Sich selbst annehmen: Das sollte sexuelle Bildung an Schulen leisten

Von „Bin ich da normal?“ bis „Was ist das überhaupt?“: Solche Fragen stellen die Schüler*innen bei den Projektangeboten des Jenaer Verein JuMäX e.V. Dieser setzt sich für eine geschlechtersensiblen Sexualerziehung an Schulen ein. Die unique hat nachgefragt, was das konkret bedeutet.

Erwachsenwerden ist die Zeit der Ersten Male: Der erste Kuss, das erste Schamhaar, der erste Liebeskummer. Das Thema ‚Sexualität‘ stößt bei Kindern und jungen Erwachsenen deshalb auf Aufregung und Neugierde, aber auch auf viele Unsicherheiten, Ängste und Fragen. Seinen eigenen Körper, die eigene Sexualität und die eigenen Gefühle muss man erstmal kennen und verstehen lernen – die meisten Erwachsenen sind damit immer noch beschäftigt. Solche sexuelle Bildung findet nicht nur am Familientisch, auf Pornoseiten oder im Gespräch mit engen Freund*innen, sondern auch in der Schule statt.Ein häufig sehr umstrittenes Thema: Während die CDU 2015 den Bildungsplan als „Frühsexualisierung“ der Kinder kritisierte, wünschten sich viele Bürger*innen eine bessere Aufklärung an Schulen, die die sexuelle Vielfalt mehr in den Vordergrund rückt. Die unique hat bei JuMäX nachgefragt, was beim Sexualunterricht in Schulen zentral ist und inwiefern dies durch das Angebot umgesetzt wird.

Aufklärung ist rechtlich verpflichtend

Sexualerziehung als verpflichtender Schulstoff – Das ist erst seit 2002 in allen Bundesländern rechtlich verankert. In Thüringen wird die sexuelle Bildung an Schulen als Bestandteil der schulischen Gesundheitsförderung angesehen mit dem Hauptziel zu der Entwicklung einer „gesunden Sexualität“ beizutragen, wie es im Thüringer Schulgesetz (§47) heißt.

 

unique: Sexualerziehung ist an Schulen verpflichtender Lehrstoff. Was sollte ein Sexualkundeunterricht leisten?

JuMäX: Sexuelle Bildung sollte dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen auf dem gleichen Wissensstand bezüglich ihrer Körperlichkeit sind, dass sie eine Sprache und Worte finden für ihre Körperlichkeit. Darüber hinaus sollten die Wahrnehmung von eigenen Gefühlen, den eigenen Grenzen und denen anderer Inhalt sein. Es sollte über Rechte aufgeklärt werden, Zeit für eigene Fragen sein und auch Raum, über medial verbreitete Inhalte zu sprechen – immer altersgerecht und sensibel für die jeweilige Gruppe.

Was bedeutet denn eigentlich „geschlechtersensible Sexualerziehung“?

Geschlechtersensibilität bedeutet, Kinder und Jugendliche in ihrer Geschlechtlichkeit wahrzunehmen, ohne sie darauf zu reduzieren. Zu wissen, dass junge Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit unterschiedlich aufwachsen, wahrgenommen werden, verschiedene Erfahrungen machen, zum Teil Benachteiligungen erfahren und (Vor-)Urteilen begegnen. Es ist eher ein Wissen über diese Zusammenhänge und eine respektvolle, sensible Haltung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

Sie bieten Projekte zur sexuellen Bildung an Jenaer Schulen an. Wie kann man sich Ihre Sexualerziehungsstunden vorstellen? Sprechen Sie mit Jungen* und Mädchen* getrennt über die Thematiken?

Die Projektstunden sind so unterschiedlich wie die Kinder und Jugendlichen, die Schulformen und die jeweiligen Klassen. Bei der Entwicklung unserer Projektpläne richten wir uns nach den Anfragen der Schulen. Wir gehen fast immer als gemischtgeschlechtliches Team in die Gruppen, stellen uns und unsere Arbeit insgesamt vor, erklären, was wir in der Projektzeit vorhaben, und erläutern ein paar Rahmenbedingungen (Freiwilligkeit, Vertraulichkeit sowie Achtung der persönlichen Grenzen). Dann gibt es ein gemeinsames Warm-up als Einstieg ins jeweilige Thema. Oft gibt es Einheiten, in denen die Gruppen nach Mädchen* und Jungen* getrennt werden, beispielsweise wenn es um die körperliche Entwicklung geht oder spezifische Fragen. Häufig wünschen sich die Gruppen auch selbst eine Trennung. Einige Themen können dort weniger schambehaftet besprochen werden. Wichtig ist es uns aber auch, dass wir die Gruppen wieder zusammenführen und sich über Themen gemeinsam ausgetauscht wird – beispielsweise über Liebe, Beziehungen, Verhütung.

Mit welchen Fragen und Unklarheiten kommen die Kinder auf Sie zu? Ist es möglich, trotz Scham darüber zu reden?

Die Schüler*innen kommen mit allen denkbaren Fragen auf uns zu, von „woran merke ich, dass der*die andere auch in mich verliebt ist“ bis hin zu sehr persönlichen Fragen, ob das, was sie an sich beobachten ‚normal‘ ist.

Unsere Erfahrung ist, wenn man einen guten Einstieg schafft in der Vorstellung und eine wertschätzende, respektvolle Atmosphäre herstellt, dann ist die Offenheit in den Gruppen sehr groß und sie nehmen die Möglichkeit, eigene Fragen zu stellen, sehr gern an.

Wann sollte man Ihrer Erfahrung nach mit Kindern über Sexualität sprechen und warum?

Ganz allgemein könnte man als Ziel von Sexualaufklärung, Sexualerziehung oder sexueller Bildung die Liebe zu sich selbst benennen, für sich sorgen zu lernen, sich zu kennen und andere sowie deren Grenzen nicht zu verletzen. Damit ist sexuelle Bildung ein lebenslanger Prozess und Weg und hat in jedem Alter ihre eigenen Themen. Es geht um Gefühle, Körper, Berührungen, Wissen um körperliche Vorgänge, Wissen um die Veränderungen in der Pubertät, Wissen um gesetzliche Rechte, Verhütungsmethoden, Auseinandersetzung mit Themen wie Liebe, Beziehungen, Rollenbilder. Während es schon im Vorschul- und Grundschulbereich wichtig ist, eigene Gefühle und seine Körperteile benennen zu können, so ist es im Jugendalter wichtig, über Verhütung aufgeklärt zu sein oder auch über Ängste in Bezug auf sexuelle Erfahrungen sowie über Beziehungsvorstellungen sprechen zu können. Kinder und Jugendliche sollten darüber hinaus immer Antworten auf ihre Fragen erhalten. Wenn sie Fragen stellen, ist es Zeit für Antworten.

Über Geschlechtsteile zu reden, damit tun sich auch Erwachsene nicht leicht. Welches Vokabular geben Sie den Kindern mit auf den Weg?

Über Geschlechtsteile reden ist nicht primär unsere Aufgabe – das sollte zu Hause, in der Kita, Grundschule längst thematisiert werden, ist aber natürlich bei dem einen oder anderen Thema auch dabei. Hier sprechen wir die äußeren und inneren Geschlechtsorgane mit ihren medizinischen Fachbegriffen an, beispielsweise wenn es um die Erklärung der Menstruation oder der Erektion geht.

Dabei verwenden wir Paomi (=Part of Mine)-Modelle, Stoffmodelle von Geschlechtsteilen. Diese sind für alle Altersstufen angemessen und auch für die Arbeit mit beeinträchtigten Kindern gut geeignet. Die medizinischen Begriffe zu hören und zu kennen ist wichtig, insbesondere wenn Kinder und Jugendliche (auch mit anderen Muttersprachen) aus Gründen einen Arzt*Ärztin aufsuchen müssen. Daneben geben wir den jungen Menschen auch mit, dass sie ihren intimen Bereich natürlich benennen können, wie sie es mögen.

Wie wird Ihr Angebot von den Schüler*innen und Lehrer*innen aufgenommen?

Die Schüler*innen geben uns meist am Ende der Veranstaltungen eine Rückmeldung, viele bedanken sich, manche wünschen sich, dass wir bitte noch mal wieder kommen sollen. Andere sagen, sie hätten vorher schon alles gewusst und nichts Neues gelernt, Einzelne haben sich nicht wohlgefühlt, trotzdem zugehört. Die Lehrer*innen geben uns später meist noch einmal ein positives Feedback aus den Gruppen und bedanken sich für das Angebot. Der größte Indikator für die gute Zusammenarbeit und Zufriedenheit sind die über Jahre gewachsenen Anfragen und der Bedarf von Schulen.

Ihr verwendet ein Sternchen hinter ‚Mädchen‘ und ‚Junge‘ – wen inkludiert das Sternchen, der in ‚Junge‘ und ‚Mädchen‘ nicht inkludiert ist? Inwiefern stößt das Gendern bei Kindern auf Unverständnis, inwiefern ist es hilfreich?

Das Sternchen steht in erster Linie dafür, dass ‚Mädchen‘ und ‚Junge‘ keine starre Kategorie sind, sondern Begriffe, die eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit vereinen. Darüber hinaus bezieht es auch Inter- und Transmenschen mit ein. Und junge Menschen, die sich nicht in den Kategorien ‚Junge‘ und ‚Mädchen‘ verorten können, aus welchen Gründen auch immer, fühlen sich mitgemeint oder mitgedacht.

WAS IST JuMäX Jena e.V.?

JuMäX Jena e.V. – Verein für geschlechtersensible Sozialarbeit hat sich dem Thema Geschlechtersensibiltät in der Kinder- und Jugendarbeit verschrieben. Der Verein ist Träger von Schulsozialarbeit an 9 Schulen in Jena, vom Abenteuerspielplatz Jena sowie der „Fachstelle Mädchen*- und Jungen*arbeit“ und bietet im Auftrag der Stadt Projekte zur sexuellen Bildung an.


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