„Für Europa insgesamt – gemeinsam bessere Politiken erreichen“

(Foto: © Ambassade de France en Allemagne)
(Foto: © Ambassade de France en Allemagne)

Ende Mai war der französische Botschafter Philippe Étienne zum zweiten Mal zu Besuch in Jena. Wir sprachen mit ihm über seine Erfahrungen als Diplomat, über die Besonderheit der deutsch-französischen Beziehungen und über die Zukunft Europas.

unique: Seit August 2014 sind Sie Botschafter in Deutschland, nachdem Sie bereits in den 80er Jahren als erster Botschaftssekretär in der Bundesrepublik tätig gewesen waren: Mit welchen Erwartungen sind Sie 2014 nach Deutschland gekommen?
Étienne: Mit zwei Erwartungen: Erst einmal, ein neues Land zu entdecken. Nach der Wiedervereinigung und vielen anderen großen Veränderungen habe ich erwartet, ein Land zu entdecken, das nicht mehr das Land war, das ich in den 80er Jahren gekannt habe – so ist es in der Tat auch geschehen. Meine zweite Erwartung war, weiter mit den deutschen Partnern an den großen Herausforderungen, die wir haben, und an der europäischen Integration zu arbeiten.

Hat Sie am wiedervereinigten Deutschland irgendetwas überrascht?
Allzu sehr überrascht hat mich nichts. Allerdings habe ich die Veränderungen größer vorgefunden, als ich erwartet hatte. In der Migration zum Beispiel – und zwar schon vor der Ankunft der vielen Flüchtlinge. Ich war davon beeindruckt, wie offen die deutsche Gesellschaft ist; die Demokratie ist sehr stark. Das ist auch keine Überraschung, aber ein starker Eindruck. Insbesondere in Berlin, wo ich lebe, habe ich die Kultur als sehr aktiv und auch das Kulturangebot als sehr eindrucksvoll empfunden, das gilt auch für andere Teile Deutschlands.

Wo sehen Sie generell noch Verbesserungspotential in den deutsch-französischen Beziehungen?
Ich glaube, wir haben angefangen, in einigen Bereichen, wie der Digitalisierung, sehr stark zusammenzuarbeiten. Wir müssen noch viel mehr konkrete Ergebnisse in solchen Bereichen erzielen, die unsere Zukunft sehr stark beeinflussen werden. Das gilt auch für die Wissenschaft und Technologie und für die Hochschul- und die Bildungspolitik. Beim letzten deutsch-französischen Gipfel Anfang April haben wir eine gemeinsame Integrationspolitik oder genauer gesagt gemeinsame Projekte in diesem Bereich beschlossen. Hier würde ich mir eine schnelle und ergänzende Umsetzung wünschen sowie viel Austausch zwischen Deutschland und Frankreich, um beiden Ländern zu helfen, ihre Integrationspolitik erfolgreich zu entwickeln.

Betrachten Sie diese Punkte als eine Art Startschuss für eine weitere europäische Integration?
Ja, definitiv. Für mich sind die deutsch-französischen Beziehungen in sich selbst natürlich ein wichtiges Ziel, ohne dabei zu vergessen, dass wir eine gemeinsame Verantwortung haben für die europäische Einigung und dass alle diese Bereiche Prioritäten sind – für Europa insgesamt! In diesem Sinne brauchen wir deutsch-französische Initiativen nicht nur für die beiden Länder, sondern für ganz Europa.

Die deutsch-französische Zusammenarbeit wird häufig als „Motor der Europäischen Union“ bezeichnet. Stimmen Sie dieser Charakterisierung zu?
Ja, unbedingt. Aber das bedeutet nicht, dass beide Länder andere Länder ausschließen sollten; im Gegenteil! Im Übrigen erwarten die anderen Länder Europas, dass wir in Deutschland und in Frankreich weiter diese Rolle spielen – und dass wir alle mitnehmen können und sollen. Aber wenn unsere beiden Länder keine gemeinsame Initiative und gemeinsame Antwort finden, dann gibt es zu Recht Kritik aus anderen Ländern.

Könnte es auch eine Art Motor gegen die nationalistischen und rechtspopulistischen Bewegungen sein, dass man mit den deutsch-französischen Beziehungen als Vorbild vorangeht?
Ich denke, das ist auch die Verantwortung der beiden Länder mit anderen: mit den Institutionen in Europa und mit den anderen Mitgliedsländern den Menschen zu zeigen, dass wir gemeinsam bessere Politiken, bessere Ergebnisse erreichen können und dass die Spaltung und die Rückkehr zum Nationalismus überhaupt keine Lösung anbieten hinsichtlich der großen Probleme, die wir haben.

In Deutschland gibt es eine politikwissenschaftliche Diskussion über Deutschland als Hegemon in Europa, als Führungsnation. Sehen Sie das kritisch? Welches Deutschland-Bild ist in Frankreich sehr verbreitet?
Wie in jedem Land gibt es in Frankreich verschiedene Elemente in der Wahrnehmung der Nachbarn. Es existieren manchmal natürlich auch kritische Elemente. Einige würden sagen, dass Deutschland zu viel Einfluss hat. Andere ergänzen, dass Frankreich dafür teilweise auch verantwortlich ist, weil wir uns nicht rechtzeitig reformiert haben. Aber es gibt insgesamt erheblich mehr positive Elemente in der Wahrnehmung Deutschlands. Ein wichtiges war in der Flüchtlingskrise die Offenheit der Menschen in Deutschland gegenüber den Flüchtlingen. Das hat die französische öffentliche Meinung sehr geprägt. In Frankreich herrscht auch eine große Bewunderung für die Erfolge in der deutschen Wirtschaft, insbesondere die duale Ausbildung, die Mitbestimmung und der Mittelstand. Das sind drei Elemente, die immer wieder vorkommen, in einer sehr positiven Einschätzung über Deutschland, die man in Frankreich hört.

Das heißt Sie sehen gar nicht so sehr das Problem, dass Deutschland eine Übermacht, sondern vor allem eine Art Vorbildfunktion hat?
Nicht in allen Bereichen. Es gibt Bereiche in der Sozialpolitik, Familienpolitik, Außen- und Verteidigungspolitik, Technologie oder in der Start-up-Szene zum Beispiel – in den Innovationskapazitäten –, wo Frankreich eigentlich so gute oder sogar bessere Leistungen wie Deutschland erzielt. Aber ja, in einigen Bereichen gibt es diese Wahrnehmung, dass wir viel von Deutschland zu lernen hätten.

Was ist Ihre Zukunftsperspektive für Europa?
Die Zukunft Europas liegt für mich darin, dass wir alle Europa als unsere gemeinsame Sache betrachten, nicht als etwas das unverständlich und außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten wäre. Die Zukunft Europas, das ist erst einmal eine große Überzeugungsanstrengung, die wir alle leisten müssen – auch gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern! Aber die Zukunft Europas wird vor allem davon abhängen, ob es der Europäischen Union – ich wiederhole: die Europäische, und das sind Wir, aber wir gemeinsam – ob es uns also gemeinsam gelingt, die richtigen Antworten zu geben auf die Probleme, die wir auch gemeinsam zu lösen haben: Sicherheit, Wachstum, Verteidigung unserer Werte, das sind nicht die Werte von allen in der Welt. Dafür stehen wir gemeinsam.

Exzellenz, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führten Annegret und Quentin.

Philippe Étienne (Jahrgang 1955) machte 1980 zur gleichen Zeit wie François Hollande seinen Abschluss in Straßburg und trat in den Dienst des französischen Außenministieriums ein. Nachdem er ab 2009 als ständiger Vertreter Frankreichs bei der EU in Brüssel tätig gewesen war, kam er 2014 als französischer Botschafter nach Berlin.


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