Choreographie der Wassermassen im sowjetischen Stil

Flickr: Jonathon Colman

In den 1970er Jahren wurde in der Sowjetunion ein gigantisches und potentiell umweltzertörerisches Wasserumleitungsprojekt für Westsibirien und Zentralasien geplant. Über Machbarkeitswahn und menschliche Selbstüberschätzung.

von Ladyna

Großprojekte und überdimensionierte Machtdemonstrationen in Beton und Stahl sind keine Erfindung der letzten Jahrzehnte. Derartige Bauten spiegeln immer auch die Attitüde ihrer Auftraggeber wieder, ihren Anspruch auf Überlegenheit und unsterbliche Größe. In der Sowjetunion, einem Land, das etwa über ein Neuntel des weltweiten Oberflächensüßwassers verfügte, waren gerade die südlichen Regionen mit ihren fruchtbaren Böden durch ein trockenes Klima geprägt. Bevölkerungsverteilung und Wasservorkommen stimmten nicht überein. So kam bereits in den 1830ern, als der ingenieurstechnische Zeitgeist von Projekten wie dem Suez- oder Panamakanal geprägt war, die Idee für ein gewaltiges Flussumleitungsprojekt auf, das die Trockengebiete im großen Stil landwirtschaftlich nutzbar machen sollte.
Doch erst 1976, nachdem sich durch die exzessive Nutzung die Wasservorräte des Aralsees und des Asowschen Meeres immer weiter verringert hatten, wurde ein Forschungsprogramm initiiert, um das gigantische Umleitungsprojekt voranzutreiben. In der KPdSU wurde bereits vom Ende der Nahrungsmittelknappheit und einem neuen, mächtigen Industriezentrum in Zentralasien geträumt, als der Plan schließlich genehmigt wurde: Für geschätzte Kosten von 50 Milliarden Rubel – damals etwa 165 Milliarden Mark – wollte man Süßwasser aus den nördlichen Gebieten der Sowjetunion südwärts ins Kaspische Meer umleiten. Hier sollten über 27 Kubikkilometer Wasser – mehr als das halbe Volumen des Bodensees – jährlich über eine Distanz von mehr als 2.500 Kilometern fließen.
Stromerzeugung durch riesige Wasserkraftwerke, gesteigerte landwirtschaftliche Produktivität und die Verlockung, den Aralsee vor Austrocknung zu retten, mussten allerdings gegen die ungewissen ökologischen Folgen abgewogen werden. Durch das Projekt hätte sich die in Westsibirien ohnehin schon problematische Landversumpfung gravierend verschlimmert. Eine verminderte Frischwasserzufuhr ins Nordpolarmeer hätte sich auf den Salzgehalt ausgewirkt und damit eine Klimaerwärmung hervorgerufen. Einige sowjetische Wissenschaftler gingen davon aus, dass sich durch die verringerten Eismengen der Klimagürtel bis zu 400 Kilometer nach Norden verschieben könnte. Andere rechneten mit einer verkürzten Wachstumsperiode, wenn die zusätzlichen Wassermassen des gewaltigen Binnensees im Winter Kälte in Form von Eis speicherten und damit den Anbruch des Frühlings verzögerten. So oder so, die Folgen der Kanalbau-Idee waren kaum abzuschätzen.
Zu einer Zeit, in der sich die Umweltbewegung auch im Westen erst in den Kinderschuhen befand, wurden diese Bedenken jedoch von vielen in den Hintergrund gerückt. Die Sowjetunion hatte immer schon Infrastruktur-Großprojekte genutzt, um sich als industrieller Vorzeigestaat zu präsentieren, als Triebkraft der Modernisierung. Und wenn die Überlegenheit der eigenen Staatsideologie zementiert werden sollte, was bot sich da besser an, als die natürlichen Limitationen des eigenen Landes zu überwinden? Ganz besonders, wenn dies im Geiste der „Selbstverwirklichung durch Arbeit“ geschah, der Mensch sich die Natur aneignete und sie nach den Bedürfnissen des Kollektivs umformte. Der Plan ist vielleicht das illustrativste Beispiel, wie nahe Planwirtschaft und Umweltzerstörung oft beieinander lagen: Natürliche Ressourcen wurden mit geringen Kosten veranschlagt, die ihre Knappheit nicht berücksichtigten. Damit passte das Projekt zur damaligen Wahrnehmung der Natur, wie sie viele Forscher mit dem russischen Geologen Wladimir Wernadski teilten: „Wir leben in einer einmaligen, neuen, geologisch hervorragenden Epoche. Der Mensch verarbeitet durch seine Tätigkeit und seine bewusste Einstellung zum Leben die Erdkruste. Durch seine Arbeit und sein Bewusstsein wird die Biosphäre in die Noosphäre verwandelt.“
Die endgültige Entscheidung gegen das Flussumlenkungsprojekt fiel im August 1986, und damit in die Phase der Perestroika. Doch bis heute ist die abenteuerliche Idee nicht ganz tot zu bekommen: Gerade in den zentralasiatischen Ländern wird diese Möglichkeit immer wieder in Betracht gezogen, aber auch der ehemalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow äußerte seine Begeisterung. Dabei war das Vorhaben – egal, in welchem Kontext es aufgebracht wurde – immer vor allem eines: der Versuch, ein gesellschaftliches Problem durch hohe Ingenieurskunst zu lösen.


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