Rezension: Gedanken von Christa W.

Die Bedeutung, die ein einzelner Tag bekommen kann, wenn man ihn nur wahrnimmt: Christa Wolfs gefeiertes Werk Ein Tag im Jahr wird ergänzt.

von gouze

Aus jedem Jahr nur einen einzigen Tag betrachten. Aus den gesammelten Aufzeichnungen ein „Tage-Buch“ entstehen lassen, das Zeitgeschehen mit alltäglichen und privaten Eindrücken verwebt. Christa Wolf hat jeden 27. September der vergangenen 50 Jahre mit dieser Schreibpraxis eingefangen. In ihrem gefeierten Werk Ein Tag im Jahr sammelte sie von 1960 bis 2000 ihre Tagebucheinträge. In dem jetzt erschienen Nachfolgeband Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert sind die letzten Einträge Wolfs bis zu ihrem Tod im Dezember 2011 zusammengetragen. Die Bedeutung, die ein einzelner Tag bekommen kann, wenn man ihn nur wahrnimmt, hat Wolf fasziniert.
Sie beobachtete die Welt von Berlin aus und sezierte mit ihrem scharfen Blick Politik, Gesellschaft und Privatleben. Der Leser begibt sich an den Beginn des neuen Jahrtausends zurück und erlebt die Geschichte noch einmal im Zeitraffer: 11. September, Rot-Grün im Bundestag, Herzbeschwerden und Schlafprobleme. Weltpolitik neben den Banalitäten des Lebens auf 160 Seiten. Mit jeder Seite – so fühlt es sich an – nimmt die Präsenz Wolfs körperlicher Gebrechen zu, und ihr Zugang zur Welt verschwindet allmählich. Wenngleich sie ihre Krankheit öffentlich macht, ihr Werk wird nicht davon vereinnahmt.
Immer wieder tauchen in ihrem Gedankenstrom tagespolitische Meldungen auf, die für die Allgemeinheit von geringer Bedeutung sind, für Wolf selbst aber so wichtig, dass sie sich länger dazu auslässt. Gerade die Normalität und Bodenständigkeit, die bei der Lektüre sichtbar werden, helfen in Christa Wolf eine gealterte Dame zu sehen, die die Welt skeptisch im Blick behält. Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert ist ein berührend intimes Werk, das der Größe seiner Schöpferin gerecht wird.

Christa Wolf
Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert
Suhrkamp 2013
163 Seiten
17,95 €

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