im gleichen Jahr in eine in Neapel stationierte Einheit der spanischen Marine ein. Dieser Weg galt damals als letzte Chance für all jene, die es nicht in Wissenschaft oder Kirchendienst zu Ansehen bringen konnten; als letzte Chance – auch für Cervantes. Der tapfere Soldat erhält 1571 die Gelegenheit, an der Seeschlacht von Leptano teilzunehmen. Diese Schlacht galt aus spanischer Perspektive als glorreichstes Ereignis aller Zeiten, wurde doch die Invasion des Osmanischen Reiches ein weiteres Mal abgewendet. Der spätere Autor verlor hier seine linke Hand, wurde jedoch mit einem für ihn überaus wichtigen Empfehlungsschreiben ausgezeichnet.
Die Zukunft schien also gesichert, doch es sollte nun eine jener Lebenswendung folgen, die für sein Leben so prägend waren: Als Cervantes im Jahre 1575 Italien verlassen will, gerät er in Gefangenschaft islamischer Kosaren, die sich mit brutaler Freibeuterei im Mittelmeer verdingten. Cervantes wird zum Sklaven, doch ihm bleibt auf fast wundersame Weise die grausame Behandlung seiner Leidensgenossen erspart. Die Piraten verlangen ein enormes Lösegeld, das seine verarmte Familie nur unter großen Anstrengungen aufbringen kann. Nach fünf hoffnungslosen Jahren in algerischer Gefangenschaft gelingt es endlich, Cervantes freizukaufen. Unter abenteuerlichen Umständen kommt er wieder nach Spanien.
Doch auch hier will kein besseres Leben beginnen. Sein Ruhm als Kriegsheld ist längst verblasst, gibt es doch in diesen Jahren viel zu viele spanische Kriegshelden. Lediglich sein Schuldenberg wächst weiter. Cervantes gehörte nun zur Klasse der Hidalgos: privilegierte, aber verarmte Kleinadelige, denen ohne ihre kriegerische Funktion nur ihre nutzlose Vormachtstellung blieb. Bekanntester Vertreter dieser – für das Spanien des ausgehenden 16. Jahrhunderts so typischen Klasse – ist, man ahnt es: Don Quixote. Der arbeitslose Cervantes beginnt nun, seine bitteren Erfahrungen literarisch festzuhalten und wird ab 1585 als Requisitionskommissar zum Eintreiben von Steuern bestellt. Doch auch diese Stellung hält neues Unheil bereit: Wegen angeblicher Veruntreuung von Steuergeld wirft man ihn 1597 ins Gefängnis. Der Autor, der seinen Lebenswandel bisher nur in kleinen Erzählungen, Novellen, Gedichten und Theaterstücken verarbeitet, beginnt nun mit seinem bekanntesten Werk: dem ersten Band des Don Quixote. Dieses Buch erscheint 1605 und wird zu seinem größten literarischen Erfolg. Dadurch veranlasst erscheinen im Jahre 1613 nun Cervantes gesammelten Novellen unter dem Titel Novelas ejemplares de honesto ísimo entretenimiento (zu Deutsch: „Die Beispielhaften Novellen allerehrwürdigster Unterhaltung“). Doch die Vollendung seines Hauptwerkes erfolgt erst kurz vor seinem Tod mit der Veröffentlichung des zweiten Bandes des Don Quixote 1615, auch dies ein großer Erfolg. Cervantes stirbt ein knappes Jahr später in Madrid. Sowohl die „Beispielhaften Novellen“, wie die beiden Bände des Don Quixote gehören seitdem zum festen Inventar der Weltliteratur und erhoben den Autor zum spanischen Nationaldichter.

 

Eine Satire wird zum Mythos
Zum 400. Todestag des Dichters kommt man daher nicht umhinn sein großes Werk Don Quixote zu würdigen. Doch was macht Don Quixote so besonders, so zeitlos, tiefgründig und unterhaltsam? Zunächst erlangte das Buch vor allem als Rittersatire – der im damaligen Spanien omnipräsenten Rittergeschichten um Amandis von Gallien – große Beliebtheit. Daher ist auch die grobe Rahmenhandlung schnell zusammengefasst: Ein mittelloser Hidalgo verliert nach obsessiver Lektüre sämtlicher Ritterromane den Verstand und zieht als „irrender Ritter“ gemeinsam mit seinem naiven Stallmeister Sancho Pansa durch das Flachland der Mancha, um Abenteuer zu suchen, Riesen zu bekämpfen und bedrängte Jungfrauen ruhmreich zu erretten. Cervantes schreibt:

„Als er nun mit seinem Verstande zum Beschluß gekommen, verfiel er auf den seltsamsten Gedanken, den jemals ein Tor auf der Welt ergriffen hat, denn es schien ihm nützlich und nötig, sowohl zur Vermehrung seiner Ehre als zum Besten seiner Republik ein irrender Ritter zu werden und mit Rüstung und Pferd durch die ganze Welt zu ziehen, um Abenteuer aufzusuchen und alles das auszuüben, was er von den irrenden Rittern gelesen hatte, alles Unrecht aufzuheben und sich Arbeiten und Gefahren zu unterziehen, die ihn im Überstehen mit ewigen Ruhm und Namen schmücken würden.“

Der vernünftige Beobachter erkennt natürlich schnell, dass der Held ein alter Mann, seine Rüstung morsch und sein Pferd Rosinante ein klapperiger Gaul ist. Auch sein Stallmeister ist eher ein so dicklicher wie gutgläubiger Bauer, der seinem Herr auf einem Esel wohl ans Ende der Welt folgen würde – hatte Don Quixote ihn doch eine Statthalterschaft auf einer Insel versprochen. Fortan durchreiten die beiden tapferen Helden die Mancha, immer auf der Suche nach Abenteuern und rumreichen Kämpfen. Freilich bedrängen die beiden dabei eher ahnungslose Passanten oder kämpfen mit ihren Einbildungen, wobei sie vor allem, wenn auch im Namen der guten Sache, eine Menge Prügel beziehen. Doch die beiden irrenden Ritter sind in ihrem Glauben unerschütterlich, lassen sich weder durch ihre harte Konfrontation mit der Realität, noch durch die diversen Versuche, ihren Wahn zu kurieren, in ihrem Vorhaben beirren. Die berühmte Episode mit dem Kampf gegen die Windmühlen ist dabei nur eine von vielen weiteren sprichwörtlichen „Donquixoterien“.
Natürlich ist das närrische Verhalten des „Ritters von der traurigen Gestalt“ und seines wackeren Stallmeisters so komisch wie aussichtslos große literarische Unterhaltung – und doch geht es in diesem Werk um mehr. Cervantes schildert sprachgewaltig und lebhaft die Abenteuer seiner beiden Helden und eröffnet dabei ganz beiläufig einen ganzen Kosmos an skurrilen, weisen und berührenden Gedanken. Die Gespräche der beiden Abenteurer nehmen nicht nur einen großen Teil der Geschichte ein, sie verhandeln auch so große Themen wie Idealismus, Freundschaft, Vertrauen und Liebe. Cervantes streut hier den ganzen Erfahrungsreichtum seines verworrenen Lebens ein. Gerade im zweiten Band der Erzählung gewinnt dieses Motiv an Bedeutung: Don Quixote wird hier zu einem träumerischen, ja fast melancholischen Weisen, während Sancho Pansa tatsächlich zum besten Statthalter avanciert, den eine Insel wohl je hatte. Ihr Wahn – oder vielmehr ihre Vorstellungskraft – veränderte auf beinah magische und undurchdringliche Weise die sie umgebende Wirklichkeit und die Wahrnehmung der Menschen, die ihnen begegnen. Die Gratwanderung der beiden zwischen ihrem kompromisslosen Idealismus und ihrer Konfrontation mit der harten Realität machte sie zu Helden, die – trotz ihrer Niederlagen – am Ende doch „ewigen Ruhm“ erlangten.

Die größte aller Geschichten…
Die Rezeptionsgeschichte des Romas ist wohl beispiellos: Unzählige Neuauflagen, Vertonungen und Filme reihen sich neben schräge Adaptionen. Kaum ein Werk hat wohl mehr Schriftsteller und Künstler inspiriert. Das Stockholmer Nobelinstitut kürte das Werk 2002 gar zum „besten Buch der Welt“.
Die Vieldeutigkeit des Textes, die bisweilen geheimnisvoll anmutet, entzieht sich bis heute einer erschöpfenden Interpretation. Daher hat das Werk auch eine lange Reihe von Philosophen inspiriert. Die erste vollständige deutsche (und bis heute lesenswerteste) Übersetzung von Ludwig Tieck von 1801 löste einen wahren Boom aus: Don Quixote wurde zur Gallionsfigur der Romantik und gab Anlass für reges Nachdenken. So verdeutlichte der Philosoph Schlegel an seinem Beispiel den Widerstreit zwischen Idealismus und Realismus, der dem Werk auch heute noch seine enorme Bedeutung verleiht. So erscheint Don Quixote als radikaler Utopist, der im Namen des Guten als Kämpfer gegen die Mängel und Ungerechtigkeiten der Welt zu Felde zieht. In einer Zeit, die sich vor allem durch berechnenden Realismus, kalte Rationalität und stumpfsinnige Alternativlosigkeit auszeichnen möchte, bleiben für Träume und Ideale nur wenig Platz. In dieser entzauberten Welt verkörpert Don Quixote das radikal Andere. Der Philosoph Arthur Schopenhauer notierte dazu in Die Welt als Wille und Vorstellung:

„[Don Quixote] allegorisiert das Leben jedes Menschen, der nicht, wie die Anderen, bloß sein persönliches Wohl besorgen will, sondern einen objektiven, idealen Zweck verfolgt, welcher sich seines Denkens und Wollen bemächtigt hat; womit er sich dann in dieser Welt freilich sonderbar ausnimmt.“

Auch wenn es mit den beiden Helden laut der Erzählung kein gutes Ende nahm, wird doch 400 Jahre nach Cervantes Tod deutlich, wie sehr sich Don Quixote und Sancho Pansa auf beispiellose Weise von der Romanhandlung emanzipiert haben. Sie sind längst zu einem unsterblichen Mythos geworden, indem die beiden unbeugsamen irrenden Ritter auch weiterhin für die Belange aller Idealisten, Träumer, Melancholiker, Narren und Verlierer eintreten. Ihre komische Geschichte ist lebendig. Mit Blick auf den Todestag des großen spanischen Dichters und seine beiden ruhmreichen Helden bleibt daher – mit den Worten des fiktiven Erzählers – nur festzuhalten:

„O berühmtester Autor! O glücklicher Don Quixote! O gepriesene Dulcinea! O lustiger Sancho Pansa! Möget ihr zusammen und jeder einzeln durch unzählige Zeiten leben, um das Ergötzen und der Zeitvertreib aller Lebenden zu bleiben!“



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