Die Reise von Pippi und Co. – das Fremde in Kinderbüchern

Nicht mehr ‚Neger-‘ sondern ‚Südsee-Prinzessin‘: Pippi und die Taka-Tuka-Kinder

Der norwegische Rundfunk machte den Anfang und erklärte den negerkung in Astrid Lindgrens Pippi Långstrump kurzerhand zum Söderhavskung. Was folgt, ist die Frage nach moralischen Grenzen der Darstellung des Fremden in Kinderliteratur.

von Anna

Ad usum delphini – zum Gebrauch des Dauphins. So wurden im 17. Jahrhundert Bücher bezeichnet, die auf die Bedürfnisse des französischen Thronfolgers zugeschnitten waren. Es handelte sich hierbei meist um antike Klassiker, aus denen für die Jugend unschicklich erscheinende Passagen gestrichen oder angepasst wurden. Heute bezeichnet die Phrase allgemein für die Jugend angepasste Literatur. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass es sich hierbei zumeist um schwer verständliche oder schwer zumutbare Werke handelt. Umso irritierender, wenn die berichtigende Feder plötzlich auch bei eigens für Kinder verfassten Büchern geschwungen wird. Sollte sich hier eine solche Korrektur nicht erübrigen?
In der Tat wird schnell klar, dass es sich nicht um Vereinfachungen schwieriger Werke handelt, sondern um Änderungen allseits beliebter Kinderbuchklassiker. Es sind so unterschiedliche Geschichten wie die eingangs erwähnte Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren oder Mark Twains Huckleberry Finn genau so wie Ottfried Preußlers Die kleine Hexe. Abgesehen von ihren Adressaten scheinen sie auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben. Bei genauerem Hinsehen fällt aber auf, dass sie sich alle auf ihre Weise mit dem personifizierten Fremden beschäftigen.
Das Fremde ist neben Sex und Religion einer der Hauptgründe, aufgrund derer Werke in den verschiedensten Nationen beanstandet werden. Und wie immer, wenn es um Kinder geht, sind die Nerven schneller gereizt als üblich. Beteiligte Parteien sind leidenschaftlicher, vehementer in ihren Äußerungen und nur selten werden Kinder selbst zu ihrer Meinung befragt.

Behutsame Modernisierung?
„In den letzten 200 Jahren der Kinder- und Jugendliteratur hat sich jede politische Strömung in den Texten niedergeschlagen, auch in der Darstellung des Fremden. Über viele Jahre stand der Franzosenhass im Mittelpunkt – auch und gerade in der Abenteuerliteratur. Außerdem sind viele antisemitische Tendenzen in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur der Vergangenheit nachweisbar“, so Karin Richter, Professorin für Kinder- und Jugendliteratur und literarische Erziehung an der Universität Erfurt. Die Charakterisierung des Fremden in der Kinderliteratur als etwas Böses wurde somit erst in den letzten Jahrzehnten in Frage gestellt. Seit vielen Jahren ist in der in Deutschland erscheinenden Kinder- und Jugendliteratur die Tendenz sichtbar, das Fremde positiv darzustellen und das Interesse am Leben der Kultur anderer Völker zu wecken. „Besonders in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich im Bereich der Jugendliteratur Vieles zum Positiven gewandelt. Gedanken der Freundschaft und Nähe, das Motiv der Völkerverständigung werden weitergegeben – auch wenn es immer noch zu wenig ist“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin.
Bezogen auf bereits vorhandene Kinderliteratur heißt dies bisweilen, Begriffe, die als diskriminierend empfunden werden, zu ersetzen. Es ist ein Kompromiss: Auf der einen Seite steht die Sensibilisierung der Kinder durch Auseinandersetzung mit mutmaßlich schwierigen Themen und dadurch die Möglichkeit einer fundierten Meinungsbildung. Demgegenüber steht der Schutz der Kinder vor möglicherweise schädigendem Gedankengut.
Doch trotz klarer Motivation überraschen die vorgenommenen Änderungen bisweilen. Die Wandlung vom ‚Neger-‘ in den ‚Südseekönig‘ bei Pippi Langstrumpf entstand ohne Vorwarnung. „Es gab im Vorfeld keine Diskussionen zu dem Thema. Es fehlte komplett der Rahmen, der diese Änderungen erklärt hätte“, erinnert sich Karin Richter. „Wer die einschlägigen Berichte, die ja durchaus kontrovers waren, gelesen hatte, dem wurde doch zu wenig der gesamte Kontext deutlich. So entstand eigentlich die Diskussion im luftleeren Raum. Das erscheint mir angesichts der Bedeutung dieser Fragen bedenklich. Aus meiner Sicht sollte es eben nicht nur formal um Political Correctness gehen, sondern um einen tiefergehenden gesellschaftlichen Diskurs, der den Ursachen für Fremdenfeindlichkeit auf den Grund geht.“
Weiterhin ist bekannt, dass sich Lindgrens Enkel selbst gegen die Umgestaltungen in den Büchern der Autorin ausgesprochen hatten. Ihrem letztlichen Nachgeben folgte jedoch eine lange Debatte, die Anfang 2013 in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte – mit der Ankündigung des Thienemann Verlages, eine „behutsame sprachliche Modernisierung“ der Kleinen Hexe vornehmen zu wollen. Auch hier ging es um den Austausch „diskriminierender Begriffe“ durch unanstößige, insbesondere um den Austausch des Wortes „Neger“. Wichtig war, dass die Bedrohlichkeit, das Fremde, erhalten bleibt, das die Hexe in besagter Szene fühlt. Und so wurden aus den „Negerlein“ kurzerhand Messerwerfer. Bereits mehrfach waren zuvor in Die kleine Hexe und weiteren Werken Preußlers Änderungen vorgenommen worden, meist Modernisierungen veralteter Begriffe, um das Verständnis der Geschichte für Kinder weiterhin zu gewährleisten. Kein einziges Mal gab es einen solchen Aufschrei wie jetzt. Es wurde der Verdacht der Zensur laut. Hitzige Diskussionen in den Feuilletons und im Internet wurden geführt, in denen Verlage sich rechtfertigen mussten und Eltern sich zu Wort meldeten.
Etwas anders gelagert ist der Fall in Mark Twains bekannter Geschichte The Adventures of Huckleberry Finn. Bereits zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung in den USA 1885 sorgte das Werk für Kontroversen, vor allem aufgrund der Darstellung von Jim, Hucks schwarzem Begleiter. Durch Jims sprachlichen Ausdruck, der in krassem Gegensatz zum Standardenglisch steht, wird seine Einfalt betont. Sätze wie „Nemmine why, Huck – but he ain’t comin’ back no mo’.” sowie vom Autor bewusst eingebaute Rechtschreibfehler („kase dat wuz him”) unterstreichen den Analphabetismus der Figur. Die Nutzung inkorrekter Grammatik sowie die Verwendung von Mundart in der Schriftsprache sorgten zum Zeitpunkt des Erscheinens in den USA für Aufsehen und das Buch wurde im Schulunterricht vielfach verboten. Die Gründe hierfür haben sich allerdings im Laufe der Jahre erheblich geändert.

Änderung im Einzelfall
War es zu Anfang Jims Ausdrucksweise, so verschob sich der Stein des Anstoßes in den mittlerweile 150 Jahren nach Abschaffung der Sklaverei immer mehr auf die häufige Verwendung des ultimativen bösen Wortes: Über 200 Mal nutzt Twain in seiner Geschichte das Wort ‚nigger‘. Die Empörung wuchs dermaßen, dass im Jahr 2011 vom Verlag NewSouth books beschlossen wurde, eine neue Edition des Buches herauszugeben – eine, in der jedes ‚nigger‘ durch ‚slave‘ ersetzt wurde. Ähnlich wie unzählige Beiträge in Zeitungen, Magazinen oder im Internet zu dem Thema sieht auch Karin Richter solche Entscheidungen kritisch: „Es ist wichtig, eine Diskussion zu führen, sich zu fragen: ‚Welche Geschichte steckt dahinter?’. Oft war das beanstandete Wort in seinem historischen Kontext nicht pejorativ.“ So verhält es sich beispielsweise mit ‚nigger‘. Zu Zeiten Twains war es keine Beleidigung; es erhielt die negative Konnotation erst im Laufe der Zeit. Laut eigener Aussage nutzte er das Wort absichtlich in dieser Fülle, um eine historisch akkurate Geschichte zu schreiben.
Und es scheint sich letztlich doch nicht vermeiden zu lassen auch mit Kindern, den Nutznießern oder Opfern – je nach Interpretation – der Entwicklungen, ins Gespräch zu kommen. Es geht laut Richter auch nicht darum, krampfhaft nicht zu verändern. Die Entscheidungen müssen einzelfallbezogen getroffen werden: „Wichtig ist, auch hier nicht zu überdidaktisieren. Erwachsene haben die Pflicht, mit Kindern über die Hintergründe dieser Wortwahl zu sprechen. Man kann im persönlichen Gespräch viel mehr klären und darlegen, wieso diese Begriffe im Kontext verwendet wurden.“ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll ist, Kindern den Gegensatz aufzuzeigen aus der Welt, in der sie jetzt leben, und früheren Zeiten – auch, um Wiederholungen der Geschichte zu vermeiden.
In anderen Werken hat man sich genau hierzu entschlossen. Jim Knopf, interessanterweise ebenfalls bei Thienemann erschienen, bleibt weiterhin ein ‚Neger‘ und der Schwedische Autorenverband hat sich ebenfalls gegen eine Streichung des Wortes ‚Neger‘ in dem bekannten Kinderbuch Ture Sventon in Paris (zu deutsch: Privatdetektiv Tiegelmann in Paris) entschieden. Eins scheint offensichtlich: Auch wenn die ersten Wogen geglättet sind, ist die Debatte noch lange nicht vorüber.

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