Liebe zum Sonderpreis

Foto: Freie Bühne Jena

Das Theaterstück Roomantic der Freien Bühne Jena stellt nicht nur traditionelle Beziehungsformen, sondern auch Theaterkonventionen infrage. Auf dem Grundstück des neugestalteten Kulturschlachthofs erschafft es ein Start-Up, in dem der Zuschauer zum Investor und das Publikum zur Bühne wird. Im Gespräch mit Maik Pevestorff und Charlott Zerna von der „offenen Montagsprobe“.

von Lara

Irgendwo zwischen Datingplattform und Selbstoptimierung will das Start-Up Roomantic ein neues Konzept von Liebe etablieren: Love Coaches, Beziehungsverträge und Bewertungssysteme verhelfen den Kunden zu ihrem individuellen effizienten Beziehungsglück – unabhängig von Einschränkung durch Konventionen. Um weiter expandieren zu können, haben die Gründer potentielle Investoren aus Politik, Wirtschaft und Kultur eingeladen, sich durch Podiumsdiskussionen, Gespräche und Workshops ein eigenes Bild zu machen. Doch natürlich kommen auch Kritiker. Und natürlich droht mit dem Fortschreiten des Abends, alles zusammen zu brechen.
Für ihr Theaterstück
Roomantic hat sich die offene Montagsprobe der Freien Bühne Jena ein sehr breites Thema gewählt: von klassischer Liebe und Emotionen über alternative Beziehungsformen, Gender und Identität bis zu Misogynie. All diese Aspekte kommen in den verschiedenen Räumen und dem Vorhof des neu gestalteten Kulturschlachthofes zusammen und schaffen eine Geschichte, die nicht nur zum Zusehen, sondern zum Erleben einladen will. Theater, das die vierte Wand fallen lässt und das Publikum einbezieht, ist alltäglich geworden. Doch das Roomantic scheint auf klassische Wände völlig zu verzichten. Es verlegt das Schauspiel von der Bühne mitten ins Publikum und lässt die Grenzen zwischen Akteuren und Zuschauern, zwischen Mensch und Rolle verschwimmen.

unique: Ihr bezeichnet das Roomantic als interaktives Erfahrungstheater. Was unterscheidet euer Projekt von einem klassischen Bühnenstück?

Charlott Zerna: Der hauptsächliche Unterschied liegt darin, dass mehrere Räume genutzt werden. Dadurch verändert sich sehr stark, wie weit der Zuschauer mit eingeführt wird und welche Rolle er einnimmt. Es wird außerdem zum Teil der Dramaturgie, dass der Zuschauer gar nicht alles erfahren kann. Es gibt so viele Möglichkeiten, die man in der kurzen Zeit nicht alle greifen kann. Jeder, der das mitmacht, wird am Ende eine andere Erfahrung gemacht haben.

Maik Pevestorff: Im Prinzip bekommen die Zuschauer gleich zu Beginn eine Rolle zugeschrieben: Sie werden in die Rolle von Investoren gesteckt und sind nicht nur Gäste eines Theaterstückes – sie sind Gäste eines Events. Sie können sich über unser Thema „Liebe und Beziehungen“ nicht nur eine Geschichte erzählen lassen, sondern selbst Erfahrungen sammeln. Das ist das Performative an der ganzen Geschichte, und etwas Außergewöhnliches. Die Idee, den Zuschauern nicht nur zum Rezipienten werden zu lassen, sondern zum Mitgestalter, Mitspieler, zum erlebenden Subjekt, ist etwas, das das dramaturgische Konzept unserer Gruppe schon viele Jahre prägt. Es wird trotzdem eine klassische Geschichte erzählt, aber es gibt auch Möglichkeiten, nicht nur durch das Reflektieren über die Thematik mit dem Stoff konfrontiert zu werden, sondern durch persönliche Erfahrungen – und die halten länger nach. Meiner Meinung nach sollte dieses “Ereignis Theater” mehr sein, als zu einer Institution zu gehen, sich hinzusetzten, sich was anzuschauen, und dann wieder nach Hause zu gehen. Es soll ein Ereignis sein, das den Menschen ganzheitlich erfassen kann.

Die Rollen, die die Zuschauer bekommen, bestehen aus einem Namensschild einschließlich Funktion – es gibt Youtuber und Politiker, millionenschwere Unternehmer und Lifestyle-Autoren. Gleich beim Eintritt wird man mit seinem fiktiven Namen begrüßt, und während der ersten Stunde immer wieder auf seine Funktion angesprochen. Es macht Spaß, in seiner Rolle den Vorplatz des Kulturschlachthofes zu erkunden. Roomantic-Mitarbeiter laufen herum, versuchen für das Konzept zu begeistern und erzählen sorgenvoll von merkwürdigen Vorkommnissen. An einem Stand weiter hinten grillen gegen Spende die „Radikalen Abendländer“ und bringen zwischen Spruchbändern und Megafon-Ansagen die „Investoren“ in einen Gewissenskonflikt: Möchte man für sein Würstchen zahlen, gleichzeitig aber damit die Roomantic-kritischen Rechtspopulisten unterstützen?
Immer wieder kommt es zu Konfrontationen und Auftritten storyrelevanter Personen, die sehr einstudiert erscheinen. Was auf der Bühne hinsichtlich Schauspiel und Dramaturgie perfekt passen würde, wirkt in dem auf ein Gefühl von Wirklichkeit ausgelegten Setting leicht unnatürlich und überzogen. Trotzdem erhält das Publikum während des Auftaktes das Gefühl, ein Teil des Stückes zu sein – nicht zuletzt wegen der vollständigen Abstimmung auf die räumlichen Gegebenheiten des Kulturschlachthofs, dessen alte Gebäude und Außenanlagen perfekt genutzt werden. In erster Linie ist es aber der direkte Kontakt mit den Schauspielern, der nicht nur ständig auf Handlung und Personen des Stückes Bezug nimmt und dadurch den Zuschauer zum Teil der Geschichte macht, sondern auch einen sehr persönlichen Zugang zu den angesprochenen Themen herstellt.

Wie probt man Szenen, in denen mit dem Publikum interagiert wird?

Maik: Ja, das ist schwierig. Wir versuchen natürlich, wie im ganz klassischen Theater auch, zunächst die Situation zu klären. Erst einmal versucht man zu sehen, in welche Situation der Schauspieler im Bühnenverlauf gerät. Bei uns ist die Frage eben: In welche Situation gerät der Schauspieler, wenn er mit Publikum interagiert? Natürlich kann man nicht alles vorhersagen. Aber man kann allgemeine Regeln festlegen. Wir versuchen, das schon einmal zu erproben, indem bei Interaktionselementen immer ein Teil der Gruppe Zuschauer spielt. Aber im Moment der Aufführung ist es noch einmal etwas anderes. Da kann man nicht immer mit allen Unvorhersehbarkeiten arbeiten.

Foto: Freie Bühne Jena

Wie stark soll der Zuschauer durch seine Rolle eingebunden werden? Stellt das nicht auch Anforderungen an ihn, auf die sich nicht jeder einlassen möchte?

Maik: Letztendlich ist es nur eine Einladung zum Mitmachen. Die Zuschauer bekommen zwar eine Rolle zugeschrieben, aber ob sie sie annehmen oder nicht bleibt immer in ihrer Hand. Jeder kann selbst entscheiden, wie tief er sich auf die Fiktion einlassen möchte – bin ich eher derjenige, der konsumieren möchte, dann kann ich zuschauen, möchte ich aktiv sein und ein paar Sachen selbst ausprobieren, ist das auch möglich. Auch wenn Schauspieler auf das Publikum zugehen, werden sie immer diese Grenze wahren und gucken, wie weit diese Interaktion gewünscht ist.

Charlott: Das ist eigentlich wie bei einer alltäglichen Situation, auch da hat man diese Entscheidungskraft. Das Roomantic ist nur ein Bereich, wo diese Entscheidung bewusster ist als im Alltag, weil man bewusst in die Räume geht. Und auch weil es eine Fiktion ist und dadurch vielleicht mehr angestoßen wird. Da das Ganze etwas länger dauert, macht es ja auch etwas mit den Zuschauern – man wird tatsächlich in diese Rolle des Investors, die man zu Beginn bekommt, gebracht.

Maik: Ich sehe die Rolle eher wie eine Ad-hoc Maske, die das Publikum mit sich herumtragen kann. Ich kann jederzeit behaupten, dass das, was ich tue, die Fragen, die ich stelle, von meiner Rolle kommen, auch wenn es meine eigenen Fragen sind. Das bietet eine Möglichkeit, seine Authentizität ein wenig zu tarnen. Man kann sehr viel von sich zeigen, ohne dass es jemand mitbekommt.

Als – nach einer offiziellen Einführung samt vorgelesener Rede der soeben per Namensschild gekürten Bürgermeisterin von Jena – die eigentlichen Räume geöffnet werden, stellt sich heraus, dass das mit der Maske nur bedingt funktioniert. Neben Kunstinstallationen gibt es Gesprächsrunden, Workshops, einen Tabu-Raum in dem jede Frage gestellt werden darf, einen Liebesbriefautomaten. Doch Staatssekretärin im Gesundheitsministerium oder Inhaber eines Sauna-Clubs zu sein, gibt nur wenig Anhaltspunkte, was die persönliche Einstellung zu Polyamorie, Vertrauensspielen oder Bondage angeht. Die zugewiesene Rolle ist viel zu dünn, um sich dahinter verstecken zu können.
Das hängt auch damit zusammen, dass die meisten Räume trotz starkem Themenbezug kaum in die übergeordnete Geschichte eingebettet sind. Auch wenn hin und wieder Nachrichtenspots Bezug auf die Geschehnisse nehmen, wird man für eine Stunde weitestgehend aus der Handlung herausgeworfen und in etwas katapultiert, das sich mehr wie Performance-Art anfühlt als wie ein Theaterstück. Bühnenstück, immersives Erlebnis, transmediale Kunstausstellung – das Roomantic möchte viel auf einmal sein. Mit jedem Raum und Element des Abends soll es dem Besucher eine neue Perspektive auf das Thema vermitteln. Das gelingt ihm außerordentlich gut – allerdings manchmal zulasten der Kohärenz und des Spannungsbogens.

Warum habt ihr das Roomantic erschaffen, und welche Themen wollt ihr damit ansprechen?

Maik: Das Roomantic ist in erster Linie als Ort des Bündelns von verschiedenen Ideen entworfen. Wir hatten in unserer Gruppe verschiedene szenische Ideen – Performance, Tanz, bildende Kunst, Video. Die musste man in ein Gesamtkonzept bringen. Dazu kommt, dass wir dieses Jahr ein Jubiläum feiern: 50 Jahre freie Liebe. Zur selben Zeit erstarken Gruppierungen in der Gesellschaft, die Probleme damit haben, dass jetzt so viel über Gender diskutiert wird, dass die Ehe für alle existiert – eine Gegenentwicklung zu den Dingen, die sich in den letzten Jahrzehnten liberalisiert haben. Es war uns wichtig, diese Thematik aufzugreifen: mit den „radikalen Abendländlern“, die im Roomantic eine Bedrohung für Familie, Treue, und die dahinterstehende Wertepalette sehen. Gelichzeitig ist das Roomantic ein Unternehmen. Es ermöglicht, diesen Partnermarkt einmal sichtbar zu machen, der einen Wettbewerb in der Wahl der Liebesobjekte verursacht. Das führt zum einen dazu, dass eine große Erneuerung und Belebung stattfindet, aber auch in dieses Hamsterrad, sich permanent optimieren zu müssen. Man kann nicht so sein, wie man ist, sondern muss besser sein, um noch mithalten zu können in der Konkurrenz um verschiedene Partner. Gefühle werden zur Ware gemacht.

Auf der Skala zwischen Utopie und Dystopie, wo seht ihr das Roomantic?

Maik: Ich schwanke tatsächlich zwischen diesen beiden Polen. Wenn ich es richtig zuspitze, sage ich eher Dystopie, wenn ich aber einen entspannteren Tag habe tendiere ich eher zur Utopie.

Charlott: Ich finde es schwierig zu sagen. Wenn man es grundlegend betrachtet, sehe ich schon eher eine Utopie. Aber alles Extreme ist immer eine Dystopie, und in unserem Stück geht es ins Extreme. Es kommt immer darauf an, was man daraus macht. Letztendlich ist es so angelegt, dass man in eine Dystopie rutschen soll.

Maik: Innerhalb der Inszenierung ist es eindeutig dystopisch.

Mit einer Podiumsdiskussion zu alternativen Beziehungsformen wird der Handlungsfaden wieder aufgenommen. Für einen kurzen Moment führt das den Zuschauer noch einmal zurück in seine abendliche Rolle, doch je weiter die eigentliche Geschichte fortschreitet, desto größer wird die Distanz. Der Zuschauer ist wieder Teil der Masse, und was auf der Bühne passiert, passiert unabhängig von ihm. Die vierte Wand bleibt unten, doch die anderen drei bilden wieder einen festen Rahmen, aus dem sich das Ensemble kaum mehr herausbewegt. Konnte der Auftakt der „Investorentage“ Akteure und Zuschauer zu einem gemeinsamen Ganzen verweben, will das nicht mehr gelingen, und die interaktive und narrative Komponente driften immer weiter auseinander. Spätestens als die Geschehnisse auf der Bühne beginnen, aus dem Ruder zu laufen, und das Publikum ohne jede Reaktion zusieht, ist der Zauber vorbei. Aus Investoren sind wieder einfache Zuschauer eines guten, zum Nachdenken anregenden Bühnenstückes geworden. Dass sich das wie eine Enttäuschung anfühlt, spricht für sich.

Weitere Vorstellungen im Kulturschlachthof Jena am 28. bis 30.06.2018.
Informationen unter www.roomantic-inn.de


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